Lintu. Christine Kraus. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christine Kraus
Издательство: Автор
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Жанр произведения:
Год издания: 0
isbn: 9783957448323
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Ich könnte eintreten und „Großmutter“ sagen, nichts weiter. Oder ohne ein Wort ins Zimmer kommen, an ihr Bett treten und ihre Hand nehmen. Die Verbindung herstellen. Entscheiden konnte ich mich nicht. Jede einzelne Möglichkeit hatte das Potential zu einer schmissig dramatischen Szene, die ich mir bis ins Detail ausmalte, um nicht vor Aufregung in die Knie zu gehen.

      Der Pförtner ließ mich nicht vorbei. Er zeigte mit vorwurfsvoller Miene auf eine Uhr an der Wand. Oha, es war immer noch erst kurz nach sechs, obwohl nach meinem Gefühl mindestens zwei Stunden vergangen waren, seit ich aufgehört hatte zu lesen. Also trollte ich mich zurück auf den fast leeren Parkplatz, um mir die Zeit mit dem Skateboard zu vertreiben.

      Die wenigen Bäume, die hier herumstanden, waren überbevölkert mit zwitschernden Zeitgenossen, die genauso hellwach waren wie ich. Es würde wieder heiß werden heute, ein weiterer richtiger Hochsommertag. Jetzt am Morgen war es noch schön kühl. Wenn ich im Schwebezustand war, machte mir das jeweilige Wetter allerdings nicht viel aus. War es heiß, schwitzte ich selten und fror fast gar nicht, wenn es kalt war. Das war sehr praktisch, weil zu viele Klamotten beim Fliegen störten. Auf das Wetter von morgen hingegen reagierten meine Zellen empfindlich. Ich spürte jeden Wetterumschwung immer ungefähr einen Tag im Voraus. Wetterfühlig wie Frösche oder Kriegsversehrte. Ausgesprochen nützliche Fähigkeit.

      Bis auf wenige Fahrzeuge gehörte der Parkplatz mir. Ich ging mein Repertoire an Kunststücken durch und stellte verwundert fest, dass diese Zeit vorbei war. Es war nett, sie zu können, das schon, aber nicht mehr lebenswichtig, wie gestern noch. Die Tagebücher hatten nicht nur meine Pläne auf den Kopf gestellt. Sie hatten mich verändert. Ein neues Elli-Zeitalter war angebrochen. Um halb sieben hatte ich genug gewartet. Drehte noch eine letzte Parkplatzrunde, um mich dann zu Frau Schmidt aufzumachen, hielt routinemäßig Ausschau nach eventuellen Beobachtern. In einem der parkenden Autos saßen zwei Personen. Die hatte ich nicht bemerkt, als ich vorhin auf den Parkplatz gekommen war. Komisch. Ganz beiläufig warf ich einen Blick in das Auto. Ein Mann und eine Frau. Sie schienen sich zu unterhalten und mich gar nicht wahrzunehmen. Irgendwie machte mich die Szene stutzig. Es gab so eine inszenierte Unauffälligkeit. Und – was machten die so früh hier? Warum stiegen sie nicht aus? Ich lenkte das Board hinter den Wagen und sauste dann so weit weg, dass sie annehmen mussten, ich könnte nichts mehr erkennen. Richtig vermutet. Beide hatten sich nach mir umgedreht und die Frau blickte durch eine Kamera mit einem ziemlich großen Objektiv. Bevor sie mich fotografieren konnte, war ich schon wieder weg. Ich durfte mich zwar nicht durch meine Geschwindigkeit verraten, konnte aber auf dem Board so herumwackeln, dass sie nur irgendetwas Verwischtes auf dem Foto haben würde. Trotzdem war ich aufs Höchste alarmiert. Entfernte mich schleunigst vom Parkplatz und mogelte mich durch den Lieferanteneingang nach drinnen, bevor sie mir folgen konnten.

      Frau Schmidt saß aufrecht im Bett, als hätte sie mich schon erwartet. Ich sah ihr in die Augen und sie lächelte mich an. Sie wusste, dass ich wusste. Und sie freute sich.

      „Ich habs gefunden“, sagte ich und sparte mir die Begrüßung.

      Sie nickte. „Wie viele?“

      „Drei Tagebücher, ein englisches Buch. Das gleiche lag im Lager, aber in einer anderen Sprache. Das habe ich mitgenommen.“

      „Wo hast du sie?“

      „Hier, in meinem Rucksack.“

      Sie nickte wieder. „Gut. Lasse sie nicht mehr aus den Augen.“

      Jetzt wollte ich eine Frage stellen, zögerte jedoch, weil ich mich scheute, sie einfach so mit „du“ anzusprechen. Aber die eigene Großmutter siezen ging gar nicht. Ich holte tief Luft. „Willst du sie sehen?“

      „Nein.“ Keine Reaktion auf meine Anrede. Gut.

      „Warum nicht?“

      „Es ist besser, sie bleiben verborgen.“

      Dann schwieg sie. Ich wartete, aber sie sagte nichts mehr. Irritierend. Sie musste doch jetzt noch etwas sagen. Irgendetwas, was mir einen Hinweis gab, wie es weitergehen sollte. Doch sie schwieg. Beharrlich. Freundlich. So, dass ich wieder nichts zu fragen wagte. Sie war jetzt zwar meine Großmutter, aber nicht weniger streng, und eigenwillig wie vorher. Erst kurz bevor Julien eintreffen sollte, begann sie zu sprechen. Sie sah mich eindringlich an, ließ mich nicht aus den Augen und sagte sehr leise: „Du musst weg von hier, raus aus Europa. Melde dich in Moskau an der Universität zu einem Auslandssemester an. Gib deine Wohnung auf, verabschiede dich von allen und fahre dorthin, so bald du kannst. Du darfst keine Zeit verschwenden. In Moskau kommst du offiziell an, mit Gepäck und allem drum und dran. Das Gepäck entsorgst du dann so, dass niemand deine Spur nachverfolgen kann und machst dich sofort auf den Weg nach Paris. Illegal. Die Adresse steht im Tagebuch. Dort bekommst du Papiere in jedes Land der Welt.“

      Paris. Bis dahin hatte ich noch nicht gelesen. Sie wollte tatsächlich, dass ich Deutschland verließ, nein, Europa. Ich hatte schon oft daran gedacht wegzugehen, meine Wurzeln zu suchen, wenn … Es gab viele Wenns. Aber zum ersten Mal, und das erst seit vorgestern, ein konkretes. Das ging ganz schön schnell. Na gut. Ich würde also für eine Weile mein Studium unterbrechen und die Wurzelsuche vorziehen. In Südamerika. Wie auch immer ich die Stecknadel im Heuhaufen finden wollte.

      „Für wie lange?“, fragte ich.

      „Solange die Kameradschaft gefährlich für dich ist.“

      Das hörte sich nicht gut an. Gar nicht gut. Mein Zwerchfell wurde bretthart. Ich bekam kaum noch Luft. „Wie lange ist das?“, flüsterte ich.

      „Mindestens ein paar Jahre“, antwortete sie. „Vielleicht für immer.“

      Für immer … Für immer! Das war neu. So war der Plan nicht gewesen. Mein Plan nicht!

      Meine Gliedmaßen wurden so taub wie heute Nacht, in meinem Kopf breiteten sich dumpfe Schwaden aus, meine Brust war von einem riesigen Stein ausgefüllt. Ich konnte nichts fühlen, nichts spüren. In meinem Verstand drehten sich diese beiden Wörter im Kreis.

      Für immer.

      Alle verlassen, die ich liebte.

      Für immer.

      Meine kleine Schwester. Julien, Martha, Gus. Meine Eltern.

      Für immer.

      Meine – Großmutter!

      „Und – du?“, fragte ich. Es war mir jetzt egal, wie sie das fand. Es gab nichts mehr zu verlieren. Ich musste weg, für immer!

      Sie sah mich an und schwieg.

      „Ich gehe nur, wenn du mitkommst.“

      Sie schwieg.

      „Großmutter, ich gehe nicht ohne dich.“

      Sie schwieg.

      „Du kannst mich nicht dazu zwingen.“

      Scheinbar doch – sie schwieg.

      Verzweifelt suchte ich nach einem Ausweg. Fand keinen. Mir fiel nichts ein als mein eigener Spruch auf dem Parkplatz: „Ein neues Elli-Zeitalter ist angebrochen.“ Wie bitter der Beigeschmack auf einmal war.

      Ich spürte, wie die Tränen in mir aufstiegen, da kam Julien zur Tür hereinspaziert. Großmutter wollte nicht, dass Julien etwas mitbekam, das war nicht schwer zu erkennen. Also kämpfte ich die Tränen hinunter und ging unauffällig in den Schwebezustand. Das half auch in solchen Fällen. Vorläufig hatte Großmutter das letzte Wort. Doch ich würde weiter nach einem Ausweg suchen und später darauf zurückkommen. Sie war nicht der einzige sture Mensch in diesem Zimmer.

      Ich erzählte Julien von dem Wagen mit den zwei Beobachtern. Wir fanden ein Fenster im Flur, von dem aus man den Parkplatz ziemlich gut überblicken konnte. Der Wagen war weg. Wie hätte es anders sein können. In jedem vernünftigen Kriminalfilm war das so. Allerdings hätte ich jetzt lieber in einer Komödie gesteckt. Auf dem Weg zurück zum Krankenzimmer musterte ich Julien von der Seite. Versuchte vergeblich, mir vorzustellen, dass ich diesen lieben Menschen nicht mehr wiedersehen sollte. Nie mehr. War es überhaupt möglich, sich klar zu machen, was diese Begriffe wirklich bedeuten: „für immer“,