Die Macht im Staat muss also, kurz gesagt, an die Philosophenkönige gehen, weil nur sie den Einfluss der Ideen auf die Welt garantieren können.
So sehr Platon für den Wunsch nach weisen Herrschern angesichts der tatsächlichen Zustände gelobt und/oder als naiv belächelt worden ist – seine eigenen Versuche, seine Staatstheorie in die Praxis umzusetzen, endeten enttäuschend. Mehrfach reiste er nach Syrakus auf Sizilien, um sich mit den dortigen Machthabern Dionysos I. (388 v. Chr.) und dessen Sohn Dionysos II. (366 v. Chr.) über grundlegende politische Reformen im Sinne des Philosophen auseinander zu setzen. Allerdings erwiesen sich beide als dermaßen unbelehrbar, dass Platon frustriert wieder abreiste.
Nicht zuletzt unter dem Eindruck dieser gescheiterten Umsetzungsversuche unterzog Platon seine politische Philosophie einer gründlichen Überarbeitung und fasste sie in den etwa drei Jahre vor seinem Tod geschriebenen Nomoi zusammen. Der Titel besagt im Deutschen ‚Gesetze’ – und damit ist das Programm dieser Staatsphilosophie auch bereits im Kern charakterisiert. Abgesehen davon, dass die Nomoi wesentlich weniger radikal in ihren Forderungen hinsichtlich der staatlichen Strukturen sind, ist die Figur des Philosophenkönigs durch eine Gesetzesherrschaft ersetzt. Das kommt nun zwar unserem modernen Verständnis von Rechtsstaatlichkeit bereits wesentlich näher, ist in der Folge aber vor allem aus philosophischer Sicht von Aristoteles bis Wittgenstein immer wieder kritisiert worden, insofern – so etwa Letzterer – keine Regel ihre eigene Anwendung regeln könne und eine solche nur auf Gesetze begrenzte Herrschaft nicht funktionsfähig wäre. Abgesehen davon, dass die Autorschaft Platons nicht ganz geklärt ist[63]!, hat er sich mit der Kritik an den Nomoi altersbedingt nicht mehr auseinandersetzen können.
Auch in einer weiteren wichtigen Angelegenheit hat Platon seine Ansichten innerhalb seines Alterswerks grundlegend revidiert. So werden sowohl im Sophistes als auch im Timaios die Ideen nicht mehr explizit den sinnlich wahrnehmbaren Gegenständen der Welt gegenübergestellt! Das heißt, dass man – wenn man diese beiden Dialoge in das von Platons Philosophie gezeichnete Bild einfließen lässt[64]! – die bis heute geläufige Abgrenzung von Ideen und sinnlich wahrnehmbaren Dingen nicht ohne Weiteres ihm zuschreiben kann. Genau aus diesem Grund war im Rahmen dieses Kapitels immer nur von einer Entgegensetzung der Ideen zu Dingen, die keine Ideen sind, die Rede, nicht aber von einem Gegensatz ‚Idee – Sinnliches’[65]!.
Nicht zuletzt aufgrund der überragenden Bedeutung der Politeia hat sich die Variante des Platonischen Ideendenkens etabliert, die eine Entgegensetzung der Ideen zu den sinnlich wahrnehmbaren Dingen beinhaltet, denn dort werden die Ideen tatsächlich als nicht-sinnlich bezeichnet. Das ändert aber nichts daran, dass zum Gesamtbild Platons als Philosoph auch seine späteren, sicherlich nicht zuletzt als Reaktion auf die Kritik an seiner Argumentation vorgetragenen Ausführungen gehören – und die zeigen eben in eine ganz andere Richtung als die im Platonismus angenommene.
Eine Konstellation, in der die Ideen möglicherweise selbst sinnlich wahrnehmbar sind, aber deshalb ja noch nicht ihre Funktionen verlieren, rückt Platon nun unvermittelt in die Nähe eines Denkers, den man erstens nicht in einer Einführung in die Philosophie und zweitens schon gar nicht in diesem Kapitel vermutet hätte: Johann Wolfgang Goethe (1749‐1832).
Wenig bekannt ist, dass der Autor solcher Klassiker wie dem Faust oder dem Werther seine bedeutendste Leistung in einem ganz anderen Bereich sah: der Naturforschung. In Johann Peter Eckermanns Gesprächen mit Goethe betont der Meister noch drei Jahre vor seinem Tod, dass die 1810 veröffentlichte Farbenlehre, die Goethes Methodologie der Naturforschung enthält, im Vergleich mit allen seinen poetischen Werken seine wichtigste Veröffentlichung darstelle[66]!. Uns interessiert hier aber weder diese von Goethe geäußerte Selbsteinschätzung, noch die Tatsache, dass seine Farbenlehre von der Physik bis heute weitgehend ignoriert wird. Was dagegen im Zusammenhang mit Platon relevant ist, ist die Art Goethes, Naturforschung zu betreiben und die dabei zum Einsatz gebrachten Methoden.
Das Programm von Goethes Naturforschung lässt sich kurz so zusammenfassen: „Man suche nur nichts hinter den Phänomenen: sie selbst sind die Lehre”[67]. Das heißt, dass der Versuch, die Phänomene der Natur zu erklären, selbst nur wiederum auf sinnlich Wahrnehmbares zurückgreifen darf – und nicht etwa auf abstrakte und unanschauliche mathematische Modelle. In diesem Sinne, so Goethe, „ruhen meine Naturstudien auf der reinen Basis des Erlebten”[68]. Die für ihn einzig akzeptable Methode besteht daher darin, einen „Zusammenhang der Erscheinungen”[69] herzustellen, und im Rahmen einer solchen Konstellation Vorgänge zu erklären. Diese werden letztlich auf ein bestimmtes und für sie verantwortliches Phänomen zurückgeführt, das ihren historischen Ursprung darstellt: das Urphänomen.
Angesichts des zuletzt zu Platon Gesagten kann es nun nicht verwundern, dass in der Philosophie zumindest die These diskutiert wird, dass es sich bei den Ideen, die ja im Spätwerk Platons in die Nähe von sinnlich Wahrnehmbarem gerückt werden, und den Urphänomenen Goethes um enge Verwandte handelt. Die Ansicht, „dass Platons Ideen und Goethes Urphänomen nur verschiedene Ausdrücke für dieselbe Sache sind”[70], ist zwar bis heute eine Minderheitsmeinung geblieben, wer aber ein wirklich umfassendes Bild der Philosophie Platons erhalten möchte, sollte sich auch solchen Überlegungen zumindest nicht prinzipiell verschließen – akzeptiert sind sie damit ja noch nicht. Interessant ist jedenfalls, dass Goethe selbst die Parallele zu Platon zieht: „Meine Farbenlehre ist auch nicht durchaus neu. Platon [hat] vor mir dasselbige gefunden und gesagt”[71].
Gerade der erst in Platons späten Dialogen vollzogene Statuswandel der Ideen macht aber abschließend auch noch einmal deutlich, wie wichtig es im Sinne authentischer Darstellung und intellektueller Redlichkeit ist, der Versuchung zu widerstehen, Platons Denken als glatte, widerspruchslose Einheit zu präsentieren. Dieser immer leicht zu nehmende Ausweg ist im Grunde genommen genau das, wodurch sich der Platonismus definieren lässt – und der hat mit Platon bekanntlich nicht viel zu tun.
Eine philosophisches Werk, so hat der Stuttgarter Philosoph und Heidegger-Schüler Hans-Georg Gadamer einmal bemerkt, kann man am besten „als Antwort von einer Frage her verstehen, auf die es die Antwort ist”[72]. Und in Platons Fall muss man nach dieser Frage auch nicht lange suchen: Wie kann dieser Welt im Verfall geholfen werden – und damit auch den Menschen, die in ihr leben? Seine Antwort besteht in einem Werk, das den Ideen (in welcher Formulierung auch immer) eine zentrale Orientierungs- und Regelungsfunktion zuschreibt – und an die Welt, in der und auf die sie angewandt werden sollen, eine Patientenrolle vergibt, unter der auch ihre Bewohner zu leiden haben. Der Mensch ist als Element einer Welt, mit der etwas ganz grundlegend nicht stimmt, immer auch Teil des Problems, und so wird er im Rahmen von Platons Philosophie auch behandelt. Ihm wird die Fähigkeit zur Einsicht in das Wahre und die sich daraus ergebende Kompetenz, das Richtige zu tun, schlicht abgesprochen; der Mensch bleibt bei Platon völlig unabhängig vom Alter immer ein zu erziehendes Kind. Platon will Strukturen schaffen, die Welt und Mensch in den Griff bekommen – wie das Verhältnis beider dabei aussieht, ist zwar als Gesichtspunkt in seiner Philosophie prominent vorhanden, spielt aber gegenüber dem therapeutischen Gesichtspunkt eine sekundäre Rolle.
Diese Haltung gegenüber der Welt erklärt auch, warum der Universalgelehrte Platon, der mit der Politeia innerhalb einer einzigen Schrift sowohl
die Ontologie (Existenz der Ideen),
die Epistemologie (Erkenntnis der Ideen),
die Pädagogik (Lernen der Ideen durch anamnesis),
die Politische Philosophie (Kenner der Ideen als Herrscher) sowie
die Wissenschaftstheorie (Ideen als geistige Gegenstände)
und