Allerdings macht Platon auch die Frage der Quelle der Erkenntnis bzw. ihres Scheins zum Thema. In diesem Zusammenhang kommt nun der Tatsache, dass die gefesselten Höhlenbewohner sich mit (und von) ihren Sinnen täuschen lassen, eine entscheidende Bedeutung zu. Denn Platon lässt keinen Zweifel daran, dass die Situation in der Höhle natürlich nicht wörtlich, wohl aber als Metapher der menschlichen Weltbegegnung insgesamt zu verstehen ist. Den Hinweis durch Glaukon: „Ein wunderliches Gleichnis, […] und wunderliche Gefangene!”[12] beantwortet Sokrates nämlich so: „Leibhaftige Ebenbilder von uns!”[13].
Da die Situation der Gefangenen also zumindest prinzipiell der conditio humana insgesamt entspricht, stellt das Höhlengleichnis eine erkenntnistheoretische Stellungnahme Platons dar. – Kurz gesagt: Unsere Sinne täuschen uns, der Mensch kann sich bei seinem Weltverhältnis der Wahrheit auf diesem Weg somit nicht nähern. Diese Ansicht über die menschliche Erkenntnis ist unter der Bezeichnung Rationalismus äußerst wichtig geworden, seine Vertreter reichen von Gottfried Wilhelm Leibniz (1646‐1716) über René Descartes und viele andere bis zu den heutigen sogenannten Konstruktivisten. Während Platon diesen Gedanken ausarbeitet und in der Philosophie populär macht, stammt er ursprünglich von einem Denker, von dem wir nicht viel mehr wissen, als dass er zwischen dem Ende des sechsten und dem Anfang des fünften Jahrhunderts v. Chr. gelebt hat: Parmenides.
Platon macht aus dem Einfluss der Gedanken „des Vaters Parmenides”[14]! auf ihn kein Geheimnis, in dem Dialog Parmenides wird ihm sogar gestattet, Platons (von Sokrates vertretene) Ansichten mit einigem Erfolg zu kritisieren. Dabei basiert das Gewicht von Parmenides´ Ansichten auf einem einzigen Werk, das heute nur noch als Fragment erhalten ist: ein Lehrgedicht mit dem Titel Über die Natur. Darin schildert der Autor in einer sehr bildhaften Sprache die Fahrt in einem Pferdewagen Richtung Himmel, wo ihm eine Göttin den Unterschied von echtem und falschem Wissen erklärt[15]!.
Dabei ist zunächst nicht überraschend, dass die Göttin die Sinne – „das blicklose Auge und das dröhnende Gehör”[16] – als Quelle der Wahrheit ausschließt. Letztere ist nämlich unveränderlich und ewig, die sich ständig ändernden Sinneseindrücke können bereits aus diesem Grund nur Täuschungen liefern. Es gibt nach Parmenides kein Entstehen und Vergehen, das wahre Sein ist ewig: „Ohne Ursprung, ohne Aufhören”[17]!.
Die einzige Möglichkeit des Menschen, Erkenntnisse über das Sein zu gewinnen, ist das Denken, „denn dasselbe ist Denken und Sein”[18]. Das heißt aber auch (und auch dieser Gedanke wird über Platon die Philosophie nachhaltig beeinflussen), dass das Denken nicht über das Sein hinausgehen kann. Etwas, das nicht ist, kann auch nicht gedacht werden[19]! – Platons Probleme mit der Kunst im Allgemeinen und den Dichtern im Besonderen[20]! finden sich hier ebenso bereits vorgezeichnet wie die Jahrtausende lange Schwierigkeit der Wissenschaft, Sprache und Theorien als Instrumente anzuerkennen, die die Welt nicht abbilden oder nacherzählen, sondern gezielt verändern sollen.
Dass sich der Einfluss, den Parmenides mit seinem Lehrgedicht auf Platon gehabt hat, nicht nur auf diesen inhaltlichen Aspekt beschränkt, wird besonders deutlich, wenn man den weiteren Verlauf des Höhlengleichnisses betrachtet. Wie Sokrates dort erläutert, wird einer der Gefangenen von seinen Fesseln gelöst und genötigt, in der Höhle umher zu gehen. Man erklärt ihm die Zusammenhänge, zeigt ihm das Feuer (an das sich seine Augen erst langsam gewöhnen müssen) und sagt ihm, dass er damit nun „dem wahren Sein schon näher sei und sich zu schon wirklicheren [!] Gegenständen gewandt habe”[21], während die Schattenbilder nur Täuschungen gewesen seien. Dieser völlig verwirrte Mensch wird dann auch noch aus der Höhle hinausgeführt und lernt mit der Sonne und den durch sie beschienenen Gegenständen nun endgültig das wahre Sein sowie die wirklichen Gegenstände kennen – dass Platon den Ausgang aus der Höhle und die Hinführung zum Licht der Sonne ausdrücklich als ein „Hinaufziehen”[22] bezeichnet, ist dabei eine klare Anspielung auf die Himmelfahrt im Lehrgedicht von Parmenides[23]!.
Mit diesem kurzen Szenario ist der Kern der Platonischen Philosophie dargestellt, auch wenn das Höhlengleichnis selbst an dieser Stelle noch nicht vorbei ist. Denn Platon kann es sich nicht verkneifen, die Frage zu stellen, was passieren würden, wenn dieser der Wahrheit nun kundige Mensch „wieder hinunter käme”[24] und seinen ehemaligen Mitgefangenen in der Höhle von seinen Erkenntnissen berichten würde. Dass sich die in der Dunkelheit Zurückgebliebenen gegen die Wahrheit wehren und den Wissenden wegen dessen Versuch, sie auch der Erkenntnis zuzuführen, gar umbringen („würden sie ihn nicht ermorden, wenn sie ihn in die Hände bekommen […] könnten?”[25]) ist nicht schwer als deutliche und kritische Anspielung auf das Schicksal seines Lehrers Sokrates zu verstehen.
Der eigentliche philosophische Gehalt des Höhlengleichnisses beginnt aber bei der bereits oben erläuterten erkenntnistheoretischen Zurückweisung des sinnlichen Weltzugangs: Die Sinne, so Platon in Übereinstimmung mit Parmenides, täuschen den Menschen und sind tatsächlich nur Schatten der wahren Dinge[26]!. Sie suggerieren Veränderungen, die es in Wahrheit gar nicht geben kann, denn die Wahrheit ist ewig und immer gleich.
Das Organ des menschlichen Weltbezugs, das geeignet ist, die Wahrheit zu erfassen und das ebenfalls bereits bei Parmenides in den Mittelpunkt des Interesses gerückt wird, ist demgegenüber das Denken.
Eine Präzisierung dieser erkenntnistheoretischen Zusammenhänge legt Platon in einem zweiten Gleichnis am Ende des sechsten Buches der Politeia vor, dem Liniengleichnis. Dabei steht die Linie stellvertretend für das menschliche Weltverhältnis und die dabei möglichen Zugangsformen. Auf der obersten Ebene, so erläutert Sokrates, ist die Linie in zwei Teile untergliedert, die der sinnlichen und denkenden Form des Weltbezugs entsprechen: Sichtbares und Denkbares.
Der Rolle der bereits im Höhlengleichnis zur Sprache gekommenen Sonne widmet Platon zunächst ein eigenes Gleichnis, das Sonnengleichnis. Der aus der Höhle hinauf ans Tageslicht gebrachte Mensch sieht dort Dinge, die von der Sonne bestrahlt werden, anders gesagt: Er sieht die wahren Dinge dank der Sonne. Sie selbst gehört nicht zu diesen Dingen, ermöglicht aber erst deren Wahrnehmung. Um einen erst viel später von Kant eingeführten Ausdruck zu benutzen: Die Sonne ist die Bedingung der Möglichkeit, also die notwendige Bedingung des Sehens der wahren Dinge.
Das scheint nun angesichts des im Höhlengleichnis zu den Sinnen Gesagten sowie der im Liniengleichnis erläuterten Aufteilung in Formen menschlicher Weltverhältnisse in das Sichtbare und Denkbare zu einem Widerspruch zu führen. Denn wenn die Sinne den Menschen immer über die wahren Dinge täuschen, wie kann dann ausgerechnet die Sonne für Erkenntnisse sorgen?
Licht ins Dunkel bringt in diesem Fall die Einsicht, dass wir auch heute noch in vielen Sprachen über das Wissen und die Erkenntnis metaphorisch reden (etwa, wenn uns ein ebensolches Licht aufgeht), wir benutzen also Ausdrücke, die dem Feld der Sinnlichkeit entnommen sind, beziehen uns dabei aber auf Geistiges. Und genau so geht Platon vor, wenn er die Sonne als, wie er schreibt, „Kopie”[27] von etwas Anderem versteht – und dieses Andere ist ebenso dem Bereich des Denkens zuzuordnen wie unser Zugang zu den wahren Dingen, die von der Sonne ‚beleuchtet’ werden. Der aus der Höhle zur Sonne aufgestiegene Mensch vollzieht also erkenntnistheoretisch betrachtet auch den Wechsel von den täuschenden Sinnen zum Denken – und die Frage, die dann noch zu beantworten wäre, ist die, was denn dieses Andere ist, für das die Sonne im Höhlengleichnis steht, und was genau es ermöglicht.
Wir sind damit bei einem Teil der Platonischen Philosophie angekommen, dem zwar ohne Frage einige Bedeutung zukommt, der aber im Lauf der Zeit so ausführlich zum Objekt der Interpretation gemacht wurde, dass