Die Minenfeldtaktik: bist du sicher zu einem bestimmten Punkt gekommen, dann tritt auf dem Rückweg in deine eigenen Fußstapfen! Sarah nickte anerkennend. So viel Umsicht traf man trotz aller Ausbildung bei den Kollegen des Streifendienstes leider nicht immer an. Sie selbst würde warten bis die Spurensicherung da war und dann gemeinsam mit den Kollegen genau diesen Weg zum Fundort nehmen. Dann würde im direkten Umfeld nach Spuren gesucht, um den Weg zu finden, auf dem die Leiche dorthin gekommen war. Falls sie auf exakt diesem Wege zu der besagten Stelle geschafft worden war, würde natürlich ein Großteil der Spuren zerstört sein. Aber mit etwas Glück konnten sie auf ein paar auswertbare Beweise hoffen. Sie fischte in der Seitentasche ihres Jacketts nach ihrem Handy, um festzustellen, ob sie hier Empfang hatte. Ihr fiel ein, dass ja auch das Pärchen, das jetzt einigermaßen entspannt im Polizeiwagen zu sitzen schien, den Fund per Handy gemeldet haben musste. Auch sie hatte alle fünf Balken auf dem Display. Sie stellte den Signalton auf die höchste Lautstärke, steckte das Handy wieder ein und wandte sich an Kleine.
Rufen Sie doch bitte mal Ihren Kollegen an und sagen Sie ihm, dass ich schon hier bin, wir aber noch auf die Spurensicherung warten. Und fragen Sie ihn, ob er noch durchhält, sagte Sarah, denn über einen längeren Zeitraum mit einer Leiche allein zu sein, ganz gleich in welchen Zustand sie sich auch befinden mochte, konnte sehr zermürbend sein und schnell auf die Psyche schlagen.
Sarah drehte sich Richtung Polizeiwagen und überlegte, ob sie auf Thomas warten oder schon mit der Befragung beginnen sollte. Sie entschied sich für Letzteres, allein schon, um die beiden entlassen zu können, falls sie stabil genug waren und Dr. Schwarz nichts einzuwenden hatte. Viel würde ihrer Einschätzung nach ohnehin nicht zu erfragen sein.
Entschuldigen Sie, Frau Müller, Herr DaCelli? Geht es Ihnen besser? Meinen Sie, Sie können mir ein paar Fragen beantworten?
Mit etwas mehr Farbe im Gesicht als zuvor nickten ihr beide schüchtern zu.
Ok, als erstes, wie sind Sie überhaupt auf den Leichnam aufmerksam geworden?
Sarah brannte eine andere Frage viel mehr auf den Lippen, doch sie hatte entschieden, sie erst ganz zum Schluss zu stellen. Die junge Frau sah hilfesuchend zu dem Mann herüber, wollte zu sprechen ansetzen, ließ dann aber die Luft mit einem lauten Seufzer aus ihren Lungen entweichen. Sie schüttelte ganz leicht den Kopf und Sarah sah, dass ihr Tränen in die Augen traten. Sie war noch nicht soweit. Herr DaCelli legte seine Hand auf ihre Schulter und zog sie etwas zu sich heran. Er räusperte sich kurz und senkte den Blick, als er zu berichten anfing.
Dass... dass da ein toter Mensch ist, konnten wir ja gar nicht ahnen, geschweige denn sehen. Es war... da war dieser schwarze Koffer. Ich habe ihn auch nur zufällig gesehen. Wenn wir nur drei oder vier Meter weiter rechts oder links gewesen wären, wären wir sicher daran vorbei gegangen.
Er holte tief Luft und es schauderte ihn offensichtlich.
Es ist schon ziemlich viel Grün im Unterholz und er lag mitten zwischen irgendwelchem Gestrüpp. Aus ein paar Metern Entfernung war er noch nicht zu sehen, wir liefen quasi genau darauf zu, sonst hätten wir ihn verpasst.
Er hielt kurz inne und dachte nach. Sarah fragte sich, ob er sich in diesem Augenblick wohl wünschte, es wäre genauso gekommen, wie von ihm gerade beschrieben.
Dann sind wir hingegangen und haben ihn uns etwas näher angeschaut. Die Reißverschlüsse waren zu. Ich dachte, dass vielleicht jemand seinen Müll entsorgt hatte, das passiert ja leider öfter hier in den Wäldern.
Und so falsch hast du damit ja schließlich gar nicht gelegen, dachte Sarah.
Dann habe ich in der oberen Ecke den Reißverschluss aufgezogen, weil wir beide neugierig waren. Sabrina hat noch spöttisch etwas von Geldbündeln oder Goldbarren gesagt.
Die junge Frau begann nun zu zittern, weckte die Erzählung doch die Erinnerungen an die furchtbare Entdeckung, die sie dann gemacht hatten.
Dann habe ich die Folie gesehen, ich habe mir aber immer noch nichts dabei gedacht. Der Koffer ist ja auch nicht so riesig. Und gerochen habe ich da auch noch nichts. Ich habe das verschnürte Paket, obwohl es so schwer war, ein Stück aus dem Koffer herausziehen können. Dann habe ich mit dem Taschenmesser einen langen Schnitt gemacht und die Folie aufgerissen und dann...
Er kniff die Augen zusammen und Sarah sah, dass die Knöchel seiner Hand, mit der er die Hand der jungen Frau hielt, weiß hervortraten, so sehr verkrampfte er sich. Doch sie schien das gar nicht zu spüren.
Es... es... es war genau das Gesicht, das mir da entgegenkam, es... und dann war da auch ganz plötzlich dieser widerliche Gestank. Sabrina hat nur laut geschrien... und ich, ich konnte nicht loslassen und habe nur in dieses Gesicht gestarrt. Dann habe ich...
Er zitterte nun am ganzen Leib.
... dann habe ich... also ganz plötzlich konnte ich nicht mehr und musste kotzen. Sabrina hat die ganze Zeit nur geschrien!
Die junge Frau schluchzte nun hemmungslos an der Schulter des Mannes und schien zu keinem Satz fähig zu sein. Sarah gab den beiden schweigend einige Momente sich zu sammeln, dann bat sie Herrn DaCelli, seinen Bericht fortzusetzen.
Wir sind dann ganz schnell wieder zu unseren Mountainbikes gerannt und haben sofort die Polizei angerufen. Wir hatten beide schrecklich Angst und es dauerte furchtbar lange, bis Ihre Kollegen da waren.
Das konnte sich Sarah angesichts der Abgelegenheit des Fundortes und dem Zustand der Fahrstraße sehr gut vorstellen. Mit dem Streifenwagen mussten die uniformierten Kollegen schier geschlichen sein, um sich nicht die Frontspoiler wegzureißen oder einen Achsbruch zu riskieren. Sarah nickte.
Haben Sie außer den Reißverschlüssen und der Folie noch irgendetwas anderes angefasst oder bewegt, oder gar mitgenommen?
Beide sahen sich an, überlegten kurz, schüttelten dann aber den Kopf.
Haben Sie etwas am Fundort zurückgelassen? Ein Taschentuch vielleicht, nachdem Sie sich übergeben hatten? Oder das Messer, mit dem Sie die Folie angeschnitten hatten?
Wieder dachten sie einen Moment nach. Der Mann tastete an der Seitentasche seiner Hose, vermutlich nach seinem Taschenmesser. Nachdem er einige weitere Taschen durchwühlt hatte, schien er sich zu erinnern.
Ich fürchte, das Messer habe ich in der Schrecksekunde fallen lassen, sagte er schließlich.
Das Messer wird tatsächlich noch da rumliegen.
Sarah nickte.
Und sonst?
Nein, da dürfte sonst nichts von uns sein, antwortete er, nachdem er nochmals angestrengt nachdachte und auch die junge Frau mit dem Kopf geschüttelt hatte.
Ok, ich würde Sie noch um zwei Dinge bitten. Erstens, zu warten, bis die Spurensicherung da ist. Die Kollegen werden Ihnen beiden die Fingerabdrücke abnehmen. Haben Sie keine Sorge, das ist nur, weil Sie den Koffer und die Folie angefasst haben, und dient dazu, Ihre Abdrücke bei der späteren Untersuchung zuordnen und ausschließen zu können. Das Gleiche gilt für die Sohlen Ihrer Schuhe. Das Zweite ist, meinem Kollegen, den ich gleich zu Ihnen schicken werde, Ihre Personalien zu geben. Ich glaube aber nicht, dass wir Sie für die Ermittlungen noch einmal brauchen werden. Das Beste wird sein, die Kollegen bringen Sie und Ihre Fahrräder nach Hause.
Sarah wollte keinesfalls, dass sich die beiden nach diesem Albtraum mit ihren Fahrrädern in den Straßenverkehr wagten.
Eine Frage hätte ich da allerdings noch, sagte Sarah in genau der Art, in der es Columbo vor der Entlassung eines Zeugen zu tun pflegte.
Sie tat sich schwer, ein Schmunzeln zu verbergen, als sie sich dessen bewusst wurde.
Bitte verstehen Sie mich nicht falsch, aber was macht man an einem Dienstagmorgen in aller Früh an so einer abgelegenen Stelle mitten im Wald?
Mit Erleichterung bemerkte sie, dass ein leichtes Lächeln über das Gesicht von Sabrina Müller huschte. Offensichtlich war sie