„Keine Sorge“, entgegnete der Gepäckträger, „Sie haben noch eine Viertelstunde. Mehr als genug Zeit, um zum Gleis zu gelangen.“
„Danke“, entgegnete sie mit ihrer hellen, kühlen Stimme.
„Die wollen auch zum Zug ins Zentrum“, meinte Findra an Drúdir gewandt und deutete auf das Paar. „Am besten, wir gehen einfach hinterher.“
Die beiden Zwerge schulterten ihr Gepäck und folgten dem Zylinder, der hoch über den Köpfen der Zwerge entlangtanzte.
„Die beiden haben einen ziemlich ungünstigen Zeitpunkt erwischt, um nach Schwarzspiegel zu reisen“, bemerkte Drúdir.
Ein über die Schulter eines Mitreisenden halb gelesener Zeitungsartikel fiel Findra ein. „Wegen des Parteitages der ZSK?“
Drúdir nickte. „Ja, ich habe gehört, dass viele Elfen, Menschen und Kobolde die Stadt für die Woche verlassen. Du erinnerst dich sicher an den letzten Parteitag in Nordkrone.“
„Oh ja.“ Bei der Erinnerung lief es Findra kalt den Rücken hinunter. Es war zwei Jahre nach ihrem Dienstantritt gewesen und sie erinnerte sich noch gut daran, wie sie, einen metallverstärkten, wattierten Harnisch über der Uniform und einen etwas zu großen Helm auf dem Kopf, zitternd in der dünnen Reihe von Polizisten gestanden hatte, die die radikalen Expansionisten und die Hammerschwinger trennten.
Die Expansionisten, die das Überleben des Stärkeren und den natürlichen Herrschaftsanspruch der Zwerge predigten, jagten ihr abwechselnd entweder Angst ein oder weckten in ihr den Wunsch, ein paar Straßenlaternen mit den Köpfen gewisser Zwerge einzubeulen. Aber was sie wirklich deprimierte, waren die Hammerschwinger. Sie hatte am eigenen Leib erfahren, wie hart das Leben für die Zwerge sein konnte, die nie wussten, ob sie eine Fabrik mit allen Fingern verlassen würden – und trotzdem froh waren, dort eine Anstellung gefunden zu haben. Aber es würde sich ihr wohl nie erschließen, wie einige dieser Zwerge Veränderungen dadurch herbeizuführen hofften, dass sie Fabriken sprengten oder brutale Raubüberfälle auf reichere Zwerge unternahmen.
Etwas in ihrem Gesichtsausdruck musste ihre Gefühle verraten haben, denn Drúdir war stehengeblieben und sah sie aufmerksam an.
„Ich war dabei“, murmelte sie.
Der Uhrmacher nickte nur, als wäre damit alles erklärt. Was es auch war. „Ich bin froh, dass ich nicht da war. Wisdrin hat mir darüber geschrieben. Um ein Haar wäre die Bibliothek gestürmt worden.“
„Entzündet Kochfeuer mit den unnützen Büchern der Tyrannen“, zitierte Findra bitter. Dann wandte sie sich mit einem halben Lächeln an Drúdir. „Ihr Glück, dass sie es nicht geschafft haben. Wisdrin wäre in all seinem Zorn über sie gekommen.“
Drúdir schüttelte mit einem schiefen Grinsen den Kopf. „Wisdrin in all seinem Zorn? Du unterschätzt die Macht eisiger Verachtung.“
Doch sie beide wurden schnell wieder ernst. Die Geschehnisse auf den Straßen der Union waren in ihrer schieren grotesken Unvernunft durchaus komisch – aus sicherer Entfernung betrachtet.
„Ich könnte mir vorstellen, dass es dieses Jahr noch hässlicher für alle Nichtzwerge wird“, fuhr Drúdir fort. „Mit all der Bergfalke-Hysterie.“
Findra verzog das Gesicht zu einer Grimasse widerwilliger Zustimmung. Selbst ein ausgesprochen dummer Zwerg würde nach fünf Minuten unvoreingenommenen Nachdenkens zu dem Schluss kommen, dass keine ausländische Regierung Interesse an einem solchen Sabotageakt haben könnte.
Allerdings war ein ausgesprochen dummer Zwerg eine Sache. Eine Menge ausgesprochen dummer Zwerge war eine völlig andere, konnten sie einander doch in ihrem Irrglauben bestätigen.
Als wollte er ihre pessimistischen Ansichten über die Welt im Allgemeinen bekräftigen, rief ein Zeitungsjunge in einiger Entfernung die Schlagzeilen aus. Findra fing nur ein „Brutaler … Schwarzspiegel schockiert … Polizei vor Rätsel“ auf.
Sie schoben sich hinter dem Gepäckträger des Elfenpaares auf eine Treppe, die sich knarzend in Bewegung setzte und sie nach oben trug. Findra hatte bisher nur von diesen Rolltreppen gehört und sah staunend zu, wie das Gewusel der Halle immer weiter nach unten glitt.
„Bemerkenswert“, murmelte Drúdir, für einen Moment von seinen düsteren Gedanken abgelenkt. Findra konnte ihm nur zustimmen.
Wenig später saßen sie in dem schwarzen, mit blitzendem Kupfer beschlagenen Zug, der sie in die Innenstadt bringen würde. Ursprünglich hatten sie wieder in der dritten Klasse reisen wollen, aber diese Waggons waren bereits bis auf den letzten Stehplatz vollgestopft, sodass Findra widerwillig Drúdirs Angebot akzeptierte, ihnen Karten für die zweite Klasse zu kaufen.
Findra gestand es sich nur ungern ein, aber sie war froh darüber. In den letzten Tagen hatte sie genug überfüllte Bahnwaggons gesehen und genoss es nun aus vollen Zügen, dass sie und Drúdir in einem abgeschlossenen Sechspersonenabteil saßen. Es gab sogar einen Ventilator, der sich träge an der Decke drehte.
Erst nachdem ein gellender Pfiff die kurz bevorstehende Abfahrt angekündigt hatte, füllte sich das Abteil mit anderen Gästen. Zuerst kam eine matronenhaft wirkende Zwergin, die an einem langen, dunkelblauen Schal strickte. Als nächstes ließ sich ein Geschäftsmann mit dunklen Ringen unter den Augen auf einen Sitz fallen und schlief beinahe sofort ein. Zuletzt schob sich eine junge, ungewöhnlich große Zwergin ins Abteil, die so merkwürdig aussah, dass Findra sie verstohlen musterte. Findra konnte sich nicht entscheiden, ob die Unbekannte auf exotische Art und Weise attraktiv oder eher mit seltsamen, schlecht zueinander passenden Zügen geschlagen war. Allem Anschein nach beides – je nach Lichteinfall und Blickwinkel. Wahrscheinlich hätte Findra sich nicht bemühen müssen, ihre Aufmerksamkeit zu verbergen, denn die Fremde war ganz auf das Klemmbrett in ihrer Armbeuge fixiert, auf dem sie unablässig in rasender Geschwindigkeit herumkritzelte. Was wahrscheinlich nur gut war, andernfalls wäre ihr nämlich Drúdirs Blick nicht entgangen. Offenbar fiel sein Urteil positiv aus.
Ruckend setzte sich der Zug in Bewegung und sie tauchten in die Dunkelheit des Tunnels ein. Samtige Schwärze hüllte sie ein. Findra runzelte die Stirn. Von der Matrone kam ein ärgerliches „Tsts, typisch!“
Drúdir neben ihr bewegte sich ein wenig und stieß in einem leisen Seufzen den Atem aus. Gegenüber hörte Findra eine leise, kultivierte Stimme einen Fluch ausstoßen. Das war dann wohl die Frau mit dem Klemmbrett.
Wenig später – es war schwer zu sagen, wie viel Zeit vergangen war –, glitt schabend die Abteiltür auf. „Verzeihen Sie bitte“, sagte eine Männerstimme, der man die Unsicherheit unter der Oberfläche einstudierter Professionalität anhörte, „aber das Beleuchtungssystem in diesem Waggon hat sich leider soeben als nicht funktionsfähig erwiesen. Bitte bewahren Sie Ruhe, die Fahrt wird wie geplant fortgesetzt. Im Namen der Wuthri-Linien möchte ich mich für alle entstehenden Unannehmlichkeiten entschuldigen. Selbstverständlich können Sie auf dem Bahnhof Schwarzspiegel Zentral die Rückerstattung des halben Fahrtpreises fordern. Legen Sie nur ihre Fahrkarten vor. Ich wünsche ihnen eine angenehme Fahrt.“
Mit einem scharfen Knall fiel die Abteiltür zu. Raschelnd und stöhnend erhob sich jemand. „Ich gehe in einen Waggon, in dem die Lichter funktionieren“, erklärte die Zwergin mit dem halb gestrickten Schal.
„Jaja“, murmelte eine ungeduldige, schlaftrunkene Männerstimme. Der Geschäftsmann. Seine Stimme ging in lautem Rascheln aus der Richtung der Frau mit dem Klemmbrett unter. Wenig später verstummte auch dieses, sodass nur noch das Stampfen und Zischen des Zuges und das leise Schnarchen des Geschäftsmannes zu hören war. Er musste sofort wieder eingeschlafen sein. Findra zollte ihm Bewunderung.
Mit einem Zischen erwachte eine rötliche Flamme zum Leben. Die Zwergin im roten Mantel hatte