Schließlich gelang es ihr, die Kerze anzuzünden und das Flackern wich einem weichen, goldenen Licht. In der vollkommenen Dunkelheit, die sie umgab, strahlte die Kerze wie ein Leuchtfeuer. Aber offenbar nicht so hell, dass die Fremde ihre Arbeit fortsetzen konnte. Resigniert richtete sie ihren Blick stattdessen auf die beiden Zwerge, die ihr gegenübersaßen.
Ohne Umschweife streckte sie die kerzenfreie Hand aus. „Svalris.“
Drúdir ergriff sie. „Drúdir.“
Auch Findra stellte sich vor. „Sind Sie auch in das unterirdische Schwarzspiegel unterwegs?“, fragte sie.
Svalris nickte. „Ich studiere an der Universität. Mathematik.“
Drúdir hob anerkennend die Brauen.
„Aber jetzt“, fuhr die Zwergin fort, „bin ich aus anderen Gründen dahin unterwegs.“
Das Kerzenlicht machte es schwierig, ihr Gesicht zu lesen, aber ihr Mienenspiel erregte dennoch Findras Aufmerksamkeit. Überhaupt weckte die Zwergin ihr Interesse. Zum einen ihr Gesicht. Wenn Findra sich nicht täuschte, musste irgendwie ein Mensch in Svalris‘ Ahnenreihe geraten sein. Dann ihr Akzent: Das leise, überakzentuierte Zwergisch der Oberschicht, das man selten in Kombination mit so ungeziertem Verhalten wie dem Svalris‘ antraf.
„Weswegen?“, hakte Findra nach.
Svalris lehnte sich zurück und zog den linken Fuß auf ihren rechten Oberschenkel, ohne darauf zu achten, dass sie damit ihren Rock etwas hochzog. Ihr Gesicht verschwand im Schatten. „Neben meinem Studium arbeite ich als … nun ja, man könnte mich wohl als Journalistin bezeichnen, wenn auch eine spezielle Sorte. Ich sammle urbane Mythen und Geschichten über Magie.“
„Magie, Mythen und Mathematik. Eine interessante Kombination“, bemerkte Drúdir ein wenig spöttisch.
„Wenn die Magier von einst sich in etwas weniger mystisches Dunkel gehüllt und ernsthafte Forschungen betrieben hätten, wäre Magie heute eine Wissenschaft wie jede andere“, gab Svalris in streitlustigem Ton zurück, aber gleich darauf wurde ihre Stimme wieder sanfter. „Aber es ist nicht die Magie selbst, die wir erforschen, sondern die Geschichten. Wie sie entstehen, sich verbreiten und sich verändern.“ Die Kerzenflamme spiegelte sich doppelt in ihren geweiteten Pupillen, als sie sich vorbeugte, um Drúdir zu fixieren. „Sie haben nicht zufällig eine solche Geschichte zu erzählen, Drúdir?“
Findra wahrte ihren neutralen Gesichtsausdruck nur mit Mühe. Verstohlen schielte sie zu Drúdir hinüber, der sein bitteres Lachen gerade noch mit einem Husten kaschieren konnte. Svalris‘ Augen verengten sich. Ohne jede Verlegenheit sah sie ihn unverwandt an.
Gerade als Drúdir zu einer, wie Findra vermutete, scharfen Bemerkung ansetzte, fuhr Svalris fort. „Ich bin momentan hinter einer ganz bestimmten Geschichte her – einer ziemlich tragischen und widerwärtigen, wenn ich ehrlich sein soll.“
„So?“, fragte Findra.
„Haben Sie noch nicht vom Tiefufer-Massaker gehört?“
Drúdir schüttelte den Kopf.
Svalris seufzte. „Nun ja, sie haben die Leichen erst heute im Morgengrauen gefunden. Die Zeitung hat in Windeseile ein Extrablatt gedruckt.“
„Leichen?“
„Grihin, ein stadtbekannter Verbrecher, und siebzehn weitere Männer. Niemand hat damit gerechnet. Auch wenn niemand es zugegeben hätte, war Grihin einer der mächtigsten Männer der Stadt. Zumindest einer der reichsten. Schmuggel, Schutzgelderpressung und Sabotage – nur drei der Gebiete, auf denen er tätig war – müssen wohl einträgliche Geschäfte sein. Auf jeden Fall unterstanden ihm mehr oder weniger alle Verbrecher der Stadt. Das letzte Mal, dass jemand versucht hat, ihn zu stürzen, ist eine ganze Weile her … aber die Leute erinnern sich immer noch daran. Grihin wusste, wie man ein Exempel statuiert. Über Jahre hat niemand gewagt, ihn anzugreifen.“
„Sie sind gut informiert“, bemerkte Findra.
„Ich komme mehr herum und mit mehr Leuten in Kontakt, als man vermuten würde“, entgegnete Svalris achselzuckend.
„Also eine rivalisierende Bande hat mit Grihin abgerechnet“, sagte Drúdir gedehnt. „Kaum ein interessantes Thema für eine Magieforscherin.“
Svalris‘ Seitenblick war eher amüsiert als verärgert. „Nun, wie Sie gleich erfahren werden, deutet einiges auf einen … übernatürlichen Faktor hin.“
„Wie das?“
„Die Leichen wiesen allesamt – mit einer Ausnahme – tiefe Schnitte wie von schweren Klingen auf. Tatsächlich müssen einige Hiebe mit unglaublicher Wucht erfolgt sein. Das Lagerhaus, in dem das Ganze stattgefunden hat, war völlig blutgetränkt. Das ist schon an sich bemerkenswert – wer zerlegt angesichts der gepriesenen Fortschritte der Rüstungsindustrie“, - sie verdrehte die Augen – „seine Gegner noch mit dem Schwert oder der Axt?“
„Jemand mit einer kranken Vorstellung von Spaß?“, schlug Drúdir vor.
„Worauf ich hinauswill“, unterbrach ihn Svalris, „ist Folgendes: Das Lagerhaus war perfekt gesichert. Es hatte einen einzigen Eingang, von einem von innen verschlossenen Fluchttunnel einmal abgesehen. Diese Zwerge – nebenbei bemerkt schwer bewaffnete, erfahrene Kämpfer, viele Veteranen der Vereinigungskriege – haben ihren Gegner kommen sehen müssen. Und hätten fliehen können. Aber sie haben es nicht getan. Und die Berichte von Zeugen aus der Gegend deuten darauf hin, dass das Gemetzel weniger als drei Minuten gedauert hat. Grihins Tod etwas länger, aber das tut hier nichts zur Sache. Und dann ist da noch etwas: Da sind blutige Fußspuren, die in den nahen Kanal führen. Der Täter ist wohl weggeschwommen.“
„Der Täter?“
„Genau. Das ist das Unglaubliche. Es scheint nur ein einziger Mann gewesen zu sein.“
Schweigen stellte sich ein. Svalris hatte die Begebenheit in sachlichem Ton nacherzählt, aber die unterschwellige Mischung aus Abscheu und morbider Faszination in ihrer Stimme und vor allem die beiden tanzenden Flammen in ihren Augen und die unheimlichen Schatten, die das Kerzenlicht auf ihre Haut warf, ließen Findra an ihre Jugend denken. An nächtliche Streifzüge mit Freunden und Schauergeschichten im Laternenschein. Vor allem aber sprach der Bericht die Ermittlerin in ihr an. „Könnten sich Grihins Männer nicht gegeneinander gewandt haben?“, fragte Findra.
Svalris schüttelte den Kopf. „Unwahrscheinlich. In dem Fall hätten sie wohl zu ihren Schusswaffen gegriffen – die die meisten von ihnen nicht einmal ziehen konnten, bevor es sie erwischt hat. Übrigens wurde keine einzige Waffe sichergestellt, die als Tatwerkzeug in Frage kommt.“
Wieder ein Moment, in dem sie nur das Stampfen der Bahn hörten. „Jedenfalls“, sagte Svalris, als das Schweigen zu drückend werden drohte, „bin ich jetzt auf dem Weg in die Stadt. Bitte glauben Sie nicht, dass ich mich über den Tod von Zwergen – selbst solchen wie diesen – freue, aber ich komme doch nicht umhin, zu bemerken, dass es eine dieser Situationen ist, in denen Schauergeschichten für spätere Generationen geboren werden. Ich will mich ein bisschen in den Kneipen der Umgebung herumtreiben und den Gerüchten lauschen.“
Sie wandte sich an Findra. „Ihr Begleiter scheint eher abgeneigt zu sein, aber vielleicht haben ja Sie eine gute Geschichte über Magie oder übernatürliche Wesen auf Lager? Ein paar Freunde und ich geben als eine Art Hobby ein Magazin heraus. Es ist verblüffend erfolgreich, offenbar hungern viele Zwerge in dieser ach so rationalen Zeit insgeheim nach Geschichten über Götter, die Dämonen des Abgrunds und Zauberei. Und authentische überlieferte Geschichten haben einen Zauber, den die fiktiven Erzählungen, die wir neuerdings häufig veröffentlichen, einfach nicht imitieren können.“
Findra schüttelte den Kopf. „Tut mir leid.“ Dann fiel ihr etwas ein. Magie war ihr unheimlich, doch es lag nicht in ihrer Art, Dinge zu ignorieren, die ihr unangenehm waren. Sie wollte mehr darüber wissen. Und in Svalris hatte sie vielleicht eine ergiebigere Quelle gefunden als in dem