Lintu. Christine Kraus. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christine Kraus
Издательство: Автор
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Жанр произведения:
Год издания: 0
isbn: 9783957448323
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Mal, nur diesmal war es richtig schlimm. Auf ihrer Bluse hatte sich ein großer roter Fleck gebildet. Meine Kehle schwoll schlagartig zu, ich konnte keinen Ton herausbringen, obwohl ich am liebsten geschrien hätte. Warf mich neben ihr auf die Knie und legte meine Hand an ihr Gesicht.

      Ehe ich etwas sagen konnte, hörte ich ihre Stimme: Bring mich hier weg, bevor die Sanitäter kommen.

      Sie hatte nicht gesprochen, sie hatte nicht einmal die Augen geöffnet. Aber die Verbindung zu ihr war so stark wie gestern im Krankenhaus. Ich hörte ihre Worte in meinem Kopf. Und dachte nicht daran, sie wegzubringen. Sie war doch verletzt!

       Bring mich weg, Elli, ich sterbe, ich will bei meinen Leuten sterben.

      Nein! Nein, das ging nicht, das konnte jetzt nicht sein! Die Sanitäter –

       Die können mir nicht helfen! Nur du kannst mir jetzt helfen. Ich muss nach Hause, zu Simón …

      Aber wie soll das gehen, das viele Blut …

       Elli, wenn du mich nicht sofort wegbringst, dann hängen sie mich im Krankenhaus an ihre Geräte und ich sterbe trotzdem. Du siehst mich dann nur noch durch eine Glasscheibe. Wenn du mich wegbringst, kannst du mir so viel Energie geben, wie ich brauche, um am Leben zu bleiben, bis wir dort sind, wo meine Leute liegen – unsere Leute, Elli, unser Volk.

      Unser Volk. Sie stirbt. Du stirbst.

       Ja, ich sterbe.

      Aber ich habe dich doch gerade erst wiederbekommen!

       Elli, bitte, du kannst mich nicht retten. Du musst dich entscheiden. Hilf mir! Ich will zu Simón!

       4. Kapitel

      Draußen waren jetzt keine Schüsse mehr zu hören, dafür Laufschritte und Männerstimmen, deren Art sich zuzurufen nach Polizei klang. Okay, jetzt musste ich mich wirklich beeilen. Vorsichtig nahm ich Großmutter auf die Arme. Sie war leicht wie eine Feder.

      Wohin?, dachte ich.

       In die Wohnung. Dort liegt eine dunkle Decke auf dem Sofa. Wickele mich darin ein und flieg los.

      Großmutter war so klar, obwohl sie so schwer verletzt war und noch nicht einmal die Augen öffnen konnte! So schnell es mit ihr ging, schwebte ich durch die Tür und die Treppe hinauf in die Wohnung. Riss die Decke vom Sofa, schlang sie irgendwie um ihren Körper und sauste zum Wohnzimmerfenster. Draußen auf der Straße hatten sich eine Menge Menschen versammelt, die in den Laden schauten. Hatten die denn keine Angst, dass die Schießerei wieder losging? Jedenfalls konnten wir hier nicht unbemerkt verschwinden. Blieb also das Küchenfenster. Es zeigte zum Hof hinaus. Ich öffnete es leise und kontrollierte die Umgebung. Kein Mensch weit und breit. Ein kurzer Blick auf Großmutter in meinen Armen – sie regte sich nicht, aber die Blutung hatte nachgelassen. Sicherheitshalber überprüfte ich den Hof noch einmal, denn es war noch nicht ganz dunkel und wir würden nicht sehr schnell sein. Dann hörte ich Schritte auf der Treppe. Sie suchten Großmutter. Wir mussten los.

      Durch das Fenster schoss ich steil nach oben. Die Decke flatterte. Ich musste rasch einen geeigneten Platz finden, um mir mein Bündel richtig umzubinden. Zum Glück konnte ich nach kurzer Zeit auf einem Flachdach landen. Vorsichtig legte ich Großmutter ab. Sobald ich den Körperkontakt zu ihr unterbrach, fing die Wunde wieder heftig zu bluten an. Das hatte sie gemeint, als sie sagte, ich könne ihr genug Energie zum Überleben geben. Die Verbindung im Schwebezustand verlangsamte den Zerstörungsprozess. In Windeseile streifte ich meine Straßenkleider ab und verstaute sie im Rucksack. Sie waren zwar blutig, doch ich wusste nicht, ob ich sie auf unserer Reise nicht noch einmal brauchen würde. Ich setzte meine Mütze auf und hängte mir den Rucksack vor den Bauch. Dann legte ich mich dicht neben Großmutter auf die Decke, verknotete die Ecken vor meinem Körper und hob ab. Großmutter hing auf meinem Rücken wie ein Sack Federn. Sie rührte sich nicht, aber so konnte ich noch nicht fliegen. Ihre Beine baumelten herunter, ihr Kopf kippte neben meinem irgendwie zur Seite. Ich musste sie besser festbinden. Mit fliegenden Fingern holte ich mein Messer aus dem Rucksack, das einzige Werkzeug, das ich immer dabei hatte, und schnitt rechts und links so viele Streifen in die Decke, dass ich ihre Beine an meine Beine binden konnte. Für ihren Kopf faltete ich, so gut es ging, eine Art hohe Halskrause und verknotete die Enden mit den Rucksackträgern. So sollte es gehen, aber es war klar, dass ich Großmutter nicht mehr losbinden würde, bis wir unser Ziel erreicht hatten. Ja, wohin flogen wir eigentlich?

      Nach Süden, zum Valle del Pájaro. Da war sie wieder.

      Warum warst du so lange still?

       Ich wollte dich nicht stören.

      Wie geht das, unsere Unterhaltung?

       Genauso wie das Fliegen. Du kennst viele deiner Fähigkeiten noch nicht, doch ich werde dir zeigen, so viel ich kann, bevor ich dich verlassen muss.

      Verzweiflung stieg so schnell und gewaltig in mir auf, dass ich es kaum schaffte, sie niederzukämpfen.

      Elli. Großmutters geistige Stimme klang so klar wie bei ihrem ersten Satz im Laden. Du kannst unsere gemeinsame Zeit damit verschwenden, zu trauern, dass du mich bald nicht mehr hast, oder dich auf das konzentrieren, was jetzt ist. Du hast mich jetzt hier. Wir sind miteinander verbunden und können noch sehr viel tun. Willst du die Zeit nutzen?

      Entschuldige. Du hast recht. Ja, ich will die Zeit nutzen. Wie wollen wir es machen mit dem Fliegen? Wirst du mir sagen, wohin genau ich muss?

       Ich werde dich leiten. Du musst Richtung Süden aus der Stadt hinaus.

      Mittlerweile war es richtig dunkel geworden. Trotzdem flog ich weiter vorsichtig von Dach zu Dach. Doch ich wurde ruhiger. Seltsamerweise fühlte ich mich stark mit meiner ungewöhnlichen Last.

      Und wie leitest du mich? Du kannst doch gar nichts sehen!

       Ich kann den Weg wie eine rote Linie in der Landschaft vor meinem geistigen Auge sehen. Ich habe ihn gespeichert, als ich ihn einmal geflogen bin. Jeder Lintu kann das. Wir können sogar von anderen Lintu Wege übernehmen.

      Dann kannst du mir doch den Weg geben.

      Großmutter lächelte. Wie konnte ich das jetzt wissen? Ich sah es nicht, hörte es nicht, wusste es aber trotzdem. Sehr interessant.

       Ich kann dir den Weg zwar geben, doch nur, wenn du weißt, wie man ihn empfängt. Das musst du aber erst üben …

      Hätte ich auch selbst drauf kommen können, dass sogar die besonderen Fähigkeiten Übung brauchten.

       Du kannst als Erstes einmal damit anfangen, nicht zu jedem Satz, den ich zu dir sage, einen Kommentar abzugeben. Damit unterbrichst du mich jedes Mal.

      Stimmt, das ist – ach, schon wieder! Entschuldige, Großmutter, es geht so automatisch.

       Ist schon gut, du fängst ja gerade erst an.

      Trotz aller Vorsicht flog ich so schnell wie noch nie in meinem Leben. Ich hatte das Schnellfliegen immer trainiert, aber jetzt, zu zweit, waren wir um ein Vielfaches schneller. Obwohl sie so schwach war und obwohl sie mich brauchte, um in den Schwebezustand zu gelangen, schien Großmutter meine Energie zu verstärken. Es war faszinierend. Ich war gespannt, wie lange ich das so durchhalten könnte.

       Theoretisch, bis wir da sind. Wenn sich zwei Lintu zusammentun, sind sie fast unschlagbar. Wahrscheinlich schaffen wir die Strecke, bis es hell wird.

      Fliegen wir nach Spanien?

       Ja.

      Wohin dort?

       In die Pyrenäen.

      Was ist das für ein Ort, Valle del Pájaro?

       Das Vogeltal. Wir wurden damals von den Spaniern ‚los pájaros‘ genannt – die Vögel. Das Tal liegt hoch