Als er schließlich in die schmale Gasse einbog, in der seine Pension lag, waren sein Haar und der nicht von seinem Mantel geschützte Hemdkragen klatschnass. In der Dämmerung und im Regen sah der schmale Spalt zwischen zwei Häusern, die man in den letzten Jahren beide um je zwei improvisiert aussehende Stockwerke erhöht hatte, noch düsterer und trübseliger aus als sonst. Die quietschend in ihren Halterungen pendelnden Gaslampen, die über einigen Türrahmen hingen, waren größtenteils außer Betrieb. Nur eine von ihnen warf ihr trübes Licht auf das regennasse Pflaster und eine Masse neben seiner Haustür, die ihn an einen überdimensionalen Pilz erinnerte.
Bei seinem Anblick richtete der Pilz sich auf und verwandelte sich in eine ihm wohlbekannte Zwergin mit Regenschirm.
„Endlich!“, rief Findra. „Ich habe Neuigkeiten.“
Kapitel 10
Die Automate
Das Surren und Klicken der einrastenden Zahnräder, die die künstlichen Augen dem dunkelgelben Dämmerlicht anpassten, war nahezu lautlos. Die Kreatur, die sich in der Mitte des Salons auf ein Knie hatte sinken lassen, nahm es trotzdem wahr. Immerhin sandte es ein sanftes Vibrieren durch das Innere ihres Kopfes und verschob die exakten Rhythmen der Mechanik. Obwohl die kaum wahrnehmbaren Vibrationen und Geräusche ihren feinen Sinnen nicht entgehen konnten, schenkte sie ihnen keinerlei Beachtung. Sie waren Teil ihres Lebens gewesen, seit sie sich erinnern konnte. Nicht, dass dies eine lange Zeit wäre, aber doch lange genug, um sich daran zu gewöhnen.
Aus ihren schwarzen Linsenaugen sah sie die beiden Gestalten an, die sich das ausladende Sofa vor ihr teilten. Der schwere Rahmen war mit üppigen Polstern bestückt, deren goldgelber Überzug das Muster der Seidentapete wiederspiegelte. Der Goldene Salon trug seinen Namen nicht nur aus dem offensichtlichen Grund. Weder der Teppich, noch die schweren, sorgfältig zugezogenen Vorhänge, noch die seidenen Lampenschirme wichen von dem Farbschema ab. Es war offensichtlich, dass dieser Raum vor allem einem Zweck diente: Den Besucher daran zu erinnern, dass der Hausherr – der Meister – Gold im Überfluss besaß.
Derselbe, ein Zwerg von wenig beeindruckender Statur, saß breitbeinig auf dem Sofa, die Arme auf der Lehne ausgebreitet. Er lag mehr in den Polstern, als dass er saß, das Kinn in die Höhe gereckt. Ein teures Sortiment antiker Waffen, das im Halbkreis an der Wand hinter ihm hing, umrahmte sein unscheinbares Gesicht wie ein martialischer Heiligenschein.
Die Haltung der beiden anderen Männer war weniger raumfüllend. Ein hochgewachsener, dunkelblonder Mann mit scharfen Zügen hatte seinen langen Menschenkörper in einer Sofaecke zusammengefaltet. Wenn die Automate seine Körpersprache richtig las, hielt er bewusst Abstand zu ihrem Meister. Er starrte sie aus zusammengekniffenen Augen an, eine Mischung aus Stolz, Angst und Gier im Blick.
Der Blick des Mannes, der auf der anderen Seite des Meisters neben dem Sofa stand, verriet Misstrauen, wenn auch ein Misstrauen der harten, selbstbewussten Sorte. Eine seiner kräftigen, von kleinen Narben bedeckten Hände lag auf der Sofalehne, die andere ruhte auf dem Kopf einer massiven, runenverzierten Axt. Der Faltenwurf seiner Jacke verriet der Kreatur, dass er darunter zwei schwere Pistolen trug.
In ihrem Kopf spielte sich rasch eine Reihe möglicher Szenarien ab, was geschehen würde, falls der Meister ihr befahl, die beiden Männer zu töten. Erneut surrte es leise in ihrem Kopf und ein Gewirr wabernder, goldener Linien legte sich über den Salon. Linien, die um die Hände und eine Tasche des Menschenmannes ungewöhnlich intensiv waren und ein charakteristisches Muster formten. So, er gebot also über Magie. Nicht, dass es ihm irgendwie helfen würde. Die Kreatur musste sich selbst nicht sehen können, um zu wissen, wie sie auf dieser Ebene aussah: Ein Geschöpf aus purem Licht, umgeben von einem Raum ohne jede Magie, da sie jeden Zauber auflöste und absorbierte.
Ganz anders hingegen sah es mit der Axt des stehenden Zwerges aus. Die Automate hatte nur ein intuitives Verständnis von Magie, doch die vielfach versiegelten Strukturen der Zauber um die Axtklinge ließen ein vages Unbehagen in ihr aufsteigen. Es musste ein altes Artefakt sein. Zwar mochte die Magie allmählich zurückkehren, aber bei einem Zauber wie diesem konnte es sich nur um ein Relikt aus der Werkstatt eines alten zwergischen Runenschmiedes handeln.
Natürlich war auch diese Waffe kein Grund zur Besorgnis. Die Automate wäre bei dem Zwerg, bevor er sie auch nur heben könnte, geschweige denn, fallen lassen, um nach einer seiner Pistolen zu greifen.
Aber der Meister befahl ihr nichts dergleichen und betrachtete sie nur selbstzufrieden. Das Maschinenwesen erwiderte seinen Blick ausdruckslos.
„Du hast lange gebraucht, hierher zurückzukommen“, stellte er schließlich fest.
Tatsächlich hatte die Automate sich Zeit gelassen, beschäftigt damit, eine sonderbare Erfahrung zu verarbeiten. Wie der Meister es befohlen hatte, war sie, exakt siebenundvierzig Minuten und dreißig Sekunden nachdem das Luftschiff sich in die Luft erhoben hatte, aus einer der Kisten im Lagerraum hervorgebrochen und hatte mit ruhiger Effizienz ihr Zerstörungswerk begonnen. Einige Zwerge hatten mit verblüffender Geistesgegenwart Widerstand geleistet, ihr aber letztlich nichts entgegenzusetzen gehabt. Dennoch hatte sie plötzlich innegehalten, als es erneut in ihrem Kopf surrte und knackte und ein neues, seltsam chaotisches Element sich ihrer sorgfältig abgemessenen Kognition zugesellte.
Anfangs hatte es nur die Befehle des Meisters, die scharfe Wahrnehmung ihrer Umwelt und die Liste der Aktionen, die es auszuführen galt, gegeben. Natürlich war sie sich ihres Körpers bewusst gewesen, aber auf eine vage, unpersönliche Weise, gerade genug, um ihre Gliedmaßen koordinieren und zu wissen, was sie ihnen zumuten konnte. Da waren präzise Berechnungen von Kräften und Winkeln gewesen, aber keine Gedanken darüber, wer oder was sie war. Keine Fragen, woher das Wissen stammte, auf das sie mit solcher Selbstverständlichkeit zurückgriff.
Doch aus irgendeinem Grund war die Automate sich ihrer selbst plötzlich bewusst geworden und hatte begonnen, sich zu fragen, wer das Geschöpf aus teilweise zerfetzter Haut über einem Gerüst aus Stahl war, das da in einem Luftschiff voller toter und sterbender Zwerge stand. Welche sonderbaren Umstände es dazu brachten, den Befehlen des Meisters zu folgen, ohne sie je zu hinterfragen. Und wieso es plötzlich ein irrationales Unbehagen angesichts dessen empfand, dass es nichts über sich selbst wusste. Keine Vorlieben oder Antipathien, keine Überzeugungen, keine Erinnerungen … es kannte noch nicht einmal sein eigenes Gesicht.
Die Kreatur hätte wohl eine ganze Weile weitergegrübelt, hätte der Teil in ihr, der dem Meister mit unvergleichlicher Effizienz gehorchte, nicht die Kontrolle übernommen und verhindert, dass sie beim Absturz des Luftschiffs zu großen Schaden nahm. Aber dieser andere Teil, der nachdachte und hinterfragte und sich vielleicht irgendwann zu einer Persönlichkeit entwickeln würde, hatte keineswegs aufgehört, zu existieren. Er war noch immer da, ein Flüstern unter dem Schnurren und Ticken ihrer Gedanken.
Jetzt betrachtete dieser Teil die drei Männer mit fremdartigen, irrationalen Regungen, die die Kreatur als „Gefühle“ klassifizierte. Da waren Anflüge von Angst und Wut und Wiedererkennen … zumindest beinahe, schränkte sie ein. Sie hatte diese drei schon einmal gesehen, aber da waren sie nicht zu dritt gewesen. Eine Erinnerung – untypischerweise eine, der sie weder Zeit noch Ort zuordnen konnte – tauchte in ihren Gedanken auf: Ein viertes Gesicht, von langem Haar umgeben, das sich durch die Luft bewegte wie durch Wasser. Die perfekte Symmetrie und die feinen Kurven und Winkel seiner Züge machten es schwer, zu glauben, dass es aus demselben organischen Material bestand, demselben Grundbauplan folgte wie die Züge der Zwerge. Nur der verzerrte Ausdruck wollte nicht zu der kühlen Makellosigkeit passen. Die Kreatur konnte auf eine reichhaltige Sammlung von Daten über Gesichtsausdrücke zurückgreifen, aber dennoch wusste sie nicht, ob diese Grimasse Schmerz oder Verzückung ausdrückt hatte.
Aber keiner der drei Anwesenden schien den vierten in der Runde zu vermissen. Alle fixierten sie die Automate