Lintu. Christine Kraus. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christine Kraus
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Год издания: 0
isbn: 9783957448323
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Fall hatte ich recht behalten, auch wenn es verdammt lange gedauert hatte. Konnte das schon als ausreichende Begründung für einen weiteren Versuch gelten, „für immer“ und „nie mehr“ einfach nicht zu akzeptieren?

      Julien unterbrach meine trotzigen Bemühungen, der Realität ein anderes Gesicht zu geben. Er ging seiner Arbeit nach, bat mich um eine Beschreibung des Wagens und der Insassen, gab die Daten an seine Kollegen weiter und wandte sich dann an Großmutter mit den Fragen, die er ihr gestern nicht gestellt hatte. Wieder einmal war ich froh über die Sachlichkeit, die er damit in meine Gedanken brachte. Stürzte mich auf sie, als gäbe es nichts Wichtigeres. Ich war aber auch tatsächlich gespannt, wie Großmutter seine Frage beantworten würde, was die Kameradschaft bei ihr gesucht habe. Sie erzählte ihm von den Büchern, schilderte in groben Zügen den Inhalt.

      „Wie konnte die Kameradschaft von den Büchern erfahren?“, fragte Julien.

      „In der ersten Zeit, als ich nach Deutschland zurückgekehrt war, nahm ich Kontakt mit Javier auf“, antwortete Großmutter, „wir schrieben uns regelmäßig. In meinem vorletzten Brief fragte ich ihn, was er davon hielte, wenn ich unsere Geschichte aufschriebe, um sie der Nachwelt zu erhalten. Er antwortete nicht, auch nicht, als ich ihm noch einmal schrieb. Das beunruhigte mich außerordentlich. Er lebte damals in Madrid und ich beschloss, mit Alfonso nach Madrid zu fahren, um nach ihm zu sehen. Wir hatten ja beide kein Telefon. Javier wohnte nicht mehr dort, wo ich meine Briefe hingeschickt hatte. Eine Nachbarin sagte, er sei weggezogen. Niemand im Viertel wusste wohin. Ich fragte jeden, der mir über den Weg lief – ohne Erfolg. Es gab weder eine Spur von ihm noch von den Briefen.“ Großmutter schwieg einen Augenblick. Dann fuhr sie fort: „Nach mehreren Tagen erfolgloser Suche kam mir auf der Straße eine junge Frau entgegen und sagte im Vorbeigehen so schnell, dass ich es kaum verstand, ich solle aufhören, herumzufragen, wenn mir mein Leben und das meines Sohnes lieb seien. Auf mein eigenes Leben gab ich zu dieser Zeit nicht viel, doch ich wollte Alfonso nicht noch einmal irgendeiner Qual aussetzen. Mein armes Kind hatte bereits genug für mehrere Leben durchgemacht. Ich lief der Frau hinterher, um mit ihr zu sprechen, aber sie bog um eine Straßenecke und verschwand spurlos. Ich nahm die Warnung sehr ernst und reiste wieder ab. Seit diesem Tag nahm ich zu allen meinen Freunden nur noch Kontakt auf, wenn es wirklich sein musste. Von Javier habe ich nie mehr gehört.“

      Sie schüttelte gedankenverloren den Kopf. Dann sah sie Julien direkt an. „Dass die Kameradschaft von den Büchern weiß, kann nur bedeuten, dass sie Javier aufgespürt haben und dass er jetzt tot ist. Freiwillig hätte er ihnen meine Briefe niemals überlassen. Ich frage mich allerdings, warum er sie aufgehoben hat. Das war nicht besonders klug. Genauso wenig, wie sie überhaupt zu schreiben.“ Großmutter starrte vor sich hin, ein tiefes Bedauern spiegelte sich in ihrer Miene.

      „Wo sind die Bücher jetzt?“, wollte Julien wissen.

      „Ich habe sie schon vor zwanzig Jahren jemandem gegeben, damit er sie für mich aufbewahrt. Ich fürchtete immer, sie könnten der Kameradschaft in die Hände fallen, nachdem Javier verschwunden war.“

      „Und dieser Jemand …?“, fragte Julien.

      „… ist letztes Jahr gestorben“, ergänzte Großmutter. „Als ich von seinem Tod erfuhr, hatten seine Kinder den Nachlass schon aufgeteilt. Die Bücher waren nicht mehr da.“

      Sie log! Sie wollte nicht, dass die Bücher bei der Polizei landeten. Sie wollte unser Volk schützen. Nicht auszudenken, was geschehen würde, wenn die Bücher in die falschen Hände gerieten. Nicht nur irgendwelche Leute von der Kameradschaft, auch Wissenschaftler, Politiker, Journalisten hatten in diesem Zusammenhang falsche Hände. Nicht auszudenken, was allein mit meinem Vater, ihr und mir geschähe, wenn unsere Herkunft bekannt würde. Ich war ihr dankbar, auch wenn es Julien war, den sie anlog. Den wir gemeinsam anlogen. Julien ließ sich von ihr den Namen des Verstorbenen geben und die Adresse seiner Verwandten. Er würde nicht so schnell aufgeben.

      Die Tür wurde geöffnet und ein Arzt kam herein. Er hielt ein Klemmbrett mit Unterlagen in der Hand und trat an Großmutters Bett.

      „So, dann wollen wir mal sehen, ob wir Sie heute entlassen können“, sagte er in dem munteren Medizinertonfall, der meinem Eindruck nach besonders häufig bei alten Leuten angewendet wurde. Er nahm ein paar flüchtige Untersuchungen an ihr vor und nickte dann. „Sie können sie gleich mitnehmen“, wandte er sich an Julien und begann, die Papiere auszufüllen. Mir wäre es lieber gewesen, sie hätte noch ein paar Tage im Krankenhaus bleiben müssen. Hier war sie wenigstens sicher. Wenn sie wieder im Laden wäre, würde nur das Gebäude überwacht. Doch Julien und Großmutter verbündeten sich mit dem Arzt, und mir blieb nichts übrig, als ihre Siebensachen einzupacken.

      Julien ließ es sich nicht nehmen, sie persönlich nach Hause zu bringen. Im Laden verabschiedete er sich, nachdem er die Überwachung organisiert hatte. Ich fragte mich, der wievieltletzte Abschied das wohl war und die Traurigkeit hatte mich wieder, nun, da ich niemandem mehr etwas vormachen musste.

      Bei Großmutter setzte ich an der gleichen Stelle an, an der ich im Krankenhaus hatte aufhören müssen. Auch sie nahm den Faden wieder auf, gleiches freundliches Lächeln, gleiches Schweigen. Ich hatte die Wahl zwischen Wut und Verzweiflung, mehr fiel meinem System in diesen Stunden der Entscheidung nicht ein. Ich wählte die Wut, alles war besser als zu verzweifeln. Verzweifeln hieß aufgeben. Das hatte ich nicht vor. Probehalber funkelte ich Großmutter an und stellte meine Forderung noch einmal: „Ohne dich gehe ich nicht weg.“

      Großmutter hatte meinen Stimmungsumschwung wohl bemerkt und setzte einen ihrer strengsten Blicke auf. „Du wirst jetzt unsere kostbare Zeit nicht mit dieser Albernheit verschwenden“, sagte sie kühl. „Schwing dein Hinterteil aus dem Laden und beginne mit den Vorbereitungen. Heute Abend will ich Ergebnisse sehen.“ Damit wandte sie sich um und ging, noch etwas wackelig, nach hinten in ihr Lager.

      Diese Art von Ansagen kannte ich bereits aus der Frau-Schmidt-Zeit. Nichts mehr zu machen. Auch wenn es mich ärgerte, dass sie mich behandelte wie ein kleines Kind, trollte ich mich seufzend. Vielleicht benahm ich mich ja wirklich so. Ich sollte mich einfach auf das konzentrieren, was jetzt zu tun war. Wenn sie es so dringend machte, dann war es dringend.

      Den Rest des Tages verbrachte ich damit, einen Aktionsplan aufzustellen und die Informationen zusammenzutragen, die ich benötigte. Als Erstes kündigte ich die Wohnung, sie hatte die längste Frist. Ansonsten konnte ich innerhalb einer Woche hier verschwinden und alles so hinterlassen, als käme ich in einem Jahr wieder. Das war der Plan. Die Kameradschaft würde mir in Russland hoffentlich nicht allzu genau auf den Fersen bleiben, um sich nicht unter die „Kommunisten“ begeben zu müssen. Sie würde in Deutschland auf meine Rückkehr warten. Auf diese Weise könnte ich mir ein Jahr Vorsprung verschaffen, wenn alles gut ging.

      Es wurde schon dunkel, als ich mich auf den Weg zum Laden machte. So warm, wie es noch war, hoffte ich, Großmutter zu einem kleinen Getränk im Café nebenan überreden zu können. Man saß dort sehr nett draußen. Außerdem wollte ich wenigstens ein paar Antworten bekommen, bevor ich mich verabschieden musste. An meinen Besuch bei Großmutter würde ich endlich wieder eine Flugnacht hängen. Zwei Tage ohne kamen mir viel zu lang vor. Skaten konnte das nicht ersetzen.

      Mit ziemlicher Geschwindigkeit bog ich um die letzte Ecke – und befand mich mitten in einer Schießerei. Zumindest dem Hören nach. Das Geballer kam aus der Richtung des Ladens. Für einen Augenblick verkrampfte ich mich ganzkörperlich. Gleichzeitig begann mein Herz bis zum Hals zu schlagen. Ich verdoppelte mein Tempo und war in wenigen Sekunden an der Hintertür des Ladens angelangt. Das Vorhängeschloss war zu. Vorn im Laden wurde geschossen. Mit zitternden Fingern nestelte ich den Schlüssel aus dem Rucksack und öffnete das Schloss. Außer den Schüssen konnte ich fast nichts hören, weil mein Herz bis in die Ohren schlug. Ich schlüpfte durch die Tür und blieb im Dunkeln stehen. Musste mich erst einmal beruhigen, um wieder handlungsfähig zu werden. Erstaunlicherweise half der Schwebezustand gerade wenig. Nach einer Ewigkeit, obwohl wahrscheinlich nicht mehr als eine Minute vergangen war, hatte ich wieder alle Sinne beisammen. Vorsichtig ging ich ein paar Schritte in Richtung Laden. Die Tür stand halb offen. Ein schwaches Licht fiel herein und in diesem Lichtschein lag Großmutter auf dem Boden.

      Ich kam mir vor,