Für ihn war es nun an der Zeit, nach Hause zu seiner Familie zu gehen. Er hatte seinem Vater versprochen, wenn es kühler wurde, ihm dabei zu helfen, mit ein paar Sperrholzbrettern eine Wand in den einen Raum, den sie zu fünft bewohnten, zu ziehen. Seine Mutter würde in Kürze ein weiteres Baby bekommen. Mit dem Sperrholz wollte sein Vater seiner Mutter und dem Neugeborenen ein bisschen Ruhe ermöglichen, wenn er und seine zwei kleineren Geschwister zu Hause waren. Er schätzte ab, ob es wirklich schon an der Zeit war, zu der sein Vater mit den Arbeiten beginnen würde und entschied, dass er noch ein wenig durch die Gassen schlendern konnte. Vielleicht erlebte er ja etwas Spannendes oder konnte etwas Brauchbares organisieren. Als er aufmerksam um sich blickend ziellos durch die Gegend lief, fiel ihm auf, dass nun immer häufiger Gewehrfeuer zu hören war. Auch vernahm er zunehmend deutlicher lautes Geschrei. Ob das panische Gekreische und die bittenden, klagenden Rufe von Männern, Frauen oder Kindern kamen, konnte er nicht immer genau sagen. Manchmal waren die Stimmen fast unwirklich und verzerrt, so dass es ihm vorkam, sie wären nicht menschlicher Natur.
Der Lärm kam aus der Richtung, wo er mit seinen Freunden mit dem selbstgebastelten Ball gespielt hatte. So wie es klang, musste sich dort irgendetwas Furchtbares abspielen. Er beschloss, zurückzugehen und in Erfahrung zu bringen, was vor sich ging.
Je näher er dem Platz kam, desto mehr Menschen kamen ihm in Panik entgegengerannt, manche blutüberströmt. Jüngere stützten Alte oder Verletzte, alle blickten immer wieder angsterfüllt hinter sich. Einige versuchten, den kleinen Jungen zum Umdrehen zu bewegen, ihn mitzuzerren, doch in dem Tumult konnte er nicht verstehen, was ihm die Leute zu sagen versuchten. Also drängte er sich in eine enge Seitengasse, um nicht gegen den Strom der Menschen ankämpfen zu müssen und lief angsterfüllt weiter um nachzusehen, wie es seinen Freunden ging.
Auf dem letzten Wegstück, das er geduckt und von einem Versteck zum nächsten hetzend zurücklegte, waren die Gewehrsalven ungeheuer laut geworden, und das Geschrei hatte auch noch zugenommen. Er kam zu dem letzten Verschlag vor dem Spielplatz, etwas größer als die üblichen Hütten auf dieser Straße.
Vorsichtig lugte er um die Wellblechwand, um einen Blick auf den Spielplatz werfen zu können. Instinktiv ruckte er ein Stückchen zurück, die Augen vor Entsetzen weit aufgerissen. Es dauerte einen Moment bis er realisierte, was dort vor sich ging. Eine Anzahl von Männern, die mit automatischen Gewehren ausgestattet waren, feuerte wahllos in die Menge. Menschen stürzten zu Boden, wurden überrannt, auf den Körper getreten. Frauen versuchten weinend, ihre Kinder mit dem eigenen Körper zu schützen, einige Männer versuchten mutig, den Angreifern näherzukommen um ihnen eine Waffe zu entreißen. Einer nach dem anderen fiel mit blutenden Wunden in Brust oder Kopf zu Boden.
Am ganzen Körper zitternd versuchte der kleine Junge, seine Freunde auszumachen. Am anderen Ende des Spielplatzes sah er die Gruppe von Kindern, die weinend den Versuch unternahmen, über den Maschendrahtzaun zu fliehen. Die Männer, die sie beim Spielen beobachtet hatten, halfen ihnen dabei, das Hindernis zu überwinden. Doch dann wurde dem kleinen Jungen gewahr, dass einige der Schützen den Fluchtversuch bemerkten und in Richtung der Kinder gingen. Die alten Männer stellten sich schützend vor die Kinder, doch die Angreifer zögerten keinen Moment und streckten sie mit mehreren Feuerstößen nieder. Dann begannen sie auf die kletternden Kinder zu schießen, und eines nach dem anderen fiel getroffen von dem Zaun.
Als einem der Schützen die Munition ausgegangen war, fing er an, mit dem Gewehrkolben auf die Köpfe der Kinder einzuschlagen und der kleine Junge konnte mit vor Entsetzen geweiteten Augen erkennen, wie das Blut aus den kleinen Körpern spritzte, und die Männer, wenn ein Kind zu Boden gefallen war, mit den Füßen nach ihnen traten und auf den Körpern herumzuspringen.
Plötzlich nahm er ein hohes Surren wahr, das rasend schnell an seinem Kopf vorbeizischte und einige Meter hinter ihm mit einem lauten, blechernen Geräusch an einer Hütte verstummte. Erst danach durchzuckte ein stechender Schmerz seine linke Hand, wo der Querschläger auf seinem Handrücken eine Streifwunde verursacht hatte. Er beachtete den Schmerz nicht weiter. Kaum einer Bewegung fähig kroch er zwischen eine Ansammlung von Plastikkanistern, ertastete eine schwere, undurchsichtige Plane, zog sie langsam über sich und begann in seinem Versteck leise vor sich hin zu wimmern.
Die Luft hatte schon merklich abgekühlt und es hatte sich bereits die Dämmerung über sein Versteck gelegt, als der kleine Junge es endlich wagte, einen Blick nach draußen zu werfen. Er schob die Folien, die ihn die letzten Stunden vor Entdeckung geschützt und ihm ein schwaches Gefühl von Sicherheit vermittelt hatten, vorsichtig ein wenig beiseite und versuchte zu erkennen, was sich um ihn herum befand. Der Krawall, die Schreie und Schüsse, die ihn veranlasst hatten, in seinem Versteck mit beiden Händen die Ohren zuzuhalten und die Augen fest zuzukneifen, hatten sich langsam immer weiter entfernt. Er konnte hören, dass der Schrecken immer noch im Gange war, aber die Horde von Männern, die seine Freunde am Nachmittag getötet hatte, schien ihr Unwesen nun etliche Straßenzüge weiter zu treiben. Er horchte angespannt. Der Lärm war weit genug fort, er konnte es wagen, den ganzen Kopf hinauszustrecken, um sich ein besseres Bild machen zu können. Seine Augen hatten genug Zeit gehabt, sich an die Dunkelheit zu gewöhnen, also konnte er schnell die schemenhaften Umrisse der Baracken um ihn herum erkennen. Es war kein Mensch zu sehen, zumindest ging niemand den staubigen Weg entlang, der an seinem Unterschlupf vorbeiführte. Er konnte auch keine Stimmen hören, eine seltsame Stille umgab ihn, wo doch normalerweise gerade um diese Zeit Kindergeschrei, lautes Diskutieren unter Männern und herzhaftes Lachen von den Frauen zu hören war. Der Junge spürte, dass er hier an diesem Fleck im Moment alleine war. Er schlug die Folien mit einem Ruck zurück und stand langsam auf. Die Wunde an seiner Hand tat ihm weh, aber sie hatte aufgehört zu bluten. Vorsichtig begann er sich umzusehen. Ein paar Meter von ihm lag etwas, das aussah, wie ein Haufen hellen Stoffes, der zusammengeknüllt am Wegrand lag. Doch der kleine Junge musste nicht erst sehen, dass das Tuch an etlichen Stellen von Blut getränkt und zerfetzt war, um zu wissen, dass es sich hierbei um einen toten Menschen handelte. Er konnte um sich herum noch einige andere Leichen erkennen, ging aber zu keiner hin, um sie sich genau anzusehen. Dann durchfuhr es ihn wie ein Stich mit einem Messer! Seine Familie! Sein Vater! Seine Mutter, die ihm bald ein weiteres Geschwisterchen bringen sollte! Seine zwei kleinen Brüder, auf die aufzupassen er seinen Eltern immer versprochen hatte, wenn er sie zum Spielen mitgenommen hatte. Plötzlich von unbändiger Panik und Furcht erfasst, versuchte er sich vorzustellen, in welcher Richtung von hier aus sein Heim lag. Mehrmals drehte er sich um sich selbst, versuchte sich zu erinnern, auf welchem Weg er hierhergekommen war. Nachdem er sich erinnert hatte, wie er gelaufen war, als ihm die Menschen angsterfüllt entgegengekommen waren, hatte er seine Orientierung wieder gefunden.
Angestrengt lauschte er auf den Tumult, den er immer noch gut wahrnehmen konnte, und versuchte auch, ihm eine grobe Richtung zu geben. Waren die Männer schon in seinem Viertel gewesen? Konnte er seine Familie noch warnen oder mit seinem Vater zusammen etwas gegen die Männer unternehmen? Er stellte sich so, wie er glaubte, um in die Richtung seiner Hütte zu blicken, schloss die Augen und horchte auf das Geschrei und die Schüsse. Der Lärm schien von rechts zu kommen und der Junge meinte zu erkennen, dass er sich weiter entfernte.
Vielleicht waren sie noch nicht dort!, dachte er hoffnungsvoll! Vielleicht haben sie einen anderen Weg genommen oder