Lintu. Christine Kraus. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christine Kraus
Издательство: Автор
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Жанр произведения:
Год издания: 0
isbn: 9783957448323
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      Das Wort fuhr wie ein Messer in mich hinein. Auch wenn ich mir vorgenommen hatte, die Situation zu akzeptieren. Ich schluckte schwer.

      Und Simón liegt dort?

      Großmutters Stimme klang einen Augenblick wehmütig. Nicht sein Körper, den musste ich in Kanada zurücklassen. Aber ich habe sein Amulett dorthin gebracht.

      Ich schwieg. Stellte mir vor, wie sie sein Amulett in der Erde vergraben hatte …

       Ich habe es an einen unserer Bäume gehängt. Im Tal stehen viele Bäume und jeder hat eine Plattform, um die Toten aufzubahren. Die Tiere und das Wetter sorgen dafür, dass irgendwann nur noch blankgeputzte Knochen übrigbleiben. Die begraben wir im weichen Boden des Tals. Die Haare jedoch schneiden wir ab und verbrennen sie. Dann fliegen wir so hoch wir können und übergeben die Asche dem Wind. Das Amulett eines Lintu bleibt im Baum hängen.

      Du wirst das Amulett wiederfinden … flüsterte ich innerlich.

      Ja. Wieder konnte ich ein Lächeln wahrnehmen.

      Ich wollte nicht daran denken, doch das Bild drängte sich geradezu auf. Großmutter aufgebahrt auf einer Plattform im Baum. Es war ein feierlicher Anblick. Und gleichzeitig das Schrecklichste, was ich je gesehen hatte.

       Kannst du den Adler erkennen?

      Welchen Adler? Es gibt doch hier keinen Adler, mitten in der Nacht!

       Am Sternenhimmel! Du musst in seine Richtung fliegen.

      Ich kam mir so dumm vor.

      Ich kenne keine Sternbilder außer dem großen Wagen, antwortete ich kläglich.

       Niemand hat dir gesagt, dass sie wichtig für uns sind. Du kannst nichts dafür.

      Das nützte nicht viel. Es war so unintelligent von mir. Jeden Tag flog ich unter dem Sternenhimmel und hatte mich noch nie um seine Bilder gekümmert. Großmutter beschrieb mir das Sternbild und ich korrigierte die Richtung, nachdem ich es gefunden hatte. Nahm mir vor, mich damit zu beschäftigen, wenn ich wieder zu Hause war. Oh shit, ich war ab jetzt nicht mehr zu Hause.

      So darfst du nicht denken, Elli. Lintu sind überall zu Hause. Großmutter machte eine Pause, dann fuhr sie fort: Die Landschaft ist unsere Wohnung und der Sternenhimmel das Dach. Pflanzen und Tiere sind unsere Geschwister. Und die Lintu untereinander sind wie ein Wesen. Du bist niemals allein, niemals fremd, niemals fern der Heimat.

      Ich weiß nicht, ob ich das so schnell kann. Ich habe mich immer allein gefühlt, mein ganzes Leben.

       Unter den Madur – natürlich.

      Die Madur?

       So nennen wir die Menschen, die nicht so sind wie wir. Sie können freundlich oder feindlich sein, es ist nie vorherzusehen. Deshalb müssen wir vorsichtig mit ihnen sein. Sie sind oft ängstlich und auf enge Vorstellungen fixiert. Darum sind sie schnell überfordert.

      Gibt es denn Madur, die die Lintu kennen?

       Früher gab es sehr viel mehr. Aber die Nazis haben nicht nur die Lintu umgebracht, sie haben auch alle verfolgt, die mit den Lintu verkehrten. Unsere engsten Freunde unter den Madur sind die Sinti und Roma. Wir sind ihnen in vielem sehr ähnlich.

      Erzähl mir davon.

       Das brauche ich jetzt nicht. Wenn du das Büchlein über uns liest, dann wirst du es verstehen. Ein Madur hat es geschrieben, ein Professor, der unser Volk liebte. Er ist oft mit uns geflogen.

      Wir waren jetzt schon eine Weile unterwegs und Großmutter beantwortete ununterbrochen meine Fragen. Es musste sehr anstrengend für sie sein. Ich überlegte, ob wir besser eine Weile schweigen sollten, damit sie sich ausruhen konnte.

       Es strengt mich an, da hast du recht, doch das ist jetzt nicht wichtig. Wichtig ist, dass du so viel wie möglich erfährst. Du brauchst dieses Wissen, um durchzukommen. Und ich kann dir nur noch diesen Dienst erweisen.

      Der Gedanke machte mich traurig, wie sehr ich mich auch bemühte, es nicht zuzulassen.

       Du darfst ruhig traurig sein, solange du trotzdem deine Fragen stellst.

      Wieso konnte sie eigentlich auch die Gedanken und Gefühle wahrnehmen, die gar nicht für sie bestimmt waren? Ich konnte das nicht bei ihr.

       Weil du mich einlässt. Deine Pforten sind geöffnet.

      Aber ich mache doch gar nichts.

       Eben. Du musst die Pforten verschließen, wenn du nicht willst, dass ich alles wahrnehmen kann.

      Und du machst das?

       Ja.

      Und wie?

       Ich zeige es dir, pass auf.

      Plötzlich konnte ich Gedanken und Gefühle von Großmutter erkennen. Ich bemerkte wohl, dass sie mir nur Ausschnitte ihrer Innenwelt enthüllte. Sie zeigte mir, was sie über die Gegend wusste, über die wir gerade flogen und wie sehr sie sich nach unserem Ziel sehnte. Dann verschloss sie sich wieder. Ich war ein bisschen enttäuscht. Irgendwie hatte ich mehr Einblick erwartet.

      Großmutter lächelte kurz. Dann wurde sie wieder streng. Ich mache das nicht, damit du dich mit meinen Befindlichkeiten beschäftigst. Du sollst darauf achten, wie ich die Pforten öffne und schließe. Ich zeige es dir noch einmal. Dann versuchst du es selbst.

      Okay. Entschuldige.

      Ich hielt nur noch einen kleinen Teil meiner Aufmerksamkeit beim Fliegen – es war dunkel genug, einsam genug, die Richtung lag auch fest – und konzentrierte mich auf den Prozess, den Großmutter mir demonstrierte. Zuerst bemerkte ich nichts. Dann löste sich mit so großer Geschwindigkeit eine Art Nebel vor mir auf, dass ich es fast nicht mitbekommen hätte. Plötzlich erkannte ich wieder Gedanken und Gefühle von ihr, auch Körperempfindungen konnte ich feststellen. Ich verbot mir, meiner Neugier stattzugeben und die Informationen aufzunehmen. Blieb auf den Öffnungsprozess konzentriert. Blitzschnell bildete sie den Nebel wieder, und ich stand vor einer Wand. Besser gesagt, ich konnte nichts mehr wahrnehmen. Konnte nicht einmal mehr erkennen, dass da eine Barriere war. Es wirkte tatsächlich wie nichts, wie – unsichtbar. Ich hatte nur noch meine Erinnerung an das Wahrgenommene als Beweis. Beeindruckend. Und das sollte ich jetzt nachmachen? Ich bezweifelte, dass ich schon verstanden hatte, was zu tun war. Egal. Ich musste es versuchen. Sie hatte ausgewählt, das hatte ich beim ersten Mal schon bemerkt. Also konzentrierte ich mich auf das, was ich zeigen wollte. Erst einmal nur Gedanken, das reichte bestimmt für den Anfang. Den Rest verbarg ich in meiner Vorstellung in einer großen Hülle aus Nebel. Er bildete sich erst schleierartig, dann wurde er dichter, bis ich zum Schluss das Gefühl hatte, jetzt sei er undurchdringlich.

      Und, fragte ich sie, was erkennst du?

       Du machst dir Gedanken über unsere Strecke. Wo wir uns verbergen werden, wenn es hell wird, wie viele Zwischenstopps wir haben werden, wie es in den Bergen sein wird.

      Und sonst noch?

       Mehr nicht.

      Wow. Ich hatte es auf Anhieb geschafft. Sie konnte nur das erkennen, was ich ihr zeigen wollte! Wie cool war das denn!

      Sehr cool, lachte sie.

      Hey, das hättest du gar nicht hören sollen!

       Tja, Elli, der Nebel ist leicht gebildet, doch du musst ihn auch halten. Du musst immer mit einem Teil deiner Aufmerksamkeit dabei bleiben, sonst entstehen Löcher. Mach sie wieder zu.

      Leicht gebildet? Von wegen. Aber gut, vielleicht wurde es ja einfacher mit der Zeit.

       Es wird einfacher.

      Was? Mist!

       Fokussiere dich!

      Okay,