Philosophenkönig – eine Einführung. Martin Arnold Gallee. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Martin Arnold Gallee
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783844232523
Скачать книгу
die Ideen nicht nur den Status bloßer Begriffe haben, sondern tatsächlich selbständig (und vor allem unabhängig von ihrem erkannt Werden durch den Menschen) existieren[42]!.

      Wie seine Kritiker in der Folgezeit immer wieder angemerkt haben, stellen sich Platon mit diesen beiden Denkelementen, also der Universalität der Ideen und ihrer Realität, diverse Probleme in den Weg, die er ihrer Ansicht nach nicht gänzlich aus der Welt schaffen kann: Ganz abgesehen von der gewöhnungsbedürftigen Vorstellung einer idealen Entsprechung von Krankheiten und anderen negativen Dingen ist – gerade angesichts von Platons an der Welt geäußerten Kritik hinsichtlich ihrer Abweichung von den Ideen – unklar, wie sich die Zuordnung beider Bereiche vollziehen soll. Ist zum Beispiel ein verfallenes Haus eine schlechte Manifestation der Idee des Hauses – oder aber umgekehrt eine perfekte Manifestation der Idee eines verfallenen Hauses? Platon selbst wird solche Fragen in seinen späteren Dialogen aufgreifen, nach Meinung vieler seiner Interpreten aber nicht wirklich befriedigend beantworten können.

      Platons eigene Ansichten zum Ort der Ideen lassen sich besser erläutern, wenn wir uns nun der zweiten Frage (der nach dem Verhältnis der Ideen zu den Dingen, die keine Ideen sind) zuwenden. Davor muss trotz des geistigen Zugangs zu den Ideen, der für Sokrates und Platon außer Frage steht, klargestellt werden, dass diese dennoch nicht in den Gedanken des Menschen, der auf die Ideen zugreift, zu verorten sind. Dieser als Mentalisierung der Ideen bekannt gewordene Vorgang findet – mit dem wichtigen Übergang der Interpretation der Ideen als ‚Gedanken Gottes’ im sogenannten Mittelalter – erst viel später bei Descartes und Locke statt.

      Was nun die zweite oben genannte Frage, also die nach dem Verhältnis der Ideen zu den Dingen, die keine Ideen sind, angeht, lassen sich einige Ansätze Platons zu einer Antwort nachweisen. Ganz abgesehen von der beständigen Weiterentwicklung seines Denkens bereitet den Interpreten bis heute vor allem die Tatsache Probleme, dass diese Ansätze Platons nicht nur zumeist unklar formuliert sind, sondern sich darüber hinaus auch noch zum Teil deutlich widersprechen. Allerdings finden sich in diesem thematischen Zusammenhang auch einige der einflussreichsten Gedanken Platons, die bis in die Gegenwart nachwirken.

      Bereits im Höhlengleichnis hatte Platon das Verhältnis zwischen den Dingen, die hinter der Mauer entlang getragen werden, und den Schatten, die ja schließlich von ihnen geworfen werden, differenziert dargestellt. Die Schatten sind einerseits nicht die wahren Dinge, sie stehen allerdings mit ihnen in Verbindung und sind nicht völlig von ihnen losgelöst. Platon redet deshalb im Phaidon davon, dass die Ideen ihren Schatten ‚gegenwärtig’ seien und sich mit ihnen ‚in Gemeinschaft’ befänden[43]. Andererseits betont er mit dem Ausdruck chôris (griech. für ‚Trennung’) auch die Wesensfremdheit beider Sphären, der Ideen und der Dinge der Alltagswelt[44]. Dabei übernimmt Platon von Sokrates auch den Gedanken der Einheit der Ideen im Vergleich zur Vielheit der Gegenstände, für die sie jeweils stehen können. Einer Idee entspricht also immer eine (potentiell unendliche) Vielzahl von Dingen, die alle zu ihr im Verhältnis der Schatten zum Original stehen – eine Idee kann folglich unzählige Schatten werfen. Ebenfalls im Phaidon bezeichnet Platon die Ideen daher auch als Ur-Muster der Dinge, die für sie stehen (paradeigmata)[45]!. Noch im Parmenides lässt er den Titelhelden (der in diesem Dialog Platons eigene Ansichten vorträgt) erläutern, wer auf die Ideen ganz verzichten wolle, werde „nichts haben, wohin er seinen Verstand wende”[46].

      Darüber hinaus versucht Platon, das Verhältnis der Ideen zu ihren Bezugspunkten in der Alltagswelt durch den Ausdruck der Teilhabe (methexis) zu verdeutlichen[47]. Auch hier ist allerdings nicht ganz klar, wie sich eine solche Beziehung angesichts der doch angeblich ebenfalls bestehenden Getrenntheit beider Sphären und der Tatsache, dass eine Idee dabei an unzähligen Dingen teilhat, vollziehen sollte; Platon ist in vielen Fällen für genau diese Unklarheit grundlegend kritisiert worden.

      Das gilt auch für seinen Versuch, die Ideen als kausale Ursache ihrer Entsprechungen zu präsentieren. Schon im Höhlengleichnis sagt Sokrates von der Sonne, „dass sie die Mutter von allen Dingen […] der sichtbaren Welt und von allen […] Anschauungen gewissermaßen die Ursache ist”[48]. Auch wenn, wie sich noch zeigen wird, die Sonne nicht für alle Ideen steht, sondern nur für eine bestimmte, ist damit bereits angedeutet, dass es sich bei den Nicht‐Ideen – zumindest bei der Frage, was und wie sie sind – um Wirkungen der Ideen handelt. Schon im Euthyphron redet Sokrates bei der Diskussion über die Frömmigkeit daher von „jener Gestalt […], durch die alles Fromme fromm ist”[49]. Wie bei der These der Teilhabe der Nicht-Ideen an den Ideen stellt sich aber auch hier die kritische Frage, wie die beiden Sphären der Ideen und der Nicht‐Ideen trotz ihrer Getrenntheit in einem Verhältnis wie dem der Kausalrelation stehen sollen.

      Obwohl dieser Ansatz der Verursachung durch die Ideen bei allen Vorbehalten auch seine Anhänger gefunden hat[50]!, ist es ein weiterer Versuch Platons in dieser Hinsicht gewesen, der bis heute den größten Einfluss genießt. Das hat auch damit zu tun, dass Platon in diesem Zusammenhang die Ideen ausdrücklich als Antwort auf eine reale Problemstellung präsentiert und nicht mit einer fiktiven Geschichte gleichsam aus dem Hut zaubert.

      Dabei geht es thematisch um den Bereich der Wissenschaft, die in der griechischen Antike seit Euklid zumeist mit der Mathematik bzw. Geometrie gleichgesetzt wurde. Platon kritisiert dabei die Wissenschaftler („die, welche sich mit der Messkunst und den Rechnungen und dergleichen abgeben”[51]) dafür, dass sie die Größen, die sie ihren Argumentationen zugrunde legen („das Gerade und Ungerade und die Gestalten und die drei Arten der Winkel und was dem sonst verwandt ist”[52]), einfach als völlig geklärt annehmen und „keine Rechenschaft weiter darüber weder sich noch anderen geben zu dürfen glauben, als sei dies schon allen deutlich”[53]. In der heutigen Philosophie würde man sagen: Platon bemängelt, dass die Wissenschaftler den Status der Grundbegriffe ihres Objektbereichs nicht klären. Das bedeutet aber letztlich, dass noch nicht einmal klar ist, wovon die betroffenen Wissenschaften eigentlich handeln!

      Zumindest mit diesem kritischen Hinweis zeigt sich Platon als treuer Schüler seines Lehrers Sokrates, der ja – wie wir im Vorkapitel gesehen haben – genau an dieser Stelle ansetzte. Auch das von Sokrates (zwar nicht im wissenschaftlichen Rahmen, wohl aber innerhalb der Alltagssprache) immer wieder vollzogene Zurückweisen nur beispielhafter Antworten auf die Frage nach dem Allgemeinen wird von Platon übernommen und in seine Terminologie übersetzt. – So kritisiert er, dass die genannten Wissenschaftler

      sich der sinnlich sichtbaren Dinge bedienen und ihre Demonstrationen auf jene beziehen, während doch nicht auf diese als solche […] ihre Gedanken zielen, sondern nur auf das, wovon jene sinnlich sichtbaren Dinge nur Schattenbilder sind […].[54]

      Geschickt belässt es Platon damit nicht wie Sokrates bei der destruktiven Kritik am Scheinwissen, sondern präsentiert mit dieser Wendung die Ideen als Antwort auf die Frage nach dem Status der mathematischen und geometrischen Gegenstände. Denn offenbar dienen die sinnlich wahrnehmbaren Hilfskonstruktionen (zum Beispiel an der Tafel) nur der Erörterung, der tatsächliche Bezug dieser Wissenschaften liegt demgegenüber im Bereich „jener Gedankenurbilder, […] die niemand anders schauen kann als mit dem Auge des Geistes”[55]. Die Ideen helfen uns also, die Frage zu beantworten, worauf sich Mathematik und Geometrie eigentlich beziehen, sie etablieren damit den bis heute gültigen Begriff vom theoretischen Gegenstand. Der Vorschlag, die Ideen einfach als Bedeutung von Allgemeinbegriffen zu verstehen, hat hier seinen Ursprung.

      Diese auf die Wissenschaft bezogene Argumentation Platons verträgt sich im Übrigen auch gut mit dem Sokratischen Gedanken der Herstellung und Hervorbringung auf der Basis eines vorher ‚geschauten’ Musters. Denn nunmehr können konkret stattfindende Rechnungen oder Zeichnungen als an der jeweils dahinter stehenden Idee orientiert verstanden werden, wobei dabei festzustellende Unterschiede als verschiedene Grade der Realisierung der einen Idee zu interpretieren wären. Dass sich das Rechnen und Zeichnen in diesem Zusammenhang als nach Regeln ablaufend präsentiert, verweist auf einen weiteren wichtigen Aspekt des Verhältnisses von Ideen und Nicht-Ideen.

      Dabei