Und somit ist zu vermuten, komplettierte Sarah, dass er befürchtet, über die Leiche identifiziert zu werden. Sprich, Opfer und Täter kannten sich möglicherweise. Wir sollten alles daran setzen, das Opfer so schnell wie möglich zu identifizieren!
Eine Vermutung möchte ich Ihnen nicht vorenthalten, meldete sich Schwarz zu Wort. Sie wissen, ich hasse Schnellschüsse, und ich bin auch kein spezialisierter Anthropologe, aber wenn ich mir die Physiognomie des Schädels so ansehe, würde ich einfach mal behaupten, dass es sich hierbei um einen Asiaten handelt. Diese Aussage wage ich trotz des desolaten Zustandes. Wir werden das aber noch forensisch untersuchen. Die Zähne, ich meine vor allem die Art der zahnmedizinischen oder kieferorthopädischen Behandlung, kann unter Umständen weiterhelfen. Und mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit kann das auch ein DNA-Test untermauern.
Haben Sie noch Kundschaft auf den Tischen oder nehmen Sie ihn sich gleich vor?, erkundigte sich Sarah.
Sowie ich in der Rechtsmedizin bin, kommt er dran. Oder sie. Kann man ja im Moment noch nicht sagen.
Schwarz bedeutete Sarah und Thomas einen Schritt zur Seite zu machen, damit die Spurensicherer mit einem großen weißen Kunststoffbehälter vorbeikonnten, den sie in der Zwischenzeit aus ihrem Van geholt hatten. Der leitende Beamte wies seine Kollegen an, beim Einpacken noch einmal genauestens das Umfeld und den Bereich unter dem Koffer nach Spuren oder Fremdkörpern zu untersuchen.
Es ist noch früher Vormittag, wenn Sie sich heute mit dem Leichnam auseinandersetzen, bekommen wir dann morgen früh schon irgendwelche Ergebnisse?, fragte Thomas, während sie zusahen, wie der Koffer vorsichtig in den bereitstehenden Behälter gehoben wurde.
Die reinen anatomischen Untersuchungen habe ich dann abgeschlossen. Toxikologie, Pharmakologie, DNA und so weiter dauern halt wie üblich. Schwarz ließ seinen Blick noch einmal über die Fundstelle schweifen. Ich werde mich dann mal auf den Weg machen. Wünsche noch einen angenehmen Tag!
Wir hören morgen voneinander, verabschiedete sich Thomas, und wie er hob Sarah die Hand zum Gruß.
Während Schwarz hinter den beiden Spurensicherern, die den nun gut verschlossenen weißen Plastikbehälter zur Fahrstraße hinaufschleppten, hertrottete, wandten sich Sarah und Thomas den beiden verbliebenen Ermittlern zu, die den Boden unter dem Koffer, sowie die vom Wasser ausgewaschene Erde unterhalb der Fundstelle durch feine Siebe rieben. Doch nach einer Weile wurde klar, dass auch hier keinerlei Gegenstände wie etwa Bruchstücke des Grabwerkzeuges oder Zigarettenstummel zu finden waren. Nach etwa eineinhalb Stunden, in der Thomas und Sarah die nähere Umgebung noch einmal in Augenschein nahmen, brach der Leiter der Spurensicherung ab.
Hier gibt es nichts zu finden. Der Täter oder die Täter waren sehr vorsichtig und gründlich. Und das Wetter und die Zeit haben ein Übriges besorgt. Selbst wenn er hier irgendwo an einen Baum oder Strauch gepinkelt hat, ist davon jetzt nichts mehr nachweisbar. Von der Schwemmerde, mit der der Koffer ursprünglich zugedeckt war, habe ich mal Proben eingepackt, aber ich mache mir da keine Hoffnungen. Wie immer haben wir auch von allen Pflanzen in der Umgebung Proben genommen.
Letzteres war in den letzten Jahren der kriminaltechnischen Arbeit mittlerweile zur Routine geworden. Sollte zum Beispiel an Schuhen, Kleidung oder Fahrzeug eines Verdächtigen Reste von Pflanzen gefunden werden, war es möglich, über die Pflanzen-DNA eine Verbindung zum Fundort nachzuweisen.
Thomas nickte nachdenklich.
Gut, sagte er, uns ist auch nichts weiter aufgefallen. Schicken Sie uns diesmal bitte auch Zwischenergebnisse, ich will nicht auf den kompletten Bericht warten, bis wir mit unserer Arbeit beginnen. Er hob die Hand zur Verabschiedung, hinterließ ein an beide Kollegen gerichtetes, „dann bis zum nächsten Mal“, und machte sich unverzüglich auf den Weg nach oben.
Wie kommen Sie denn zurück? Soll ich Sie mitnehmen?, erkundigte sich Sarah, der eingefallen war, dass das Einsatzfahrzeug ja noch unterwegs zur Rechtsmedizin war.
Die Kollegen kommen wieder hierher, winkte der Leiter ab.
Wir müssen ja auch noch die ganze Ausrüstung verstauen.
Ok, dann danke schön und einen schönen Rest-Tag, verabschiedete sie sich und beeilte sich, hinter Thomas den steilen Weg zu ihren Fahrzeugen hinaufzuklettern.
Oben angekommen wartete Thomas bereits auf sie.
Sorry, ich wollte dich nicht einfach so stehen lassen..., begann er, doch sie winkte ab.
Kein Problem, sagte sie, lass uns ins Büro fahren und mal zusammentragen, was wir so haben.
Kapitel 2
Nahe Beirut, Spätsommer 1982
Der große Ball der Sonne, der den Tag über die staubigen, mit Abfällen übersäten Straßen mit fast unerträglicher Hitze durchdrungen hatte, begann langsam, eine rötliche Färbung anzunehmen. Er war zwar noch ein gutes Stück vom Horizont, entfernt, doch die schmutzerfüllte Luft konnte ihm schon jetzt ein wenig von seinem grellen Strahlen und seiner unerbittlichen Glut abringen. Immerhin war das Hitzeflimmern, das bis eben über den schäbigen Blechbaracken und provisorischen Lehmziegelverschlägen erkennbar gewesen war, schon fast nicht mehr auszumachen. Doch selbst wenn ein kleiner Luftzug den feinen Staub aufwirbelte und dadurch mit den Augen wahrnehmbar wurde, brachte er kein bisschen Kühlung. Zu warm war die Luft, zu warm war der hartgetretene Lehmboden, als dass ein solch sanfter Hauch spürbar zur Abkühlung hätte beitragen können. Trotzdem waren viele Menschen unterwegs. Im Freien, und wenn man ein Plätzchen im Schatten finden konnte, war es immer noch angenehmer als in den Schuppen und Verschlägen, die für die Menschen hier als Unterkunft dienten und den meisten Kindern das einzige Gefühl von Heimat und Geborgenheit boten. Die Kleinsten unter ihnen, die hier geboren wurden oder bei ihrer Ankunft zu jung waren, um sich zu erinnern, kannten nichts anderes. Für sie war das Leben hier an diesem Fleck normal und sie hatten sich leichter an die Umstände angepasst als jene, die aus ihrer Heimat vertrieben wurden oder aus Furcht vor Terror und Tod ihr Hab und Gut aufgegeben hatten, in der Hoffnung, hier ein besseres, vor allem sichereres Leben beginnen zu können. Doch diese Hoffnung war bei den Meisten von der brutalen Realität geradezu hinweggefegt worden; dieser Platz, einst nur als vorübergehende Station angesehen, wurde von vielen längst resigniert als Endstation akzeptiert.
Eine Gruppe von Kindern, in etwa zwischen acht und dreizehn Jahren alt, spielte auf einem freien Stück Land, wo noch keine Baracken errichtet worden waren, mit einem aus Plastiktüten, Folien und Klebebändern zusammengeschusterten Ball. Die Kinder hatten bei ihrem Spiel, das sie barfuß und mit schmutziger, eher Lumpen ähnelnder Kleidung mit lautem Geschrei und in wildem Getümmel vollführten, sichtlich Spaß. Ab und an brach eines der Kleineren, wenn es im rauen Geplänkel etwas zu ungestüm vom Ball getrennt oder zu Boden gestoßen wurde, in lautes Weinen aus. Doch nach wenigen Sekunden der Nichtbeachtung durch die anderen bemühte man sich, schnell wieder am Spielgeschehen teilzunehmen.
Eine Gruppe älterer Männer saß am Rand des provisorischen Spielfeldes und beobachtete amüsiert das Treiben. Ein dunkler, selbstfabrizierter Glimmstängel wanderte von Hand zu Hand. Mit rissigen Lippen sogen die Männer abwechselnd an dem unförmigen, notdürftig zusammengerollten Stück Tabak. Wenn sie ein Missgeschick beim Spiel der Kinder sahen, offenbarte ein breites Lachen so manche Lücke in den gelben, schief stehenden Zahnreihen der Männer. Wie die Kinder hatten auch sie trotz der Hitze an diesem Spätnachmittag ihre Freude. Sie diskutierten wild gestikulierend und laut, aber freundschaftlich, und klopften einander von Zeit zu Zeit auf die Schultern. Sie ließen sich auch von den Gerüchten, die seit einigen Tagen die Runde machten, nicht ihre Stimmung verderben. Die Zionisten sollen ihre Siedlung mittlerweile komplett eingeschlossen und abgeriegelt haben. Es soll unmöglich geworden sein, das Gebiet zu verlassen, schwer bewaffnet würde das Militär die Ausgänge kontrollieren.
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