Lintu. Christine Kraus. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christine Kraus
Издательство: Автор
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Жанр произведения:
Год издания: 0
isbn: 9783957448323
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      „Hast du dich nie verplappert?“, wollte Julien wissen.

      „Nie. Das Einzige, was wirklich schwierig war, war Sport. Ich musste mich immer sehr darauf konzentrieren, nicht in den Schwebezustand zu gehen, damit ich nicht auffiel. Ich vermied Sport, so oft es ging. Ich galt als unsportlich.“

      „Typisch Schule“, kommentierte Julien. „Mich nannten sie Weiberheld, weil die Mädchen mich reihenweise anmachten und ich mich für keine entscheiden wollte.“

      „Arme Mädels“, grinste ich, „heute wären sie wohl mit ihrem harten Schicksal versöhnt.“

      „Sag das nicht“, seufzte er, „es gibt genug Frauen, die meinen, wenn sie sich nur ein bisschen anstrengen würden, könnten sie mich schon umdrehen.“

      „Bis heute hattest du es auch echt schwer“, stimmte ich ihm zu. „Doch ab jetzt kannst du dich immer mit mir vergleichen, einem fliegenden Einzelgängersingle. Das müsste dich wirklich trösten.“

      „Hast du denn nie jemanden gefunden, der es auch kann?“ Julien ging nicht auf meinen Versuch ein, die Sache ins Lächerliche zu ziehen.

      Ich schüttelte den Kopf. „Ich habe alles versucht, was mir eingefallen ist: Jeden Zirkus abgeklappert, der fliegende Akrobaten beschäftigt, sämtliche Büchereien durchstöbert nach Hinweisen in der Literatur, meine Eltern solange mit Fragen genervt, bis sie schon ‚Nein‘ sagten, wenn ich nur den Mund aufmachte, jeder älteren Frau ins Gesicht geguckt und versucht, meine Großmutter in ihr zu erkennen. Ich bin kein Stück weitergekommen. Natürlich habe ich meine Theorien, aber Beweise habe ich keine, geschweige denn Bestätigungen.“

      „Erzählst du sie mir?“

      „Lieber nicht. Du weißt jetzt schon so gut wie alles von mir, irgendwas muss ich noch für mich behalten. Außerdem ist es mir peinlich.“

      Julien nahm meine Antwort tatsächlich an, das hieß jedoch nicht, dass er nichts mehr wissen wollte. „Erzähl mir, was du jede Nacht treibst, wenn du ausfliegst, wie du es genannt hast. Wie lange bist du unterwegs?“

      „Ich fliege gegen zwei Uhr los, da ist so gut wie niemand mehr auf der Straße, und komme dann gegen halb fünf wieder heim, bevor die Ersten zur Arbeit fahren. Seit ich nicht mehr bei meinen Eltern wohne, habe ich es ein bisschen leichter. Der Weg in den Wald fällt praktisch weg. Meine Eltern haben immer schon mitten in der Stadt gewohnt, am liebsten dort, wo es am belebtesten ist. Da war die Strecke bis zum Stadtrand nicht so einfach, selbst mitten in der Nacht. Immer von Dach zu Dach und immer auf der Hut. Nicht gerade entspannend.“

      „Und was machst du dann, wenn du draußen im Wald bist?“

      „Fliegen. Einfach nur so, wie wenn jemand gern rennt oder schwimmt. Und Kunststücke üben, Fertigkeiten trainieren.“

      „Ist das nicht blöd, wenn es dunkel ist? Kannst du überhaupt etwas sehen?“

      „Ich sehe ziemlich gut, wenn ich im Schwebezustand bin. Bestimmt nicht so gut wie Nachttiere, aber ungefähr so, als wäre Dämmerung. Das ist absolut ausreichend zum Fliegen. Klar wäre es mir lieber, ich könnte tagsüber fliegen, mach ich ja auch bei jeder Gelegenheit. Aber es reicht halt nicht. Also bleibt mir nichts anderes übrig. Ich bin froh, dass es überhaupt geht.“

      „Wann bist du eigentlich bei deinen Eltern ausgezogen?“

      Meine Güte, gingen dem Mann denn die Fragen nicht langsam mal aus? Ich näherte mich einer Art Erschöpfungszustand. Normalerweise sprach ich nicht sehr viel. Schon gar nicht über mich. „Als ich das Studium anfing. Es war eine gute Gelegenheit. Ich wollte schon länger weg. Auf die Dauer ist es nicht zu ertragen, wenn man sich seinen eigenen Eltern gegenüber verleugnen muss.“

      „Wem sagst du das …“, warf er ein.

      „Aber du hast es doch erst viel später entdeckt?“, fragte ich verwundert.

      „Wäre vielleicht auch anders gewesen, wenn ich nicht versucht hätte, meinen gestrengen Eltern zu gefallen. Und so richtig verleugnen musstest du dich doch auch nicht.“

      „Nein, nicht wirklich, aber sie machten immer so deutlich, dass es ihnen nicht recht war. Dass sie es gern sähen, wenn ich das Fliegen endlich aufgäbe. Das quälte mich. Und es wurde über nichts gesprochen. Egal, was ich fragte, es kamen immer ausweichende Antworten oder gar keine. Ich war manchmal so wütend auf meine Eltern, dass es nicht zum Aushalten war. Seit ich nicht mehr bei ihnen wohne, komme ich besser klar damit.“ Trotz meiner locker dahingesagten Worte merkte ich, wie Wut und Traurigkeit in mir aufstiegen. Jetzt wünschte ich mir regelrecht die nächste Frage herbei, bevor es mich ganz ergriff.

      Julien ließ mich nicht im Stich. „Als ich mir selbst endlich eingestanden habe, dass ich schwul bin, hab ich ziemlich mit meinem Schicksal gehadert. Nicht wegen der ausgesprochen unangenehmen Begleiterscheinung, dass mir seitdem jede Menge Menschen Gespräche über meine Sexualität aufzwingen oder wenigstens irgendeine Bemerkung dazu loswerden müssen. Das gehört halt jetzt zu meiner Gegenwart. Es war eher die Vergangenheit, die ich beweint habe. Ich hatte das Gefühl, so viel Zeit verschwendet zu haben mit Unzufriedenheit und Unglücklichsein und klagte meine Eltern an, dass sie mir so wenig innere Freiheit gelassen hatten. Aber inzwischen bin ich so weit, dass ich glaube, ich kann frühestens am Ende meines Lebens erkennen, wie alles zusammenhängt und was wofür notwendig war. Wenn meine Eltern nicht solche Moralapostel gewesen wären, hätte ich jetzt keine Martha, und wer weiß, ob ich Gus jemals kennengelernt hätte. Wahrscheinlich auch dich nicht. Ich bin glücklich jetzt – und auch das wird nicht für immer bleiben. Alles ist in Bewegung und es ist ganz schön anmaßend von uns, jede Bewegung zu beurteilen, ohne den Gesamtzusammenhang zu kennen.“

      Ich staunte. „Wow, Julien, bist du unter die Erleuchteten gegangen? Du klingst ja wie meine alte Frau Schmidt! Die schwingt auch immer solche Reden.“

      „Man tut was man kann“, grinste Julien. „Ganz im Ernst, Gus hat mich auf ein Seminar mitgenommen vor ein paar Wochen, und ich hab richtig Feuer gefangen. Da geht es um inneres Wachstum und universelle Gesetze und so. Die Welt sieht echt ganz anders aus, wenn man sie unter solchen Kriterien betrachtet.“

      Hmm. Ich war ein bisschen irritiert. Wenn Frau Schmidt so sprach, dann schrieb ich das immer ihrem Alter und einer daraus entspringenden Weisheit zu. Julien führte das gerade ad absurdum. Er war definitiv nicht alt und es klang sehr schlüssig, was er sagte. Ich war angepiekst. „Erzählst du mir mehr davon?“, fragte ich.

      „Sehr gern“, antwortete er, „aber nicht gerade jetzt. Wir sollten uns langsam auf den Weg in Frau Schmidts Laden machen. Ich bin heute Nachmittag noch mit Martha und Gus verabredet und will auf keinen Fall zu spät kommen.“

      „Okay, dann – komm ich drauf zurück. Wie siehts aus“, ich schaute ihn an, „bist du bereit für die absolute Sensation?“

      „Die hatten wir doch schon“, meinte er, „oder spielst du auf deine geheimnisvolle Bemerkung von vorhin an?“

      „Jepp.“

      „Tut es weh?“ Das war spaßig gemeint, aber als ich ihn sehr ernst anschaute und den Kopf hin und her wiegte, wirkte er tatsächlich ein bisschen beunruhigt.

      „Könnte sein, aber wirklich nicht mehr, als du ertragen kannst.“

      Julien räusperte sich. „Können wir es nicht ein andermal machen?“

      „Du hast Angst“, grinste ich, „gibs zu!“

      „Nein, ich denke nur an die Zeit“, antwortete er mit etwas dünnerer Stimme als sonst.

      „Wir sparen Zeit“, entgegnete ich, „und du hast doch Angst!“

      „Nein, wirklich nicht – doch, ja, okay! Du bist jetzt Superelli und wer weiß, was du mit mir anstellst …“

      „Ich hab nur Spaß gemacht, ehrlich, es tut kein bisschen weh. Es wird dir so viel Freude machen, dass du nicht mehr aufhören willst. Versprochen.“

      Er sah mich forschend an und atmete dann hörbar