Philosophenkönig – eine Einführung. Martin Arnold Gallee. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Martin Arnold Gallee
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783844232523
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Gemeint ist die so genannte Ideenlehre, der seit Aristoteles und seiner Kritik an ihr sowohl an Umfang als auch philosophischer Bedeutung ein weitaus größeres Gewicht beigemessen wird als das bei Platon selbst der Fall ist. Im Übrigen geht Platon in mehreren seiner Werke (vor allem im Parmenides) kritisch auf sein eigenes Denken in Bezug auf die Ideen ein; der erste Kritiker Platons in dieser Hinsicht ist also nicht etwa Aristoteles, sondern Platon selbst[28]!.

      Gerade durch die ständige Weiterentwicklung seiner Argumentation macht Platon das Vorhaben, sich bezüglich der Ideen an seinem Werk selbst statt an populären, vereinfachten Versionen der Ideenlehre zu orientieren, aber auch selbst nicht gerade einfach. Das beginnt bereits mit der Frage, wo die Behandlung dieses Themas bei ihm eigentlich einsetzt. Der gängigen Einteilung von Platons Werk in drei Phasen folgend wird seine Auseinandersetzung mit den Ideen oft auf die Mittel‐ und Spätphilosophie beschränkt, was auch besagen soll, dass die (eher Sokratisch verstandene) erste Phase von diesem Thema weitgehend unberührt ist. Nun findet sich der erste Beleg des Ausdrucks idea aber bereits in dem Dialog Euthyphron – und der gehört zu den sogenannten ‚Sokratischen’ Dialogen der ersten Phase. Darüber hinaus gibt es Interpreten, die das, was Platon der Sache nach mit den Ideen sagen möchte, bereits noch früher (nämlich im Protagoras[29]) zu finden glauben. Und je länger die Auseinandersetzung Platons mit den Ideen dauert, desto mehr verschiebt sich die Bedeutung dessen, was mit idea gemeint ist, sodass in späteren Werken wie dem Sophistes oder dem Timaios das, was davor möglicherweise an berechtigter Kritik an Platon hätte vorgetragen werden können, schon nicht mehr aktuell ist.

      Wie erwähnt, betreibt Platon diese Kritik in einigen Schriften ohnehin auch selbst. Man wird also letztlich nicht umhinkommen, bei der Darstellung von Platons Philosophieren über die Ideen seinem Denken zu folgen und sich an Inhalten und nicht an der sprachlichen Oberfläche zu orientieren. Wenn man das tut, ergibt sich allerdings ein deutlich anderes Bild als das von der Ideenlehre gewohnte, und das philosophische Profil Platons nimmt eine teilweise unerwartete Form an.

      Bei dem Versuch, sich dem Platonischen Verständnis der Ideen zu nähern, erweist es sich als ratsam, zwei Fragen zunächst getrennt zu behandeln, die sich thematisch zwar überschneiden, sich in der Diskussion aber beide als eigenständige Gesichtspunkte der Philosophie Platons erwiesen haben. Dabei geht es erstens um die Ideen selbst und die Frage, worum es sich bei ihnen genau handelt und wo sie sich eigentlich befinden, und zweitens um das Verhältnis der Ideen zu den Dingen, die keine Ideen sind – um mit einer solchen Formulierung zunächst einmal alle Möglichkeiten offen zu halten.

      Die Beantwortung der ersten Frage kann relativ übergangslos an dem anknüpfen, was bereits im letzten Kapitel im Zusammenhang mit Sokrates zur Sprache gekommen und dort als dessen Position geschildert worden war[30]!. Diese zeigt sich unter anderem in einem Gespräch, das Sokrates mit Euthyphron über die Frömmigkeit führt:

      Oder ist nicht das Fromme dasselbe und sich selbst gleich in jedem Handeln und das Unfromme wiederum zwar allem Frommen entgegengesetzt, sich selbst aber gleich, indem alles, was unfromm sein wird, seine Gestalt gemäß der Unfrömmigkeit hat?[31]!

      Was bei der Schilderung der Sokratischen Position noch als bloße Frage nach dem Allgemeinen erschien, bekommt jetzt, also im Lichte der parmenideisch-platonischen These von der Unveränderlichkeit des Wahren, eine deutlich andere Färbung. Denn damit werden nun die beiden Themenstränge der Wahrheit und der Ewigkeit mit dem der Idee zusammengeführt. Die Ideen sind also zunächst offensichtlich thematisch so aufgeteilt wie die ‚normalen’ Dinge der Welt (das Fromme, das Unfromme etc.[32]!), im Unterschied zu diesen gibt es von ihnen aber nicht mehrere Vorkommnisse, sondern immer nur eine Einheit, die darüber hinaus stets gleich bleibt.

      Durch die Verknüpfung von Wahrheit und Unveränderlichkeit kommt den Ideen also ein höherer ontologischer Status zu als den gewöhnlichen Dingen:

      Denn es handelt sich jetzt bei unserer Untersuchung nicht vorzugsweise um das Gleiche, sondern ebenso um das Schöne an sich und um das Gute an sich und um das Gerechte und um das Fromme und […] um alles, dem wir den Stempel des ‚Seins an sich’ aufdrücken […].[33]

      Die Frage, was die Ideen sind, ist natürlich von der nach ihrem Ort nicht wirklich zu trennen. Für Sokrates, ob er nun nach dem Allgemeinen oder aber tatsächlich nach den Ideen gefragt haben sollte, scheint die Antwort festzustehen: Das Fromme ist in jedem Handeln, die Ideen sind für Sokrates zunächst lebensweltimmanent[34]! – sie befinden sich also in der gleichen Sphäre wie ihre gewöhnlichen Pendants.

      Soweit jedenfalls das bekannte Bild vom an der Praxis orientierten und lebensnahen Sokrates. Es gibt allerdings zu den Ideen – wenn man im Zusammenhang mit ihm davon sprechen möchte – aus der Sicht von Sokrates noch etwas mehr zu sagen, was vor allem ihren Ort betrifft. Denn bereits in der Apologie bringt er das menschliche Wissen sehr eng mit der techné, also dem Gedanken des Herstellens von etwas in Verbindung. Und in diesem Zusammenhang kann nun von einer Sphärengleichheit von den Ideen und den gewöhnlichen Gegenständen nicht mehr gesprochen werden. Denn für Sokrates ist das Herstellen – wenn es nicht „planlos und ziellos”[35] vor sich gehen soll – immer an eine Idee gebunden[36]!, die der Hersteller vor der eigentlichen Herstellung erfasst.

      Diese Tatsache mindert weder die Orientierung an der Praxis durch Sokrates (denn die Ideen sind ja immer noch handlungsleitend) noch den Status der Ideen als wahres Sein (schließlich bleiben sie das, was in allen Handlungen gleich ist und einen wiederholten Handlungsvollzug ermöglicht). Es bedeutet aber, dass Ideen und Handlungen nicht mehr in der selben Sphäre zu verorten sind, denn die vor einer Handlung erfasste Idee und die Handlung selbst fallen nicht in einem Punkt zusammen, sondern sind getrennt.

      Allerdings will Sokrates, wie gesagt, mit dieser Trennung kein von der Lebenswelt isoliertes akademisches Wissen etablieren, man hat die Ideen im Zusammenhang mit ihm daher auch als Handlungswissen bezeichnet[37]!. – Dabei ist der Handlungsbegriff bei Sokrates so weit gefasst, dass er in seine Argumentation sowohl handwerkliche als auch verbale Aktionen einbetten kann, wie das folgende Zitat zeigt:

      Sag, der gute Mann, das heißt der, der auf das Beste hin redet, wird doch nicht planlos und ziellos sagen, was er sagt, sondern indem er hinschaut auf etwas, wie auch alle anderen [!] Handwerker auf ihr Werk hinschauen? Keiner von ihnen verwirklicht etwas, indem er planlos und ziellos dieses und jenes aufsammelt, sondern damit das, was er verwirklicht, durch ihn eine bestimmte Gestalt habe.[38]

      Und diese Gestalt ist eben die idea, auf die er bereits vor der Handlung ‚hingeschaut’ hat. Die Wortwahl macht auch darauf aufmerksam, dass jeder erkenntnistheoretische Diskurs in der griechischen Antike insofern unter von den heutigen sehr verschiedenen Vorzeichen stattfand, als das Denken als menschlicher Weltzugang noch lange nicht so etabliert und begrifflich ausgestattet war wie in der Gegenwart. Denn obwohl die Orientierung an der Idee geistiger Natur ist, ist das Wort, das den Zugriff auf sie beschreibt, der Sinnlichkeit entnommen: hinschauen[39]!.

      Für Sokrates existieren also vor und unabhängig von konkreten Handlungen Ideen, die den Menschen hinsichtlich seiner jeweiligen Handlung leiten können – eine andere Funktion haben sie nicht. Dennoch ist damit, was den Ort der Ideen angeht, eine oft Platon zugeschriebene Ansicht etabliert: dass nämlich Ideen und Nicht‐Ideen in zwei getrennten Sphären existieren. Für diese auch als Zwei‐Welten‐Lehre bezeichnete Ansicht ist später – u.a. von Aristoteles – ausdrücklich Platon und nicht Sokrates kritisiert worden[40]!, was wohl bereits aufgrund der Tatsache zurückgewiesen werden muss, dass Platon den Gedanken einer solchen Sphären-Trennung im Parmenides ablehnt – ihn aber dort interessanterweise ausdrücklich von Sokrates vortragen lässt.

      Was im Parmenides allerdings auf Platon zurückgeht, ist der Gedanke, dass die Ideen nicht nur auf menschliche Handlungen zu beschränken sind, sondern prinzipiell jedem Ding eine Idee entspricht[41]. Damit ist in Bezug auf die Bedeutung dieses Themas eine massive Erweiterung verbunden, die nicht mehr nur das Feld des praktischen Handelns in der Lebenswelt, sondern potentiell auch