Warum hast du es mir dann immer noch nicht gesagt?
Ich war noch nicht so weit. Ich wollte nach wie vor an meinem Plan festhalten. Frag mich nicht, warum. Gewöhnlich sehe ich die Dinge klarer. Vielleicht habe ich auch schon einen Schaden von der vielen Heimlichtuerei.
Auf einmal hatte ich einen dicken Kloß in der Kehle und Tränen brannten in meinen Augen. Doch diesmal waren es keine Tränen der Trauer. Sie gehörten zu einem eiskalten Hass, der nach meinem Herzen griff und meinen Körper ganz steif werden ließ. Wut überspülte mich wie eine Welle aus dickem rotem Nebel und beraubte mich meiner Sinne. Ich hatte das Gefühl, in tausend Teile zerspringen zu müssen, während ich einem gewaltigen Schrei entgegenstrudelte. Ich hasste diese Kameradschaft, ich hasste sie so sehr, dass ich mir nicht vorstellen konnte, jemals wieder etwas anderes fühlen zu können. Sie hatte meine Großmutter auf dem Gewissen, meinen Vater, meine ganze Familie, mein ganzes bisheriges Leben und meine Zukunft, die so schön hätte sein können. Sie hatte meine Ahnen auf dem Gewissen, mein Volk, das ich noch nicht einmal hatte kennenlernen dürfen. Alles, was mir wichtig war, hatte sie zerstört! Dafür wollte ich sie zerstören! Ich hasste sie! Für immer! Abgrundtief! Es gab nur noch diesen eiskalten, flammenden Hass.
In dem Augenblick, in dem der Schrei aus mir herausbrechen wollte, hörte ich Großmutters Stimme. Ein glasklares, sehr ruhiges, durchdringendes Stopp, das mich unmittelbar zur Besinnung kommen ließ.
Hör sofort auf damit, unsere Mission zu gefährden. Sie wartete, bereit, erneut einzuschreiten.
Doch sie hatte den Strudel unterbrochen. Ich tauchte auf wie eine Ertrinkende, orientierungslos, verwirrt, rang nach Luft. Versuchte, meine Gefühle unter Kontrolle zu bringen. Sie standen mir bis zum Hals. Ich durfte nicht noch einen Anfall kriegen, musste mich beruhigen. Konzentrierte mich auf meinen Atem, spürte in meinen Körper hinein, empfand mühsam meine Arme und Beine, den Kopf, den Leib, Großmutter auf meinem Rücken. Langsam kam ich wieder zu mir. Wir flogen immer noch – warum waren wir eigentlich nicht vom Himmel gefallen?
Ich habe die Steuerung übernommen, als du ausgeflippt bist.
Ich schämte mich entsetzlich.
Es tut mir so leid! Ich glaube, ich bin jetzt wieder da.
Glaubst du oder bist du?
Ich bin.
Gut. Dann orientiere dich und übernimm wieder – und bring deine zerfetzten Pforten in Ordnung.
Oh weh, an meine Nebelhülle hatte ich gar nicht mehr gedacht. Auch nicht an die Folgen. Großmutter hatte meinen ganzen Hass miterleben müssen, sie, die Sterbende. Ich fing sofort an, die Pforten wieder aufzubauen. Einfach war das nicht. Ich war noch zu erschüttert von meinem Ausbruch, fühlte mich nun, mit dieser Erkenntnis, erst recht niedergeschlagen.
Du kannst lernen, mit deinen Emotionen besser umzugehen.
Wie denn? Ich bin mir da nicht so sicher.
Als Erstes musst du dir klar machen, dass deine Emotionen nichts mit deinem Wesen zu tun haben.
Großmutter sprach in Rätseln.
Sie sind beherrschbar. Glaub mir.
Ich wollte ihr glauben. Doch ich hatte keine Ahnung, was sie meinte. Seufzend konzentrierte ich mich aufs Fliegen, das konnte ich wenigstens. Es war nicht mehr ganz dunkel. Am Horizont zeigte sich ein schmaler grauer Streifen.
Wie lange werden wir noch fliegen können?, fragte ich.
Wahrscheinlich schaffen wir es ohne Pause. Wir sind schon weit über Frankreich und erreichen bald die Pyrenäen. Dort können wir auch fliegen, wenn es schon hell ist. Die wenigen Straßen, die es gibt, können wir meiden.
Mein Magen und mein Zwerchfell krampften sich zusammen.
Das bedeutet –
– dass wir nicht mehr viel Zeit haben.
Schnell und konzentriert baute ich weiter an meiner Nebelhülle. Wollte Großmutter in diesen letzten Stunden nicht mehr länger mit meinen Gefühlen belasten.
Ich nehme an, die schrecklichen Dinge, die mein Vater als Kind erlebt hat, werde ich erfahren, wenn ich deine Tagebücher weiterlese?
Ja.
Werde ich ihn dann verstehen können?
Ich weiß es nicht. Wie viel kann ein Mensch überhaupt von einem anderen Menschen verstehen?
Aber er ist ein Lintu und ich bin seine Tochter. Wenn wir uns verbinden würden –
Damit darfst du nicht rechnen. Er will kein Lintu sein.
Vielleicht kann ich ihn überzeugen, wenn Julien die Kameradschaft zerschlagen hat!
Die Kameradschaft lässt sich nicht zerschlagen. Es kann so aussehen, als wäre sie verschwunden, die Ideologie jedoch wird nicht untergehen. Gedankengut lässt sich so wenig ausmerzen wie Bakterien. Irgendwo überlebt immer eine Spur. Und die wird wieder wachsen, wenn es Umstände gibt, die sie nähren. Dein Vater weiß das. Ich will dir nicht die Hoffnung nehmen, Elli. Doch du musst dich zuerst um dich selbst kümmern. Du musst versuchen, andere Lintu zu treffen, die gern sind, was sie sind, du musst von ihnen lernen. Im Augenblick bist du wie eines dieser Menschenkinder, das unter Tieren aufgewachsen ist. Du hast von deiner Umgebung gelernt und alles an dir, was nicht Madur sondern Lintu ist, hast du dir selbst beigebracht. Von vielen der Anlagen und Fähigkeiten, die du als Lintu mit in die Wiege gelegt bekamst, ahnst du noch nichts. Und wenn du sie entdeckst, musst du sie ausbilden, damit sie dir wirklich dienen. Das ist jetzt deine Aufgabe. Überleben, dein Wesen kennenlernen, dich ausbilden. Erst dann kannst du zurückkommen und versuchen, deiner Schwester und deinem Vater zu helfen.
Ich schwieg. Was Großmutter sagte, klang vernünftig, auch wenn es mir nicht gefiel. Bisher fühlte sich das alles so theoretisch an. Besondere Fähigkeiten – klar, ich hatte gerade das Gehirnsprechen kennengelernt – eine bessere Bezeichnung fiel mir noch nicht ein – und die gegenseitige Verstärkung der Kräfte, das Öffnen und Schließen der inneren Pforten, die Orientierung beim Fliegen … Wenn ich darüber nachdachte, war das eigentlich doch nicht so theoretisch. Sogar ganz schön viel in ganz schön kurzer Zeit. Wenn das so weitergehen sollte, wenn ich auf andere Lintu traf … Tatsächlich mischte sich unter all die Zweifel und Befürchtungen ein winziges Gefühl, das ich Freude nennen konnte. Freude auf mein neues Leben. Ein ungewohntes Gefühl. Gefolgt von Verwirrung. Wie konnte ich mich freuen, wo ich meine sterbende Großmutter zu ihrer letzten Ruhestatt brachte?
Großmutter?
Ja?
Ich freue mich auf mein neues Leben – unter den Lintu, wenn ich welche finde. Aber ich bin auch traurig. Sehr traurig. Ich hätte dich so gern dabei gehabt!
Atme, Elli. Lass dich nicht wieder überwältigen. Ich bin auch traurig. Ich habe zu lange gewartet. Ich wollte an deinem Vater etwas gutmachen, was sich nicht gutmachen lässt. Darüber habe ich meine Verantwortung für dich und deine Schwester vernachlässigt. Ich habe euch im Stich gelassen – ihr hättet meine Unterstützung so dringend gebraucht. Sie weinte. Ich bete zu unserem allmächtigen Schöpfer, dass die Geschicke dir gnädig sind, und du die Kolonie findest. Wenn dir das gelingt, wird sich alles zum Guten wenden. Sie schwieg einen Moment. Ich liebe dich, Elli, und ich liebe deine Schwester, auch wenn ich kaum ein Wort mit ihr gesprochen habe, und ich liebe deinen Vater. Es liegt jetzt an dir, die beiden zu retten. Du bist eine starke junge Frau, du kannst es schaffen. Auch wenn es vielleicht schwer wird.
Panik flog mich an.
Warum sprichst du so mit mir, als würdest du dich gleich verabschieden?
Sie lächelte ganz leicht. Wenn wir uns nachher trennen, werde ich zu schwach sein, um noch zu reden. Du wirst mich leichter loslassen können, wenn alles