Philosophenkönig – eine Einführung. Martin Arnold Gallee. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Martin Arnold Gallee
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783844232523
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sich die Welt in einen Teil untergliedern, dem der Mensch ohnmächtig gegenübersteht, und in einen, den er durch sein Handeln verändern kann. Und entlang genau dieser Grenze zieht Aristoteles nun die Linie zwischen Theorie und Praxis. Der Aristoteles‐Experte Günther Bien hat das auf folgende präzise Formulierung gebracht:

      Der Herausnahme der Sphäre einer spezifisch zum Menschen gehörigen Welt, d.h. alles dessen, was […] in unserer Verfügungsgewalt steht, aus der Gesamtheit dessen, was als ein unverfügbar Seiendes vorgegeben und hinzunehmen ist, entspricht die Trennung von Theorie und Praxis bei Aristoteles. ‚Theoria’ ist die Weise, wie sich der Mensch vernünftig in Bezug setzt zu dem, was durch diese menschliche Zuwendung nicht verändert und verwandelt wird, nämlich interesseloses Wissenwollen, wie sich die Dinge an sich verhalten. ‚Praxis’ ist der Daseinsvollzug und die Selbstverwirklichung des Menschen durch Handeln im Raume der so ausgegrenzten Welt.[13]!

      Damit ergibt sich zunächst eine Zweiteilung in eine theoretische und eine praktische Philosophie. Diese Trennung ist bei Aristoteles sehr strikt, was eben daran liegt, dass die Wahrheit der Welt nur beobachtet bzw. festgestellt, nicht aber verändert werden kann, weil sie ja immer gleich ist. Deshalb kann die Theorie nur interesselos sein. Die Praxis ist hingegen von menschlichen Zielsetzungen beeinflusst, weil sie sich auf den Teil der Welt bezieht, der für den Menschen disponibel ist. Diese scharfe Trennung ist für uns heute nicht mehr leicht nachvollziehbar, weil sich vor allem in der Neuzeit der Gedanke durchsetzt, dass zwar die physikalische Welt vollständig determiniert ist, der Mensch im Denken hingegen vollkommene Freiheit genießt[14]!. Wie alle Denkvorgänge und ‐strukturen sind Theorien daher für uns heute wie selbstverständlich Instrumente, die zu bestimmten Zwecken eingesetzt werden – nach dem Motto, dass eben nichts so praktisch ist wie eine gute Theorie[15]!. Die Theorie ist also für uns in den menschlichen Zwecksetzungshorizont eingebettet, und genau das ist sie für Aristoteles nicht. Wenn wir Theorie betreiben, so seine feste Überzeugung, geht es uns nur um die Gewinnung von Wissen, nicht um dessen praktische Umsetzung. Und weil diese Überzeugung aus den Eigenschaften der Welt gewonnen wurde, kann es zwischen den Bereichen der Theorie und der Praxis ebenso wenig Überschneidungen geben wie zwischen den auf dieser Grundlage getrennten Feldern der theoretischen und der praktischen Philosophie. Was immer also genau in beiden enthalten ist, es hat nichts miteinander zu tun.

      Dass Aristoteles diese Abgrenzung anhand der Welt und ihres Bezugs zum Menschen festmacht, ist zunächst als deutliche Absage an Platon zu verstehen. Denn während es die Welt für Platon nicht Wert ist, differenziert behandelt zu werden, und er daher eine Einheitsmethode für alle ihre Bereiche entwirft, bringt Aristoteles hier und an vielen anderen Stellen einen Aspekt ins Spiel, der der Bedeutung der Welt in seinem Denken deutlich Ausdruck verleiht: die Angemessenheit. Die Differenzierung von theoretischer und praktischer Philosophie ist angemessen, weil sie wie alles Angemessene „der zugrunde liegenden Sache entspricht”[16].

      Innerhalb der Praxis bzw. der praktischen Philosophie nimmt Aristoteles eine weitere Unterscheidung vor, die nicht vom Verhältnis des Menschen zur Welt, sondern von seinem Bezug zu seinem Handeln abhängt. Dabei kann sich dieses Handeln einmal in einem Ergebnis oder Werk manifestieren, das dem Handelnden vor der Handlung vor Augen stand. Das klassische Beispiel dafür ist der Handwerker, der etwas herstellt; das Themenfeld dieser Art von Handlung umfasst aber alles, das als zweckhaft verfolgtes Werk vom Vorgang der Handlung selbst abgetrennt werden kann. Aristoteles redet in diesem Zusammenhang vom Hervorbringen bzw. von poiesis (griech. für ‚Wirken’), das über das Charakteristikum der Zweckhaftigkeit definiert ist: „Jeder Hervorbringende tut dies zu einem bestimmten Zweck, und sein Werk ist nicht Zweck an sich, sondern für etwas”[17]. – Wenn der Zweck einer Handlung dagegen in der Handlung selbst besteht, es also keine darüber hinausgehende Motivation des Handelns gibt, redet Aristoteles von praxis bzw. von Handeln im engeren, eigentlichen Sinn: „Das Handeln ist […] Zweck an sich”[18].

      Poiesis und Praxis haben also für Aristoteles gemeinsam, dass sie auf das bezogen sind, was nicht notwendig und daher immer gleich ist, sondern „was sich auch anders verhalten kann”[19] – und damit möglicherweise unter dem Einflussbereich des Menschen steht. Während sich die herstellende Poiesis dabei aber immer auf eine bestimmte äußere Zwecksetzung bezieht und sich darüber hinaus in einem von ihr selbst abgrenzbaren Werk manifestiert, trägt die Praxis bzw. das Handeln im engeren Sinn ihren Zweck in sich – „die poiesis hat ein von ihr verschiedenes Ziel, die praxis nicht. Denn das gute Handeln ist selbst ein Ziel”[20].

      Die übergeordnete Bedeutung der praxis für Aristoteles wird daran deutlich, dass er das Leben insgesamt als solche versteht – „Leben ist praxis und nicht poiesis[21]. Das Ziel des Lebens liegt also immer in ihm selbst und nicht außerhalb. Ein gelungener Lebensvollzug ruht folglich in sich selbst und wird als eudamonia (griech. für ‚Glück’ im Sinne von ‚Glückseligkeit’) bezeichnet. Die Aristotelische Ethik wird daher auch als eudämonistisch bezeichnet – sie orientiert sich an einem Leben, das zur Glückseligkeit führt.

      Gemäß der drei Bereiche Theorie, praxis und poiesis grenzt Aristoteles nicht nur als Erster theoretische und praktische Philosophie allgemein voneinander ab, er stellt in diesem Zusammenhang vielmehr drei Arten von Wissenschaften einander gegenüber: die theoretischen, die praktischen und die poietischen. Dabei ist ‚praktisch’ hier nun im engeren Sinn von praxis (also als Gegenbegriff zu poiesis innerhalb des umfassenderen Praxisverständnisses) gemeint. Alle drei Arten von Wissenschaft haben jeweils einen Objektbereich – „[d]ie theoretische Wissenschaft ist Wissenschaft von etwas, und so auch die poietische und praktische”[22]. Dieser Objektbereich ist zwar von einer Wissenschaftsart zur nächsten verschieden, wie erwähnt umfasst er aber immer nur Prinzipien, also Allgemeines[23] – vom Einzelnen gibt es keine Wissenschaft. Über diese Zuordnung von Gegenstandsbereichen hinaus wird die Eigenständigkeit der drei Wissenschaftsarten auch daran deutlich, dass Aristoteles jeder von ihnen jeweils eine besondere Fähigkeit zurechnet, die im jeweiligen Bereich erzielt werden kann; dazu gleich mehr.

      Wenn man sich dem Aristotelischen Werk anhand dieses von ihm selbst ausgegebenen Leitfadens nähert, so orientieren sich die theoretischen Wissenschaften an dem, was als Wahrheit immer gleich ist und vor allem vom Menschen nicht verändert werden kann. Dieser ist gegenüber der Wahrheit immer nur Zuschauer, und das griechische theorein hat ursprünglich auch genau diese Bedeutung von reiner Betrachtung. Die theoretischen Wissenschaften sind rezeptiv, sie suchen die Wahrheit ohne Interesse und ohne äußere Zwecksetzung. Die charakteristische Fähigkeit, die es im Bereich der theoretischen Wissenschaft zu erwerben gilt, ist die sophia bzw. Weisheit. Sie ist, dem Objektbereich der Wissenschaft generell folgend, ein Wissen vom Allgemeinen, das heißt, von den Prinzipien des jeweiligen Teils der Welt[24].

      Dabei benennt Aristoteles „drei theoretische Philosophien”[25], die sich aufgrund ihres jeweiligen Gegenstandes in einer Rangordnung befinden. Den höchsten Rang nimmt die sogenannte Erste Philosophie oder prima philosophia ein, die allerdings selbst aus mehreren Teilgebieten besteht. Aus diesem Grund ist das als Metaphysik bezeichnete Werk (s.o.) keine einheitliche Monographie, sondern umfasst selbst wiederum mehrere Unterbereiche, die darüber hinaus nicht nur dort, sondern auch an anderen Stellen des Corpus Aristotelicum behandelt werden. Schon aus diesem Grund sollte jeder Versuch der Systematisierung des Werks von Aristoteles inhaltlich und nicht nach Büchergruppen vorgehen.

      Die Erste Philosophie umfasst nach Aristoteles zunächst die Lehre vom Seienden bzw. als dessen höchstem Prinzip die Lehre von Gott. Sie ist also Ontologie und Theologie in einem. Dabei macht Aristoteles das Zugehören dieser beiden Disziplinen zu den theoretischen Wissenschaften klar, um dann zu erklären, dass und warum es sich bei ihnen in dieser Gruppe wiederum um die höchste Stufe handeln muss:

      Gibt es etwas Ewiges […], so muss offenbar dessen Erkenntnis einer theoretischen Wissenschaft angehören […]. Denn unzweifelhaft ist, dass, wenn sich irgendwo ein Göttliches findet, es sich in einer solchen [ewigen, unveränderlichen] Natur findet, und die würdigste Wissenschaft die würdigste