Philosophenkönig – eine Einführung. Martin Arnold Gallee. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Martin Arnold Gallee
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783844232523
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beimisst, dass er die in ihr vorhandenen Bereichsgrenzen zum Anlass nehmen würde, auch den intellektuellen Zugriff auf sie im Sinne der Angemessenheit in mehrere Disziplinen zu unterteilen. Für Platon gibt es nur eine Einheitswissenschaft, deren Aufteilung in einen theoretischen und einen praktischen Teil bzw. noch weitergehende Differenzierungen finden sich erst bei Aristoteles.

      Kapitel 4

      Aristoteles (384 – 322 v. Chr.)

      Die Frage, mit der sich das nun folgende Kapitel beschäftigt, ist identisch mit der Frage, die sich die Menschen in Athen 347 v. Chr. stellten: Was kommt nach Platon, oder besser: Was kann überhaupt noch nach Platon kommen, das eine originelle und eigenständige Philosophie darstellt und nicht etwa einfach das Denken des Meisters wiederholt? – Dabei fällt die aus heutiger Sicht zu gebende Antwort auf diese Frage deutlich anders aus als damals in Athen. Denn wen auch immer man dort als fähig ansah, in die großen Fußstapfen Platons zu treten (etwa, indem man ihn zu seinem Nachfolger als Leiter der von ihm gegründeten Akademie bestimmte) – es war jedenfalls nicht Aristoteles. Die bloße Tatsache, dass Aristoteles aus Stagira im Nordosten Griechenlands stammt und daher in Athen Zeit seines Lebens ein Ausländer ohne Bürgerrechte bleibt, hat ihn dort im Allgemeinen und an der Akademie im Besonderen zum Außenseiter gemacht. Eine direkte Konsequenz dieser Tatsache ist, dass sich um die nachgelassenen Schriften Aristoteles´ bei seinem Tod weit weniger Menschen kümmerten, als das bei Platon der Fall gewesen war. Was uns von Aristoteles erhalten geblieben ist, umfasst daher wohl nur noch etwa ein Viertel dessen, was er insgesamt geschrieben hat. Und das ist nur der quantitative Aspekt[1]!.

      Darüber hinaus schreibt Aristoteles – modern gesprochen – für zwei unterschiedliche Zielgruppen: seine Schüler und Kollegen an der von ihm selbst gegründeten Schule[2]! sowie das außerakademische Publikum[3]!. An die erstgenannte Gruppe richten sich dabei die sogenannten esoterischen Schriften[4]!, für die zweite Gruppe waren dagegen die exoterischen Schriften bestimmt[5]!. Sowohl der Inhalt als auch der Stil beider Arten von Werken sind grundverschieden. Die exoterischen Schriften sind wesentlich zugänglicher und zum Teil sogar in Dialogform gefasst. Sie behandeln die Themen, mit denen sich Menschen allgemein beschäftigen (die Gerechtigkeit, das Gute etc.), sie sind aber auch klar auf ein Publikum gemünzt, das erst noch von der Philosophie überzeugt werden muss. Von dieser Gruppe der Aristotelischen Werke ist so gut wie nichts erhalten geblieben; bereits in der Spätantike musste man die exoterischen Schriften aus dem rekonstruieren, was andere Autoren davon in ihre Werke übernommen haben, und sich dabei auf deren Glaubwürdigkeit verlassen. – Nicht viel besser sieht es mit den esoterischen Schriften aus. Von diesen sind zwar auch die meisten verloren gegangen, wohl vor allem die Schüler und Kollegen von Aristoteles haben aber immerhin einige davon erhalten[6]!.

      Leider ist das nicht alles, was sie mit diesen Schriften gemacht haben. Denn da es sich dabei nicht um philosophische Texte im eigentlichen Sinn, sondern vielmehr um für den Lehrbetrieb gedachte Skripte handelte, wurden diese nicht nur von Aristoteles selbst, sondern auch von seinen Schülern redigiert und umgeschrieben. In jedem Fall zeichnen sich die esoterischen Schriften (die auch Pragmatien genannt werden) durch einen wesentlich akademischeren Stil aus als die für ein breiteres Publikum gedachten Werke. Sie setzen nicht nur wesentlich mehr an Kenntnissen voraus, sondern sind auch oft sehr dicht formuliert, was das Verständnis nicht eben erleichtert. Auch der Bezug zur Praxis, der in Platons Dialogen immer wieder im Vordergrund steht und dort die Argumentation nachvollziehen hilft, fehlt – ausgerechnet – in Aristoteles´ Pragmatien oft ganz.

      Was uns in Form des Corpus Aristotelicum (des Aristotelischen Werks) gegenübertritt, ist also ein in mehrfacher Hinsicht verkürzter Eindruck von einer Philosophie, von der sich nichtsdestoweniger sagen lässt, dass sie das europäische Denken bis zum Beginn der Neuzeit beherrscht hat wie außer ihr nur die Werke Platons[7]!. In verschiedensten Bereichen berufen sich noch heute Philosophen auf Aristotelische Argumente, und wo seine Ansichten als überholt gelten (etwa in der Naturphilosophie), da hatten sie schon eine Jahrtausende währende und erfolgreiche Überzeugungsgeschichte hinter sich, die ihren modernen Nachfolgern mit einiger Wahrscheinlichkeit nicht vergönnt sein wird.

      Zu der bedauerlichen Überlieferungslage der Aristotelischen Werke gehört auch, dass wir keine Kenntnisse darüber besitzen, ob und wie der Autor seine Schriften zu einem Gesamtwerk zusammengefügt sehen wollte, eine entsprechende Systematik liegt nicht vor. Als weitaus problematischer hat sich allerdings herausgestellt, dass sich Andere berufen gefühlt haben, diese Aufgabe an Aristoteles´ Stelle zu übernehmen – ein Aspekt, hinter dem sich mehr philosophische Brisanz verbirgt, als man auf den ersten Blick meinen könnte.

      Andronikos von Rhodos (1. Jahrhundert v. Chr.), der erste Herausgeber des Corpus Aristotelicum, brachte die einzelnen Schriften in eine Ordnung, die für lange Zeit den Blick auf das Werk des philosophus prägen sollte. Dass er eines von dessen Büchern deshalb Metaphysik nannte, weil in seiner Systematik direkt davor die Physik kam[8]!, ist dabei noch ein recht harmloser Aspekt, denn immerhin geht es im 12. Buch (das entspricht in etwa unserer Einteilung in Kapitel) der Metaphysik tatsächlich um das Erkennen dessen, was sich jenseits (meta) des Sinnlichen, und damit physisch Gegebenen (physika) befindet. – Wesentlich schwerer wiegt im Rahmen der Anordnung der Aristotelischen Werke, dass noch vor der Physik[9]! eine Gruppe von sechs Abhandlungen gebildet wird, die sich angeblich als logische bzw. methodologische Vorübungen verstehen und den Titel Organon, also Werkzeug, bekommen haben.

      Ganz abgesehen davon, dass es sehr fraglich ist, ob Aristoteles hier überhaupt eine einheitliche Gruppe von Schriften vor Augen hatte (nur zwei verweisen aufeinander), besteht das eigentliche Problem der Betitelung als Organon darin, dass der Eindruck entsteht, der Autor der betroffenen Werke würde unter Logik oder Methodologie etwas der Welt Enthobenes verstehen, das auf diese angewandt wird. Obwohl diese Meinung erstaunlich lange gewirkt hat (es gibt sogar Logik-Lehrbücher aus dem 20. Jahrhundert, die auf dieser Meinung über Aristoteles aufbauen), könnte nichts dem Aristotelischen Denken ferner liegen und seinem Verständnis abträglicher sein.

      Denn Aristoteles steht – genau so wie Sokrates und Platon – fest auf dem Boden des ontologischen Paradigmas. Das bedeutet, dass die Welt und ihre Wahrheit für ihn der letzte Bezugspunkt allen menschlichen Tuns ist. Natürlich nimmt Aristoteles wie seine Vorgänger das Denken und die Sprache zur Kenntnis, und wie sie macht er sie auch ganz explizit zum Thema. Das bedeutet jedoch nicht, dass ihnen dieselbe Bedeutung zukäme wie der Welt bzw. dem Sein. Denken und Sprache haben im ontologischen Paradigma nur eine mediale Bedeutung[10]!; das heißt, sie haben über die Welt, so wie sie ist, zu informieren, und sie haben nur Sinn, solange sie diese Funktion erfüllen[11]!. Es handelt sich bei ihnen nicht um eigenständige Sphären, sie stehen zur Welt also im selben Verhältnis wie früher das Geld zum Gold, durch das es immer vollständig gedeckt sein musste.

      Das ist somit der philosophische Hintergrund, vor dem sich das Grundlagendenken von Aristoteles entfaltet, und der auf jeden Fall berücksichtigt werden muss, wenn man die Argumentationsstruktur seiner Werke verstehen will.

      Es liegt angesichts solcher Probleme bei der Systematisierung der Aristotelischen Werke von fremder Hand nahe, sich zunächst einmal anzusehen, was der Philosoph selbst über die Einteilung der Wissenschaften zu sagen hat, um diese Aussagen dann so weit wie möglich auf seine eigenen Schriften zurück zu beziehen. Dabei gehört für ihn die Philosophie ohne Zweifel zu den Wissenschaften (eigentlich ist es sogar genau umgekehrt: Die Wissenschaften gehören noch zur Philosophie), was auch mit seinem Kriterium für Wissenschaftlichkeit zu tun hat: Wissenschaften beschäftigen sich für Aristoteles nur mit allgemeinen Dingen, eine Wissenschaft vom Einzelnen gibt es nicht[12]!. Auf die Gründe dafür werden wir noch zu sprechen kommen.

      Die oberste Einteilungsebene der Wissenschaften nach Aristoteles geht direkt zurück auf das Thema des menschlichen Weltverhältnisses. Dabei übernimmt Aristoteles von Parmenides und Platon