Sein letzter Gedanke war seltsamerweise Überraschung, dass der Fremde sich ihm trotz seines schweren Schuhwerks so leise hatte nähern können.
Drúdir wollte nach seiner brennenden Kehle greifen und erwartete, ein blutgetränktes Hemd zu finden. Stattdessen berührten seine Finger regennasses Leder. Der Schmerz in seiner Kehle flaute rasch ab. Dafür begann es in seinen Schläfen zu hämmern. Ganz zu schweigen von den Bildern in seinem Kopf, die partout nicht verblassen wollten. Es gab Angenehmeres, als Erinnerungen nachzuempfinden, die alle tröstlichen Lügen von einem schnellen, schmerzlosen Tod entlarvten.
Vornübergebeugt, die Hände auf den Boden gestützt, kauerte Drúdir da. Die drei Lampen hatten sich auf den Dielen niedergelassen und schlugen matt mit ihren mechanischen Flügeln.
Neben Fragars Erinnerungen pulsierte auch die aufgenommene Magie durch seinen Körper, denn nichts anderes waren die Erinnerungsscherben: Magie, durch Fragars heftige Emotionen während seines Todes verdichtet und in eine Form gebracht, die Drúdir aus irgendeinem Grund in die ursprünglichen Eindrücke zurückzuübersetzen vermochte.
Drúdir war noch ganz in den albtraumhaften Bildern gefangen. So fiel ihm erst jetzt auf, dass es neben den Flügelschlägen und dem leisen Surren und Ticken der Lampen noch ein anderes Geräusch im Raum gab: Den schnellen, rauen Atem eines angsterfüllten Zwerges.
Er hob den Kopf. Seine Bewegung ließ feine Eiskristalle von seinem Mantel zu Boden rieseln.
Dort, eine matt leuchtende Lampe in der einen, eine Steinschlosspistole in der anderen Hand, stand eine blonde Zwergin. Sie starrte ihn unverwandt an. Allmählich wich das Entsetzen in ihrem Gesicht unverhohlener Abscheu und der auf seinen Kopf gerichtete Lauf der Waffe hörte auf zu zittern.
Noch immer von Fragars Erinnerungen mitgenommen und verzweifelt bemüht, die Magie zu kontrollieren, die aus ihm herausbrechen wollte, war Drúdir für einen Moment wie gelähmt. Er wusste nur eines: Die Wahrscheinlichkeit, dass die notorisch unzuverlässige Pistole tatsächlich eine Kugel in Richtung seines Kopfes senden würde, mochte zwar unter fünfzig Prozent liegen, aber sie war ihm immer noch entschieden zu hoch.
Die Zwergin öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber Drúdir kam ihr zuvor. Er kniff die Augen zusammen und konzentrierte sich auf die schimmernden magischen Fäden, die ihn mit seinen Lampen verbanden. Ihm war schlecht bei dem Gedanken, diese verhasste Macht zu nutzen. Doch es war definitiv der falsche Moment, um wählerisch in der Wahl seiner Mittel zu sein.
Die drei Glühbirnen tauchten den Raum in gleißendes Weiß, bevor sie durchbrannten. Drúdir konnte es selbst hinter seinen geschlossenen Augenlidern sehen. Ein heller Aufschrei und das Geräusch taumelnder Schritte verrieten ihm, dass die Unbekannte geblendet und desorientiert war. Klirrend schlug ihre Lampe auf dem Boden auf.
Drúdir öffnete die Augen, sprang auf und sprintete zur Tür. Noch vor wenigen Augenblicken hätte er geschworen, dass allein das Aufstehen ihn vor eine Herausforderung stellen würde, aber die Panik verlieh ihm ungeahnte Kräfte.
Er stieß die Zwergin zur Seite, hechtete aus der Werkstatt, durch den Vorraum und schließlich in den Regen hinaus. Rutschend und schlitternd hetzte er die Straßen entlang, bis seine Beine ihm den Dienst versagten.
Kapitel 2
Drúdir
Mit der Nacht endete auch der strömende Regen. Drúdir stand am Rand eines leergefegten Platzes und sah zu, wie das bleiche, eisige Licht der Dämmerung allmählich über den Himmel kroch. Selbst der Qualm der Fabrikschlote kringelte sich in dünnen, verzagten Fäden über den noch immer tropfenden Dächern, als fühle er sich in dem weiten, farblosen Himmel verloren.
Drúdir starrte mit steifem Nacken in die Leere hinauf. Ungebeten legte sich seine beinahe bis ins Unerträgliche geschärfte magische Sicht darüber. Schimmernde Energiebahnen waberten über den Dächern wie breite Seidenbänder durch Wasser. Dort oben waren die Muster einfacher und runder, die Bewegungen der Magie langsamer.
Nach Stunden der Flucht und der Suche nach Ablenkung in heruntergekommenen Bars, die in seiner Erinnerung zu einem einzigen rauchverhangenen, alkoholdunstgeschwängerten Raum verschwammen, hatte er schließlich resigniert und sich ganz diesen neuen Eindrücken ergeben.
Er sah die Magie nicht nur, sondern spürte sie auch auf schwer fassbare Weise. Drúdir musste nicht in die entsprechende Richtung sehen, um die unsteten Ströme und Knoten der Energie zu kennen.
Und auch sein eigenes Eingeflochtensein in das ständig halb im Entstehen, halb in Auflösung begriffene Gewebe der Magie war ihm noch nie so bewusst gewesen. Jeder seiner Gedanken, jede seiner Empfindungen wurde zu einem schimmernden Ornament, einem komplizierten Knoten oder einer scharfen Krümmung. Wo auch immer er sich hinbewegte, bogen sich die Magiebahnen zu ihm hin, um sich mit seiner Aura zu verflechten – weit mehr, als sie es bei jedem anderen Objekt oder Lebewesen taten, das ihm je begegnet war. Sein Leben lang hatte Drúdir sich eingeredet, er wäre wie jeder andere Zwerg, aber auf dieser anderen Ebene der Sicht trug er das Stigma seiner Begabung wie eine finstere Standarte.
Da waren nicht nur die breiten Lichtbänder und verschlungenen Knoten, die er bisher gesehen hatte. Nein, jedes einzelne Band war aus unzähligen feineren Fäden gewoben, die ihrerseits aus komplexen Verflechtungen und Knoten haarfeiner Fasern bestanden. Drúdir konnte sie alle so klar und detailliert sehen wie nie zuvor. Und so sehr ein Teil von ihm sich auch wünschte, in einer Welt zu leben, in der der Platz nur aus rußgeschwärzten Häusern unter einem grauen Himmel bestand, konnte er doch nicht umhin, über die Komplexität und Anmut der Magiebewegungen zu staunen. Sie fühlten sich auf schwer fassbare Weise fremdartig an, als würden sie halb in eine andere Welt gehören, aber zugleich wirkten sie in ihren Bewegungen und Mustern so vollkommen und organisch, dass Drúdir nicht anders konnte als innerlich all denen zu widersprechen, die Magie als widernatürlich und böse verfluchten.
Dennoch verstand er ihre Angst. Jeder einzelne dieser Stränge trug so viel Macht, so viele Informationen, so großes Potenzial zur Zerstörung in sich … und mehr Rätsel, als ein Zwerg je würde lösen können.
Auch das war einer der Gründe gewesen, warum er dem Netzwerk den Rücken gekehrt hatte: Zu viele seiner Mitglieder waren allzu begierig darauf, mit Kräften zu spielen, die sie nicht einmal ansatzweise verstanden.
Diese Überlegung brachte die Erinnerung an Fragar zurück. Auch er hatte die Magie sehen können … allerdings wahrscheinlich nie mit derselben Schärfe, mit der Drúdir sie jetzt wahrnahm. Beinahe bedauerte er das. Er wusste, wie viel seinem Meister dieser ehrfurchtgebietende Anblick bedeutet hätte.
Als hätte dieser Gedanke etwas in ihm gelöst, gelang ihm plötzlich mühelos, worin er bisher versagt hatte: Sein Zweites Gesicht gehorchte endlich seinen Wünschen, und als er den Kopf senkte, fiel sein Blick auf regennasses Pflaster. Er rollte die Schultern, um seine verkrampften Nackenmuskeln zu lockern, und blickte wieder auf. Noch immer war er aufgewühlt. Die Flucht vor der unbekannten Zwergin, die quälende Vision von Fragars Tod und das sonderbare Bedürfnis, nach den allgegenwärtigen Magiefäden zu greifen und sie zu einem neuen Muster zu verweben … nichts war mehr, wie es zuvor gewesen war.
Und zu allem Überfluss würde die Suche nach Fragars Mörder ihn wahrscheinlich tiefer in die verworrenen Strukturen des Netzwerks führen, als ihm lieb war. Drúdir seufzte.
Dann straffte er den Rücken und setzte sich mit langsamen, aber entschiedenen Schritten in Bewegung.
Es war an der Zeit, seine Suche zu beginnen. Und er wusste auch schon, wo.
Zweieinhalb Stunden (und einige Flüche über knapp verpasste Straßenbahnen) später klopfte er an eine altersdunkle Tür irgendwo in den Ausläufern der Stadt. Sie gehörte zu einem im traditionellen zwergischen Stil erbauten Gebäude: Gedrungen und langgestreckt, mit einem