Philosophenkönig – eine Einführung. Martin Arnold Gallee. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Martin Arnold Gallee
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783844232523
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den Bezug der Ideen zu den Menschen betreffen. In diesem Zusammenhang war oben die Rolle der Sonne noch offen geblieben, die den aus der Höhle befreiten Menschen zwar zunächst blendet, dann aber durch ihr Licht das Sehen der Gegenstände außerhalb der Höhle ermöglicht. Man könnte zunächst versucht sein, die Sonne als die Ideen allgemein zu verstehen und die Dinge, die sie bescheint, als die Gegenstände der Alltagswelt. Das läge zwar nahe, ist aber im Höhlengleichnis nicht gemeint. Vielmehr bedeutet der Aufstieg aus der Höhle bereits den Abschied von der täuschenden Welt der Sinne, der Bereich außerhalb der Höhle steht insgesamt für die Sphäre der Ideen bzw. des Denkens. – Was bedeuten dann aber die Sonne und die von ihr beleuchteten Gegenstände?

      Nun, der aus der Höhle kommende Mensch hat es eigentlich nicht direkt mit der Sonne zu tun, er hat schließlich genug damit zu kämpfen, dass ihr Licht, das die Gegenstände reflektieren, ihn blendet. Dass dabei unzählige Gegenstände von einer einzigen Sonne beleuchtet werden, deutet bereits an, dass es für Platon auch innerhalb der Ideenwelt eine Struktur bzw. sogar eine Hierarchie gibt. Im Szenario des Höhlengleichnisses ist diese allerdings simpel gestrickt: Es gibt viele gewöhnliche Ideen und es gibt die eine, die höchste Idee – die Idee des Guten. Und eben nur diese Idee wird durch die Sonne dargestellt. Dabei steht die Idee des Guten durchaus in einem ähnlichen Verhältnis zu den anderen Ideen wie diese zu den Gegenständen des Alltags. Das heißt, so, wie die gewöhnlichen Dinge durch die Ideen zu dem werden, was und wie sie sind, lässt sich die Idee des Guten als Ursache der gewöhnlichen Ideen verstehen. Und während sich diese mit der Idee des Guten in einem System der Teilhabe befinden, also genau so mit ihr verknüpft sind wie die Nicht‐Ideen mit ihnen, existiert die Idee des Guten aus sich heraus und ist nicht von anderen Ideen abhängig – sie ist vielmehr „Grund und Anfang des Ganzen”[56]!.

      Diese ideen-interne Struktur hat auch Auswirkungen auf das Verhältnis des Menschen zu den Ideen. Denn so wie die Sonne im Gleichnis dem aus der Höhle Entkommenen das Sehen der von ihr beleuchteten Gegenstände ermöglicht, ist der Mensch erst durch die Idee des Guten in der Lage, gedanklich auf die gewöhnlichen Ideen zuzugreifen. In diesem Zusammenhang ist bei Platon allerdings nicht von einem Lernprozess üblicher Art die Rede, vielmehr geht er davon aus, dass die menschliche Seele, bevor sie in den Körper gesperrt wurde, die Ideen bereits ‚geschaut’ hat und sich daran erinnert. Die Idee des Guten ermöglicht dem Menschen also die Wiedererinnerung (anamnesis) an die gewöhnlichen Ideen – darin besteht die Aussage des Son­nen­gleich­nis­ses[57]!.

      Vor diesem Hintergrund der Klärung der inner‐idealen Verhältnisse kann nun auch das oben begonnene Liniengleichnis weiter präzisiert werden. – Dort war ja der menschliche Weltbezug auf der obersten Einteilungsebene der Linie in eine sinnliche und eine denkende Relation segmentiert worden. (Im Übrigen kann es in diesem Zusammenhang im Anschluss an das zu Parmenides Gesagte nicht überraschen, dass Platon den ersten Teil auch mit dem bloßen Meinen, der doxa, in Verbindung bringt, den zweiten Teil hingegen mit dem Wissen, der episteme.) Auf einer zweiten Ebene unterteilt Platon nun zunächst den Bereich der Sinnlichkeit weiter in ein Segment, das Spiegelbildern, Schatten und ähnlichen Täuschungen entspricht, wie sie die Gefangenen im Höhlengleichnis vor sich an der Wand sehen (A), sowie einen zweiten Teil, der mit den sinnlich wahrnehmbaren Dingen korrespondiert, etwa solchen, wie sie in der Höhle hinter der Wand entlang getragen werden (B). – Der Bereich des Denkens zerfällt hingegen in einen Teil, der die mathematischen Gegenände betrifft (C), sowie schließlich die Ideen (D). – Obwohl sich diese Darstellung auch buchstäblich linear verstehen lässt, nämlich als Steigerung von der Täuschung (A) zum Wissen (D), arbeitet Platon den philosophischen Gehalt des Liniengleichnisses auf der Basis einer der wichtigsten mathematischen Methoden seiner Zeit heraus: der Analogie. Demnach verhält sich A zu B genau so wie C zu D. Das bedeutet, die mathematischen Gegenstände sind für Platon in genau dem Sinn Schatten der Ideen, wie es die Schatten in der Höhle im Vergleich zu den Gegenständen hinter der Mauer sind. – Und das Verhältnis von B zu D, also der sinnlich wahrnehmbaren Dinge zu den Ideen, wiederholt sich mit der Relation zwischen den gewöhnlichen Ideen und der Idee des Guten.

      Es ist nun alles andere als ein Zufall, dass die höchste aller Ideen für Platon nicht etwa in der Idee des Seins oder einer anderen deskriptiven, also beschreibenden Kategorie besteht, sondern in einer normativen, vorschreibenden – eben der des Guten. Denn der Philosoph Platon versteht sein Denken vor allem als Orientierungshilfe in einer Welt, der seiner Ansicht nach der Verfall droht. Wie sein Lehrer Sokrates hat auch Platon also ein praktisches Anliegen, allerdings in einem wesentlich größeren Umfang[58]!. Er sieht die Ideen (deren Bereich er ja im Unterschied zu Sokrates universalisiert) als eine bzw. die einzige Möglichkeit, der Welt und den in ihr handelnden Menschen Halt zu geben und die Chance zu bieten, sich an einem verbindlichen Maßstab auszurichten.

      Zu all den bereits von Platon ins Spiel gebrachten Antworten auf die Frage nach dem Verhältnis von Ideen und gewöhnlichen Gegenständen kommt folglich noch eine letzte hinzu: Die Ideen üben eine normierende Kraft gegenüber der Welt aus.

      Platon diskutiert seine Gedanken zu den Ideen daher nicht nur in eher theoretischen Bereichen wie der Wissenschaft, sondern sehr oft auch im Feld des Praktischen, etwa der Moral oder der Politik. An der bereits oben aus dem Phaidon zitierten Stelle wird dieser Übergang deutlich, wenn Platon bemerkt, seine Untersuchung drehe sich nicht nur „um das Gleiche, sondern ebenso um das Schöne an sich und um das Gute an sich und um das Gerechte und um das Fromme”[59].

      Deskriptiv verstanden helfen uns die Ideen also, die Dinge der Alltagswelt überhaupt zu identifizieren, zu verstehen (hier kommt auch erneut die Kausalrelation ins Spiel) und im Fall der Wissenschaften ihren Status zu klären. Darüber hinaus liefert uns die Lehre von der anamnesis, also der Widererinnerung, eine Erklärung für unser Wissen. In normativer Hinsicht bieten die Ideen dagegen eine Orientierungshilfe für das menschliche Leben – und das ist bei Platon sowohl individuell, auf den einzelnen Menschen, als auch auf die Gemeinschaft der Polis bezogen, also kollektiv gemeint.

      Die Versuche Platons, die Orientierung aller Vorgänge in der Welt (die menschlichen Handlungen eingeschlossen) an den Ideen sicherzustellen, münden bei ihm schließlich in dem Vorschlag, selbst die staatlichen Strukturen an diesem Ziel auszurichten. Das Ergebnis seiner diesbezüglichen Überlegungen fasst Platon in der Politeia zu einer der einflussreichsten politischen Theorien der Philosophiegeschichte zusammen. Obwohl in der Politeia die Gerechtigkeit die thematische Oberfläche besetzt, ist es nichtsdestotrotz der staatlich garantierte Einfluss der Ideen auf das menschliche Leben, der Platons Argumentationsziel ausmacht. Die Gerechtigkeit fungiert dabei als Beurteilungskriterium und Indikator bezüglich bestimmter staatlicher Ordnungen.

      Wie sehr der Platonische Idealstaat tatsächlich an diesem praktischen Ziel der Garantie der Orientierung menschlichen Handelns an den Ideen (und nicht etwa an abstrakten Vorstellungen zum Gerechtigkeitsbegriff) ausgerichtet ist, zeigt sich auch daran, dass seine Struktur anthropomorph, also dem Menschen nachgebildet ist[60]!. Wie der Mensch besitzt der Staat drei Teile, dabei entsprechen die menschlichen Seelenteile (Vernunft, Emotion und Begehren) den drei Ständen im Staat (Herrscher, Krieger und Händler). Bezogen auf den einzelnen Menschen und den Staat sind diesen drei Teilen dabei die Tugenden der Weisheit, der Tapferkeit und der Besonnenheit zugeordnet.

      Der Staat ist nach Platon dann gerecht bzw. der Mensch glücklich, wenn jeder der drei Teile das macht, was ihm naturgemäß zukommt. Wie insbesondere die neuzeitlichen Interpreten Platons (etwa Karl Raimund Popper in seiner Offenen Gesellschaft) kritisch angemerkt haben, ist damit allerdings soziale Mobilität im Sinne eines Aufgabenwechsels ausgeschlossen. Jeder Mensch gehört nach Platon in eine der drei Gruppen wie in eine Kaste, bereits die (staatlich gelenkte) Erziehung soll auf die frühzeitige Entwicklung der entsprechenden Fähigkeiten hinwirken. Ohne jede Frage sind die von Platon in diesen und anderen Zusammenhängen vorgeschlagenen sehr weit reichenden Machtbefugnisse des Staates mit dem Demokratieverständnis der heutigen Welt nicht zu vereinbaren[61]!.

      Platons eigentliches Anliegen im Staat, also die Garantie des Einflusses der Ideen auf die Welt, ist nun für ihn dadurch realisiert, dass der Platz der Herrschenden denjenigen vorbehalten ist, die mit den Ideen