Lintu. Christine Kraus. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christine Kraus
Издательство: Автор
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Жанр произведения:
Год издания: 0
isbn: 9783957448323
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die Zeit nutzen. Was willst du noch wissen?

      Ich brauchte nicht lange nachzudenken.

      Was ist mit meiner Mutter? War sie schon immer so wie mein Vater?

       Deine Mutter? Nein. Sie war ein quirliges junges Ding, als dein Vater sie zum ersten Mal mitbrachte. Ich hatte große Hoffnung, dass sie ihn dazu bringen könnte, das Leben etwas leichter zu nehmen. Das hat sie auch – er wäre bestimmt schwermütig ohne sie oder würde gar nicht mehr leben. Aber es hat nicht gereicht. Sie hat sich immer große Sorgen um ihn gemacht und sich zu sehr von seiner Ängstlichkeit vereinnahmen lassen. Sie hat ihre ganze Kraft verbraucht, um ihn am Leben zu erhalten und ist ihm dabei immer ähnlicher geworden.

      Wusste sie von Anfang an, dass er ein Lintu ist?

       Ich habe es ihr erzählt. Ich bin mit ihr geflogen.

      Du?

       Dein Vater hat sich ja geweigert. Ich hatte gehofft, sie würde Gefallen daran finden und ihn bitten, das Fliegen wieder aufzunehmen. Sie hat ihn dann auch gefragt. Aber er war eisern, was dieses Thema anging. Einen zweiten Versuch hat sie nicht mehr gewagt.

      Was hat sie gesagt, als mein Vater mit dir gebrochen hat?

       Sie war loyal ihm gegenüber. Sie mochte mich, aber sie lebte mit ihm. Seine Entscheidung war auch ihre Entscheidung.

      Am Horizont wurden die ersten Berge von der aufgehenden Sonne in zartes Rosa getaucht. Ich musste mich eine Weile auf das Fliegen konzentrieren, denn wir befanden uns über einer baumlosen Ebene. Zwar konnte ich weit und breit keine Straße und keinen Menschen entdecken. Dennoch war nicht auszuschließen, dass wir gesehen wurden. Wir waren noch für die Nacht gekleidet und hoben uns deutlich gegen den heller werdenden Himmel ab. Zu meinem Erstaunen ließ sich die Fluggeschwindigkeit noch einmal erheblich erhöhen. Die Kommunikation nahm ich erst wieder auf, als wir den Fuß der Berge erreicht hatten. Massiv und majestätisch erhoben sie sich über unseren Köpfen. Ich drosselte das Tempo wieder. Aus der Ferne konnten wir jetzt nicht mehr gut zu erkennen sein, da der Himmel weit über uns lag.

      Wo müssen wir hin?

       Steig nach oben, bis du die Bergspitzen sehen kannst. Ungefähr in der Mitte bilden die Spitzen ein großes V. Links daneben wirst du einen fast waagerechten Grat erkennen und dann ein kleines V. Dort liegt der Valle.

      Nach kurzer Zeit hatte ich die beschriebenen Linien gefunden.

      Kann ich geradewegs dorthin fliegen oder müssen wir einen Umweg machen?

       Du kannst gerade fliegen. Unterhalb des kleinen V gibt es eine schmale Felsspalte, die jetzt noch nicht zu erkennen ist. Das ist der Eingang zum Valle. Wir bleiben die ganze Zeit unterhalb des Horizonts.

      Großmutter?

       Ja?

      Ich habe so wenig über dich erfahren. Erzähl mir von der Zeit, bevor du nach Spanien gegangen bist. Und wie du Simón kennengelernt hast.

       Du weißt, wie wenig Zeit uns noch bleibt?

      Ich weiß.

       Bist du sicher, dass du keine wichtigeren Themen hast?

      Ich bin mir sicher.

      Sie schwieg einige Minuten. Dann sagte sie: Also gut. Geboren bin ich in Frankfurt als einziges Kind meiner Eltern. Wir Lintu waren immer ein kleines Volk und haben weit verstreut gewohnt, wenn wir sesshaft wurden. Trotzdem hatten wir viel Kontakt untereinander. Die Reisenden unter uns, Schausteller meistens, besuchten uns Sesshafte und brachten Nachrichten von den anderen. Da du ja jetzt weißt, wie die Kontaktaufnahme vor sich geht, kannst du dir vorstellen, dass die Kommunikation gut funktionierte. Meine Großeltern hatten sich entschlossen, sesshaft zu werden, als ihr Sohn zur Welt kam. Sie wollten ihn in die Schule schicken. Das wäre nicht möglich gewesen, wenn sie weiter als Trapezkünstler mit dem Zirkus gereist wären.

       Mein Vater wurde Zimmermann. Er ließ sich natürlich in den höchsten Höhen einsetzen und verdiente damit gut für die damaligen Verhältnisse. Meine Mutter war Hochseilartistin gewesen, bevor sie meinen Vater kennengelernt hatte. Ich flog oft nachts mit ihr aus und träumte davon, eine Artistin zu werden wie sie. Als die Nazis die Macht übernahmen, wurde es gefährlich für uns. Wir hatten keine guten Papiere und wurden wie die Sinti eingestuft. Dann stieß ein gewisser Ruprecht Renzer auf das Büchlein über uns, das du bei mir gefunden hast. Bis dahin hatte niemand die Abhandlung des Professors ernst genommen – zu unserem Glück, denn wir hatten oft genug erlebt, wie wir behandelt wurden, wenn die falschen Madur uns entdeckten. Es war nicht klug gewesen von dem Professor, damit an die Öffentlichkeit zu treten. Hätte er uns damals gefragt, wir hätten ihn davon abgehalten. Er hat uns keinen guten Dienst damit erwiesen, obwohl er unser Freund war. Dieser Renzer war ein Gefolgsmann Hitlers aus den unteren Reihen. Er kam auf die Idee, uns als Geheimwaffe an Hitler zu verdingen und hoffte, damit bei ihm Karriere zu machen. Er gründete die Kameradschaft und setzte sie auf uns an. Gleichzeitig ließ er alle Exemplare des Büchleins vernichten, damit kein anderer auf den gleichen Gedanken kam. Ich weiß nicht, ob es außer unseren beiden Bändchen überhaupt noch welche gibt. Es gelang der Kameradschaft, einige unserer Leute zu fangen, aber nicht, sie zur Kooperation zu bewegen, weder durch Bestechung noch durch Gewalt. Als Renzer realisierte, dass aus seiner Geheimwaffe nichts werden würde, gab er uns zur Jagd frei. Wir wurden, wo die Kameradschaft auf uns traf, sofort umgebracht. Sie machten es sich zum Sport, uns aufzuspüren und in kleine, enge Zellen zu sperren, wo sie uns beim Sterben zusahen. Die Jagd hält bis heute an, wie du siehst.

      Meine Familie floh nach Italien, später nach Frankreich, und bei Kriegsausbruch nach Spanien in die Pyrenäen. Mein Vater fand als Handwerker überall Arbeit und so konnten wir einigermaßen überleben. Ich ging sogar an manchen Orten in die Schule. In den Pyrenäen stießen wir zu anderen Lintu. Für mich war das eine schöne Zeit. Wir lebten ganz verborgen vor dem Rest der Welt und konnten uns frei bewegen. Bis wir eines Tages von der Kameradschaft aufgespürt wurden. Irgendjemand musste uns verraten haben, anders war es nicht zu erklären. Ich war mit einer Freundin unterwegs gewesen. Als wir nach Hause kamen, war das Massaker schon vorbei. Alle waren ermordet worden. Uns nahmen sie gefangen und sperrten uns in eine kleine Zelle. Ich ahnte, dass sie schlimme Dinge mit uns vorhatten. In meiner Verzweiflung habe ich mich vor das winzige Fenster der Zelle geklemmt und in einem fort gesendet. Ich habe gehofft, dass es noch irgendwo einen Lintu geben würde, der uns hören könnte. Und wir hatten Glück. Javier hat mich gehört. Er hatte eine Gruppe junger Lintu um sich geschart, die gegen die Nazis und das Francoregime kämpften. Javier und seine Leute haben uns befreit. Ich schloss mich seiner Gruppe an. Sie wurde meine neue Familie. Ich war damals gerade siebzehn Jahre geworden. Wir waren hauptsächlich als Kuriere unterwegs, sammelten versprengte Lintu ein, schmuggelten Nachrichten, Geld und Papiere für Juden und andere Madur, die emigrieren wollten, über die Grenzen. Simón gehörte zu Javiers Gruppe. Wir verliebten uns fast sofort ineinander. Du hättest ihn sehen sollen, ein Bild von einem Lintu, flink, warmherzig und klug. Er war in deinem Alter damals. Er war die Liebe meines Lebens. Großmutter wurde still.

      Zeig mir etwas von ihm, bat ich sie.

       Woher weißt du, dass das geht?

      Ich weiß es gar nicht, ich hatte aber gerade das Gefühl, dass es gehen könnte. Wenn du mir zeigen kannst, was du jetzt denkst, dann könntest du mir doch auch zeigen, woran du dich erinnerst.

       Kluges Mädchen. Du wirst langsam eine Lintu. Ja, es geht tatsächlich. Schau her.

      Ich sah den Nebel, der immer erst auftauchte, wenn er lichter wurde. Merkwürdig. Er war sonst gar nicht zu sehen. Da war vorher einfach nichts gewesen. Sehr merkwürdig, aber auch großartig. Der Nebel löste sich langsam auf und ich sah einen jungen, gutaussehenden Lintu mit braunen Locken und einem freundlichen Blick. Er bewegte sich anmutig und kraftvoll und hatte ein einnehmendes Lächeln. Kein Wunder, er lächelte ja Großmutter an. Er sagte: Ob Alfonso uns noch erkennt?, und nahm Großmutter in die Arme. Seine Stimme war warm und dunkel. Dann schloss sich der Nebel wieder.

      Das