Lintu. Christine Kraus. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christine Kraus
Издательство: Автор
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Жанр произведения:
Год издания: 0
isbn: 9783957448323
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ab.

      Okay, ent- Himmel!

      Ich konzentrierte mich erneut und schloss die Lücken. Dann überprüfte ich meinen Gesamtzustand. Ein Teil der Aufmerksamkeit beim Fliegen, ein Teil beim Nebel, ein Teil bei der Frage, die ich Großmutter als Nächstes stellen wollte. Ich hatte zu tun.

      Stell deine Frage, forderte sie mich auf.

      Es war die Frage, die ich neunzehn Jahre mit mir herumgetragen hatte. Jetzt endlich war ihre Zeit gekommen.

      Warum hast du mich damals verlassen? Ich war doch noch so –

       Vorsicht, Elli, der Nebel wird dünn! Halte die Aufmerksamkeit! Lass dich nicht von deinen Emotionen ablenken!

      Okay!

      Ich verstärkte die durchsichtiger werdenden Stellen und brachte meinen Satz zu Ende: – so klein!

      Großmutter schwieg. Die Zeit, die sie sich mit der Antwort ließ, nutzte ich, um noch einmal meine Nebelhülle zu überprüfen und sorgfältig zu verstärken. Das Gefühlschaos, das mit dieser Frage verbunden war, musste sie nicht mitkriegen. Unsere Verbindung war so innig wie damals, als ich drei Jahre alt gewesen war. Als ob nicht neunzehn Jahre dazwischen liegen würden. Umso weniger verstand ich, warum sie sich nicht offenbart hatte, als ich wieder in ihr Leben eingetreten war.

      An unsere erste Begegnung konnte ich mich noch genau erinnern. In meinem ersten Semester hatte sie bei einer Veranstaltung an der Uni hinter einem Büchertisch gestanden. Dort waren eine Menge Bücher ausgelegt, die mich interessierten. Die ganze Pause hatte ich damit zugebracht, in verschiedenen Büchern zu blättern und mich mit ihr zu unterhalten. Nach der Veranstaltung war der Büchertisch weg gewesen. Sie hatte ihren Buchladen erwähnt, aber nicht die Adresse. Das Wenige, was ich bis dahin von ihr erfahren hatte, hatte mich fasziniert und ich war wild entschlossen gewesen, den Kontakt wieder aufzunehmen. Weil sie damals noch keine Internetseite hatte, musste ich alle Buchläden in der Stadt anrufen, bis ich endlich auf ihren Laden gestoßen war.

      Bei meinem ersten Besuch war ich bis Ladenschluss geblieben und sie hatte mich auf einen Kaffee nach nebenan eingeladen. Von da an war ich mehrmals in der Woche in ihrem Laden, zum Schluss eigentlich täglich. Ich las viel, kaufte wenig, half ihr beim Einsortieren der Bücher und sprach mit ihr über alles, was mich bewegte. Außer über sie selbst. Jetzt begann ich zu verstehen, wie sie es geschafft hatte, meine Aufmerksamkeit an diesem Thema vorbeizulenken.

      Der Verdacht, dass sie meine Großmutter sein könnte, war zuerst als Wunsch in mir erwacht. Genau so, hatte ich gedacht, wäre meine Großmutter gewesen, genau so hätte sie sein sollen. Irgendwann war die Frage in mir aufgetaucht, warum sie es denn nicht wirklich sein könnte. Ich hatte nach Indizien gesucht, die diese Annahme ausschlossen und keine gefunden. Leider hatte ich auch nichts gefunden, was die Annahme belegt hätte, außer unserer Vertrautheit und der Tatsache, dass das Loch, das seit Großmutters Weggang in mir existierte, beinahe verschwunden war. Nun aber, da ich die Frage gestellt hatte, kam all das wieder nach oben, was ich lange Zeit nicht mehr gefühlt hatte. Als kleines Kind hatte ich mir nicht vorstellen können, dass sie mich nicht liebte, und mir deshalb meine Geschichten um ihr Verschwinden ausgedacht. Als Teenager waren mir Zweifel gekommen. Ich hatte nicht mehr an diese Liebe glauben können und mir eingeredet, Großmutter sei mir so egal wie ich ihr. Als ich Frau Schmidt kennengelernt hatte, war die Sehnsucht wieder erwacht. Ich war wütend auf Großmutter gewesen und hatte ihr trotzig nachgerufen, dass ich jetzt jemanden gefunden hätte, der ihren Platz einnähme. Doch egal, wie ich gerade fühlte, hatte ich ihr immer vorgeworfen, dass sie mich verlassen hatte. Immer. Und tat es noch. Während ich versuchte, Wut, Zweifel, Trotz, Sehnsucht, Trauer und grenzenlose Liebe in meiner Nebelhülle in Schach zu halten, hörte ich ihre Stimme in meinem Kopf.

      Dein Vater, begann sie, hat schreckliche Dinge erlebt, als er klein war. Er gab sich die Schuld am Tod von Simón, seinem Vater, und weil er diese Last nicht ertragen konnte, machte er das Fliegen dafür verantwortlich. Er wollte nie mehr etwas damit zu tun haben, obwohl es zu uns gehört wie das Atmen. Schon vor deiner Geburt rang er mir das Versprechen ab, dich nicht einzuweihen. Doch je älter du wurdest, desto klarer wurde mir, dass es falsch war, dich mit dieser Lüge aufwachsen zu lassen. Wir durften dir diesen Teil deines Wesens nicht vorenthalten, so wenig wie dein Vater ihn für sich leugnen durfte. Er machte sich unglücklich damit, und du würdest ebenso unglücklich werden, ohne auch nur zu ahnen, warum. Mir war klar, dass dein Vater sich nicht umstimmen lassen würde, also fasste ich den Entschluss, mein Versprechen zu brechen und dich zu initiieren, wenn du weit genug warst. Mir war auch klar, dass dieser Schritt meine Beziehung zu ihm kosten konnte … An deinem dritten Geburtstag schlug ich einen Spaziergang in den Wald vor, um deine Initiation durchzuführen. Das ist gewöhnlich die Zeit, in der bei den Kindern das Fliegen beginnt. Ich warf dich in die Luft, so wie es meine Mutter mit mir gemacht hatte, und du flogst, als hättest du es schon immer gekonnt. Da wusste ich, dass ich das einzig Richtige getan hatte. Dein Vater hat mir nicht verziehen. Er hat mit mir gebrochen und von mir verlangt, mich von dir und deiner Schwester fern zu halten. Großmutter seufzte schwer.

       Er kann nichts dafür. Seine kindlichen Schuldgefühle haben so tiefe Verletzungen in ihm hinterlassen, dass er nicht weiß, wie er sonst überleben soll. Ich habe ihm versprochen, seinen Willen zu respektieren, um sein Leid nicht zu verschlimmern. Aber ich habe euch im Auge behalten. Ich sah dich oft nachts ausfliegen. Ich sah euch zur Schule und wieder nach Hause gehen. Ich bemerkte Olivias Wut auf dich und ihre Schwierigkeiten, damit klarzukommen. Sie weiß nicht, warum sie wütend auf dich ist und sie leidet darunter, denn sie liebt dich mehr als jeden anderen Menschen.

      Mir gingen ganze Lichterketten auf. Das Verhalten meiner Eltern – ich konnte zwar immer noch nicht verstehen, weshalb sie diesen Weg gewählt hatten, aber ich kannte jetzt immerhin die Beweggründe. Sie verhielten sich nicht so, weil sie mich nicht liebten oder mich gar schikanieren wollten. Sie wollten mich schützen. Gut gemeinter, falsch verstandener Schutz. Es tröstete mich zwar nicht über die schrägen Erlebnisse in meiner Kindheit hinweg, doch es rückte sie in ein anderes Licht. Das half ein bisschen. Meine kleine Schwester, Olivia – sie wusste nicht, dass sie fliegen konnte und dass es ihr fehlte. Sie gab mir die Schuld für ihre innere Leere, weil ich damals nicht mehr mit ihr geflogen war. Jede Menge negative Gefühle, die ich bis dahin mit mir herumgeschleppt hatte, begannen sich zu verwandeln. Besonders die gegenüber Großmutter. Sie verstärkten die ohnehin schon grenzenlose Liebe, die ich für sie fühlte. Ich floss über und es war mir jetzt gerade völlig egal, wie meine Nebelhülle aussah. Ich verströmte meine Liebe zu ihr und hüllte sie vollständig ein.

       Na, na, Elli, jetzt übertreib mal nicht. Denk daran, dass wir nicht mehr viel Zeit haben und dass du lieber die Gelegenheit nutzen solltest, an deiner Abschirmung zu arbeiten, statt mich in Liebe zu ertränken.

      Ich konnte das Augenzwinkern in ihrer Stimme hören. So war sie, immer an der Sache orientiert, niemals außer sich, selbst jetzt, wo sie im Sterben lag.

      Als du dein Studium begonnen hast, erzählte sie weiter, hielt ich es nicht mehr aus. Ich hatte dir so viel zu geben und sann auf eine Möglichkeit, dich teilhaben zu lassen. Deshalb baute ich damals diesen Büchertisch auf. Um dich anzulocken, packte ich so viele Bücher wie möglich darauf, von denen ich annahm, sie könnten dich interessieren. Es hat funktioniert.

      Allerdings. Aber wieso hast du mir in all den Jahren nicht gesagt, wer du bist?

       Ich wollte mein Versprechen nicht noch einmal brechen. Dich zu initiieren, war notwendig gewesen, jedoch konntest du dich auch ohne Großmutter weiterentwickeln. Ich bemühte mich, sie zu ersetzen.

      Sie machte eine Pause.

       Erst vor ein paar Wochen kamen mir Zweifel, ob das genügen würde. Ich bemerkte eine zunehmende Wehmut in deiner Stimme, wenn du von deinem Kommissar und seiner Familie erzähltest. Ich fragte mich, ob du jemals mit einem Madur eine Familie gründen könntest – und konnte es mir nicht vorstellen. Die ganze Geheimhalterei war mir schon immer irrwitzig vorgekommen, aber jetzt befürchtete ich, dass sie dir dauerhaft Schaden zufügen könnte. Also entschloss ich mich herauszufinden, ob es die Kolonie in Südamerika noch gibt, und dich dann dorthin zu schicken,