Lintu. Christine Kraus. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christine Kraus
Издательство: Автор
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Год издания: 0
isbn: 9783957448323
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Fragen, die nach der Lektüre dieser wenigen Zeilen aufgetaucht war, zu einem wogenden Meer. Ich hatte das Gefühl, ich müsste unter seiner Masse zusammenbrechen. Doch es hörte nicht auf anzuwachsen. Es wurde immer schlimmer. Vielleicht waren meine Fragen ja noch nicht einmal die richtigen Fragen! Die meisten basierten auf meinen Annahmen, meinen Schlussfolgerungen, die sich in all den Jahren des familiären Schweigens mühsam entwickelt hatten. Ich war ein Kind gewesen, als ich die ersten Mutmaßungen angestellt hatte. Wenn nun nichts von alledem stimmte – konnte ich das ertragen? Wenn Frau Schmidt wirklich meine Großmutter war, würde ich damit zurechtkommen? Und wenn sie es nicht war, was war dann? An jede einzelne Frage schlossen sich hundert neue an.

      Unerträglich. Unerträglich.

      Ich sank auf dem Bett zusammen. Versuchte mich zu orientieren, versuchte krampfhaft, wieder normal zu denken, mich daran zu erinnern, wer ich war. Es gelang mir nicht. Alles kreischte durcheinander, Bilder, Sätze, Feststellungen, Aussagen, neue Bilder, neue Fragen. Mir wurde schlecht. Auf meiner Stirn bildeten sich Schweißperlen. Das Durcheinander in meinem Kopf steigerte sich zu einem ohrenbetäubenden Dröhnen. So sehr ich es versuchte, ich konnte mich nicht mehr gegen die Last der Fragen stemmen. Sie drückten mich unter die Oberfläche, in die Dunkelheit – und ich gab nach … Plötzlich war alles still.

      Schwärze in meinem Kopf, Schwärze in der Brust.

      Mein Körper – taub. Mein Gefühl – taub. Gedanken – gab es nicht.

      Ich lag auf dem Bett und starrte an die Decke. Durch die Decke hindurch.

      Ins Nichts. Es gab nichts mehr um mich herum.

      Es gab nichts mehr in mir. Nicht einmal mehr Schwärze.

      Es gab mich nicht mehr.

      Nichts. Unendliches Nichts …

      Unendliches, ewiges Nichts.

      Und dann, inmitten dieser Unendlichkeit, wurde aus dem Nichts Alles.

      Etwas erwachte. Ganz entfernt, wie eine Ahnung. Wie ein durchsichtiger Hauch. Etwas wuchs, gewann an Bedeutung. Begann eine nebelige Gestalt zu formen, in Gewebe umzuwandeln, das an meinen Körper erinnerte, begann Farben zu erzeugen, Bilder, die ich kannte. Ich konnte etwas wahrnehmen, das ich war. Ich konnte spüren, wie es sich ausbreitete, meine Zellen neu bildete. Es ließ mich meinen Atem empfinden, meinen Herzschlag, meinen Leib, meine Gliedmaßen. Es machte mich stark. Als es in meinem Gehirn angekommen war, konnte ich es definieren. Es war Mut. Der Mut hinzuschauen. Das zu betrachten, was gewesen war. Das anzunehmen, was daraus folgte. Das zuzulassen, was deshalb werden würde. Ja. Ich konnte es deutlich fühlen, war ganz ausgefüllt davon. Ja! Ja, ich will! Ich will alles erfahren! Egal, was dabei herauskommt. Das ist mein Leben. So ist mein Leben. Es wird mich nicht umbringen. Ich bin stark genug. Ich bin Elli, Tochter der Lintu.

      Da war ich also wieder und die Theatralik hatte mich zurück. „Ich bin Elli, Tochter der Lintu.“ Ich hatte definitiv einen Hang zum Dramatischen. Nicht nur Julien. Aber das machte mir jetzt gerade gar nichts aus. Ich fühlte mich wie neugeboren. Sauste in die Küche, pumpte eine volle Flasche Wasser ab – und las die ganze restliche Nacht, bis der Morgen dämmerte.

      Ich hatte noch nicht die Hälfte durch. Trotzdem war nichts mehr so, wie es vorher gewesen war. Elisabeta Marante, Simón und ihr kleiner Sohn Alfonso flogen – so wie ich! Da stand es, in dieser leicht schräg gestellten kleinen Schrift, schwarz auf weiß. Elisabeta und Simón flogen nach Kanada, um Alfonso abzuholen und dann flogen alle drei zurück. Natürlich konnte nirgends stehen, dass ich mit diesen Lintu verwandt war, doch es konnte auch nicht anders sein. Und Frau Schmidt war Elisabeta und meine Großmutter. Ob sie sich jetzt, nachdem ich die Bücher gefunden hatte, dazu bekennen würde?

      Ich war noch nicht weit genug mit der Lektüre, um alle Rätsel lösen zu können, die mich mein Leben lang gequält hatten. Doch immerhin wusste ich nun, woher meine Fähigkeit zu Fliegen kam. Mein Vater konnte es also, oder hatte es zumindest gekonnt, als er klein war. Obwohl ich nicht glaubte, dass man das jemals verlernen könnte. Er hatte mich angelogen. Meine Mutter wusste es bestimmt. Auch sie log. Meine Großmutter – Frau Schmidt – log ebenfalls, indem sie schwieg. Das schmerzte ganz außerordentlich, hatte schon immer geschmerzt. Seit Großmutter mich verlassen hatte, war es vorbei gewesen mit meinem Vertrauen in die Erwachsenen. Alles hatte sich falsch angefühlt, auch wenn ich es nicht beweisen konnte. Diese Bücher hier legten Zeugnis davon ab, dass ich immer richtig gefühlt hatte.

      Seltsamerweise kam der Beweis nicht als Triumph daher, sondern färbte das Geheimnis, hinter das ich kommen wollte, noch dunkler. Es hatte an Realität gewonnen, an Gewicht. Als ob es schwerwiegende Gründe für seine Existenz gäbe, nicht die bloße Bosheit von Eltern, die ihr Kind ärgern wollten. Diese Veränderung machte es mir leichter, die Geduld aufzubringen, mit meinem Urteil bis zum Ende der Lektüre zu warten. Es ließ sogar einen neuen Gedanken in mir erwachen, einen Gedanken, den ich bis dahin niemals für möglich gehalten hätte. Was, wenn das Geheimnis kein Akt der Willkür, sondern im Gegenteil eine Notwendigkeit gewesen wäre?

      Das erste Buch von Elisabeta handelte von ihrem Kampf gegen das Francoregime und die Verfolgung durch die Kameradschaft. Sie beschrieb die Stationen dieses Kampfes, ihre eigene Rolle, die der Mitglieder ihrer Gruppe. Ich konnte mir gut vorstellen, warum die Kameradschaft diese Bücher haben wollte. Ich war mitten im zweiten Buch, als mir die Verantwortung bewusst wurde, die seit heute Nacht auf meinen Schultern ruhte. Elisabeta und Simón hatten gerade ihren Sohn wiedergesehen. Auch hier gab es auf dem Weg der beiden nach Kanada eine Menge Menschen, deren Namen vor der Kameradschaft geschützt werden mussten. Mein Herz begann sehr laut zu klopfen. Niemals, unter keinen Umständen, durften die Bücher in die Hände der Kameradschaft fallen. Als Erstes musste ich mit Frau Schmidt – ich konnte mich noch nicht daran gewöhnen, dass die Person im Tagebuch und meine Großmutter und Frau Schmidt identisch waren – darüber sprechen, was mit den Büchern geschehen sollte, wenn ich sie fertig gelesen hatte.

      Ich warf einen Blick auf die Uhr. Es war kurz vor fünf. Zu früh, um im Krankenhaus zu erscheinen. Ich hatte noch Zeit weiterzulesen. Doch ich zögerte. Bis jetzt war alles gut gegangen in der Geschichte. Nun musste der schlimme Teil kommen. Den Frau Schmidt – Großmutter – schon angedeutet hatte. Es musste eine schlimme Geschichte sein, sonst wäre kein Geheimnis nötig gewesen. Sonst wäre mein Vater nicht, wie er war, sonst würde meine Großmutter nicht schweigen. Plötzlich wurde mir klar, dass ich keine Tagebücher im klassischen Sinn vor mir hatte. Es war eine Beschreibung der Geschehnisse, nachdem das Schreckliche eingetreten war. Es klang aus jeder Zeile, lugte hinter jedem Wort hervor. Es hatte von Anfang an mitgeschwungen. Seit ich mit dem Lesen begonnen hatte, erwartete ich es. Nun wollte ich nicht eintauchen in dieses Schreckliche und dann mittendrin aufhören müssen, weil die Zeit nicht reichte. Doch es gab noch einen anderen Grund für mein Zögern. Ich fürchtete mich ganz einfach davor, mehr zu erfahren. Dieses über zwanzig Jahre gehütete Geheimnis aufzulösen und vielleicht den Preis nicht bezahlen zu können. Die Wirklichkeit vielleicht nicht zu verkraften.

      Hatte ich das jetzt ernsthaft gedacht? Ich hatte immer noch Angst davor, die Wirklichkeit nicht zu verkraften? Was war ich denn für ein Feigling? Meine Großmutter, mein Vater, meine Mutter mussten mit dieser Wirklichkeit leben. Niemand hatte Rücksicht auf ihre Gefühle genommen. Aber Sensibelchen Elli beanspruchte Schonfrist vor der Wirklichkeit. „Ich bin Elli, Tochter der Lintu.“ Wann hatte ich das noch gleich gedacht? Und mich wie eine Heldin gefühlt? Eine knappe halbe Nacht war das her. Na klasse.

      Jetzt musste ich ganz schnell etwas tun, um nicht gleich wieder in ein Loch zu fallen. Herrje, es war aber auch schwierig gerade. Und ich war so ungeduldig! Vielleicht sollte ich ein bisschen Verständnis für mich selbst aufbringen? Seit vorgestern lief doch nichts mehr nach Plan. Mir fiel ein Spruch ein, den ich vor kurzem gehört hatte: „Wenn du Gott zum Lachen bringen willst, mach Pläne“ – oder so ähnlich. Damit waren wahrscheinlich die Pläne gemeint, die nichts mit dem richtigen Leben zu tun hatten. Mein Leben kam mir gerade so vor, als sei es bisher neben dem richtigen Leben hergelaufen. Ich ging in den Schwebezustand. Das half immer. Und anschließend unter die Dusche. Das half diesmal auch – abgesehen davon, dass ich es nötig hatte.

      Danach machte ich mich auf den Weg zu Frau Schmidt, nein, zu Großmutter. Nein,