Selbst die scharfe Salbe konnte den Geruch nicht vollkommen übertönen, aber zumindest verfälschte sie die Wahrnehmung so stark, dass das Gesamtergebnis erträglich wurde.
Während die Spurensicherer das direkte Umfeld noch akribisch untersuchten, verschafften sich Sarah, Thomas und Schwarz erst einmal einen Überblick. Der schwarze Koffer lag etwa 15 Meter unterhalb von ihnen im jungen Gestrüpp. Deutlich zu sehen war die grüne Gewebeplane, die zum Teil aus dem Koffer herausgerissen war. Herr DaCeli war beim Öffnen nicht zimperlich vorgegangen. Im oberen Bereich, wo sie relativ großflächig auseinanderklaffte, konnte man etwas dunkel Gefärbtes, Rundes erkennen, das der Kopf des Opfers sein musste. Der Ansatz der Schultern war auch zu sehen, Details waren aus dieser Entfernung jedoch nicht auszumachen. Kleines Kollege stand ein paar Meter abseits und hielt sich ein Taschentuch vor sein kalkweißes Gesicht. Er blickte erwartungsvoll nach oben.
Kommen Sie rauf, Ihr Kollege wartet schon auf Sie, um die beiden Studenten und ihre Bikes nach Hause fahren zu können, erlöste Thomas den Beamten, ohne ihn erst lange zu begrüßen oder sich vorzustellen.
Dieser nickte dankend und erklomm den Erdwall.
Gehen Sie ruhig, falls wir Fragen haben, melden wir uns, entließ ihn Thomas endgültig, nachdem der junge Mann zunächst mit fragender Miene bei ihnen stehen geblieben war.
Sichtlich erleichtert, diesem Ort den Rücken kehren zu können, machte er sich daran Richtung Fahrweg zu gehen. Weiter unten waren die Spurensicherer noch damit beschäftigt herauszufinden, auf welchem Weg der Koffer mit dem Leichnam zu dieser Stelle gebracht worden war. Nach einem kurzen Moment wandte sich einer der Kollegen an Schwarz.
Ok Doc, Sie können jetzt kommen, und an Sarah und Thomas gerichtet:
Sie selbstverständlich auch.
Nacheinander stiegen die Angesprochenen die verbleibenden Meter hinunter. Sie näherten sich bedächtig dem Koffer, zuerst Schwarz, der neben der Leiche auf die Knie ging und die sterblichen Überreste eingehend betrachtete.
Auch Sarah und Thomas sahen sich den Leichnam nun aus der Nähe an. Der Anblick war ohne Zweifel grauenerregend. Die Haut im Gesicht war aufgedunsen und dunkel verfärbt und schien eher eine gallertartige Masse zu sein. Auch die nun gut sichtbare Schulterpartie war richtiggehend aufgebläht, so, als ob man einen 240-Kilo Mann vor sich gehabt hätte. Die Augen waren komplett zugeschwollen, so dass es unmöglich war zu sagen, ob noch Augäpfel vorhanden waren oder nicht. Diese widerwärtig aussehenden Aufblähungen, das wussten auch Sarah und Thomas, stammten von den Fäulnisgasen, die, je länger der Tod zurücklag, stetig zunahmen. Paradoxerweise war trotz der raumnehmenden Schwellungen der Mund des Opfers weit geöffnet, so dass man die Zähne sehen konnte. Der fast Tennisball große, dunkle Klumpen hinter den Zähnen musste wohl die um ein mehrfaches verdickte Zunge sein. Es schien, als wollte der grausam entstellte Körper noch im Tod laut herausschreien! Schweigend betrachteten Sarah, Thomas und Schwarz den Leichnam. Das spärlich einfallende Sonnenlicht, das wegen des bewegten Laubes über ihnen unregelmäßig über der Fundstelle tanzte, vermittelte den Eindruck von Bewegung. Vor allem, wenn kleine Lichtflecke über das Gesicht fielen, konnte man meinen, der Tote rolle mit den Augen. Der Anblick und die erdrückende Stille, die auf einmal herrschte, machten Sarah schaudern. Keiner der Anwesenden sprach im Moment und es war auch kein anderer Laut zu hören, nicht einmal ein Vogelzwitschern. Allein die Wipfel der Bäume, die sich ganz leicht im kaum wahrnehmbaren Wind wiegten, verursachten ein leises Rauschen, während sie mit ihrem Schattenspiel die Szenerie so unwirklich erscheinen ließen. Die beklemmende Stimmung währte nur wenige Sekunden. Ein Räuspern von Thomas brachte die Realität zurück.
Und Schwarz, was sagen Sie dazu?, fragte er den Rechtsmediziner.
Wir sind zu spät! Ich kann nichts mehr für ihn tun!, schüttelte dieser bedächtig den Kopf ohne es mit der Dramatik zu übertreiben.
Dann sah er mit ernster Miene in die Gesichter der anwesenden Ermittler. Allein ein sehr junger Kollege, der mit einer digitalen Spiegelreflexkamera alle Details fotografierte, zeigte einen kurzen Anflug von Verwirrung. Aber bereits Sekundenbruchteile darauf wich der Gesichtsausdruck einem allzu offensichtlich zur Schau gestellten Ich-habe-verstanden-Blick. Dazu performte er ein cooles Kopfnicken, begleitet von einem leisen Schnauben, das seine Verlegenheit zusätzlich überspielen sollte. Sarah sah kurz herüber zu Thomas, der die Situation wie immer bis ins letzte Detail wahrgenommen hatte. Selbst auch ein wenig belustigt, konnte sie in seinen Augen ein leichtes Schmunzeln entdecken. Beide wussten, dass Schwarz alles andere als pietätslos war. Hätte er einen soeben gestorbenen Menschen oder gar ein geschundenes, getötetes Kind vor sich gehabt, wäre er schweigsam und nachdenklich ans Werk gegangen. Aber der Zustand der Überreste brachte bereits ein genügend großes Ausmaß an Entfremdung mit sich, um es Schwarz zu erlauben, einen solchen Witz zu machen. Der seinem Namen mehr als ebenbürtige Humor, mitunter zynisch und vielen unbegreiflich, war Waffe und Schild in seinem Alltag. Als ständiger Zeuge der Verletzbarkeit und Vergänglichkeit des menschlichen Daseins und der Perfidität und Brutalität des menschlichen Handelns war für ihn ein solches Ventil notwendig. Nur so konnte er zu Hause der liebende und fürsorgliche Familienvater sein, für den nichts schöner war, als mit seiner Frau, seinen drei bildhübschen Töchtern und Mr. Bond, dem Bernhardiner-Neufundländer Mischling, einen Sonntagsausflug in die Natur zu machen.
Schwarz hatte sich Latexhandschuhe übergestreift, drückte vorsichtig auf die eine oder andere Stelle. Beim Loslassen zogen sich kurze zähflüssige Fäden von seinen Fingerspitzen. Er wischte die glibbrigen Überreste an seinem Einmal-Overall ab und stand auf.
Hier mache ich am besten gar nichts, sagte er.
Wir tüten den ganzen Koffer mit Plane und Inhalt in einem Stück ein und bringen alles in die Rechtsmedizin. Dort kann ich dann in aller Ruhe auspacken, ohne dass uns etwas abhandenkommt oder irgendetwas von der Umgebung auf die Sachen übertragen wird. Haben Sie die großen, reißfesten Säcke dabei? Oder besser noch so eine große verschließbare Plastikbox, wo das hier als Ganzes reinpasst?
Ein Mitarbeiter der Spurensicherung nickte.
Ja, haben wir hinten im Van, lasse ich gleich holen.
Das hier, er reichte Thomas einen Klarsichtbeutel mit einem geöffneten Taschenmesser, lag direkt neben der Leiche, wird wohl einem der beiden Studenten gehören.
Thomas nahm ihm den Beutel nicht ab, also legte ihn der Beamte wieder in die neben ihm stehende Plastikkiste und fuhr fort.
Aber Folgendes: Wir haben jetzt rund um die Fundstelle jeden Quadratzentimeter untersucht, aber nichts gefunden, was auch nur ansatzweise auf eine Spur hindeutet. Das wundert mich aber nicht, schließlich scheint er hier ja schon eine ganze Weile so zu liegen. Und da jetzt im Frühjahr alles so verflucht schnell wächst... Gestrüpp, Bodendecker...
Er zuckte mit den Schultern. Thomas stimmte ihm zu.
Und außerdem hatten wir letzte Woche diese sintflutartigen Regenfälle. Deswegen können wir, denke ich, ziemlich sicher sein, dass die Spuren, die hier herunterführen, ausschließlich von dem jungen Pärchen, beziehungsweise den beiden Kollegen stammen. Schade.
Regenfälle ist ein gutes Stichwort, hakte Sarah ein.
Schaut euch mal den Zustand und die Lage des Koffers und den weiter unten liegenden Boden an. Fällt euch was auf?
Schwarz schob sich mit dem Zeigefinger die Brille zurecht, nicht ohne vorher vorsichtig den widerlich aussehenden und übelriechenden Latexhandschuh ausgezogen zu haben.
Ja, es ist eindeutig, sagte er nach einigen Momenten.
Der Koffer wurde ursprünglich vergraben. Aber das Regenwasser hat sich wohl da oben konzentriert und ihn im weiteren Verlauf ausgewaschen. Wenn sich fließendes Wasser einmal eine kleine Furche gefressen hat, sammelt es sich immer mehr und kann schnell zu einem richtigen Sturzbach werden. In diesem Fall hat es offensichtlich jede Menge Material abgetragen. Nur so konnten die beiden Studenten den Koffer überhaupt erst sehen!
Thomas fixierte Sarah und in seinen Augen lag Anerkennung.
Sehr gut!, sagte er, denn das sagt uns etwas über unseren Täter.