Niemand traute sich etwas zu sagen. Stille, die Carla förmlich verfluchte. Hatte sie doch gehofft, etwas von ihren Gefühlen abgelenkt zu werden und wurde nun teilweise enttäuscht.
››Geht es dir wieder besser?‹‹, brach Josy das Schweigen, schaute aber nicht auf.
Carla nickte nur, was ihre Gegenüber wohl durch die Schallwellen prompt ortete. ››Das ist gut. Du siehst etwas angeschlagen aus.‹‹
Wieder nickte Carla. Sie fand irgendwie keine Worte. Ihr Mund war so trocken, wie eine Wüste und schrie nach Flüssigkeit, doch von dieser hatte sie vorerst genug. Sie wollte erst wieder etwas trinken, wenn sie sichergehen konnte, dass es nicht ranzig war.
››Wir hatten keinen guten Start nach deiner Abwesenheit‹‹, sagte Josy und linste zu ihr hinüber, ››Das bedauere ich sehr. Du hast mir gefehlt und ich konnte damals nicht so recht glauben, was du getan und gesagt hast. Trotzdem denke ich, dass du deine Gründe gehabt haben musst.‹‹
Ein Stirnrunzeln erfasste Carla und Josy begann zu lachen. ››Ja, du hörst richtig. Ich entschuldige mich. Kommt nicht sonderlich oft vor, aber ab und an... Mir fehlt die Freundin in dir. Ich wollte, dass du das weißt.‹‹
Das waren die richtigen Worte gewesen, denn Carla fühlte sich danach mehr als schlecht. Sie wusste nur zu gut, dass sie nicht sie selbst meinte. Josy kannte Carla so gesehen nicht. Carla wollte hier niemand, alle wollten nur ihre geliebte Sarah. Traurig presste sie die Lippen aufeinander und betrachtete den Wattepad. Belagert mit dunklem Schwarz und braunem Make-up sah er befleckt und unrein aus. Wie ein Parasit, der die Reinheit zerfressen hatte. Genau wie sie...
Josy sprach weiter. Carla nahm ihre Sätze zwar wahr, fühlte sich aber vor einem imaginären Abgrund. ››Ich kenne den Schmerz nur zu gut, der einen jeden Tag heimsucht, wenn man seinen Partner vermisst. Die Zeit bei den Maguire war die Hölle gewesen. Nicht nur, dass sie mich halb verhungern haben lassen, nein, meine Seele litt fürchterliche Qualen.‹‹ Josy sackte an der Tür herunter und setzte sich in den Schneidersitz. Die Distanz zwischen ihnen hielt sie wohl absichtlich ein. Sie schien Carla nicht bedrängen zu wollen. ››Was ich damit sagen will‹‹, verlegen kratzte sie sich am Kopf, ››Ich bin für dich da. Wenn du ihn siehst und glaubst durchzudrehen, bin ich da. Falls du der Meinung bist, nicht mehr einen Schritt vor den anderen machen zu können, bin ich auch da und...‹‹
››Ist ja gut, ist ja gut‹‹, beschwichtigte Carla ihren Versuch ihr zu helfen. ››Es geht mir gut. Es ist eher … etwas... anderes.‹‹ Die Wahrheit wollte ihre Lippen einfach nicht verlassen. In diesem Augenblick hätte sie sich fast verraten, dass war ihr bewusst und dennoch gleich, aber es ging nicht. Wie eine Schranke, die ihre Worte abschätzte und für falsch empfand, durften sie ihren Mund nicht verlassen.
Dann gewann Josys Handbewegung ihre Aufmerksamkeit. Fast belanglos zupfte sie aus ihrer Jeanstasche einen Umschlag heraus und wedelte damit. ››Gestern kam ein neuer Brief an. Möchtest du ihn vielleicht lesen? Ich würde dir auch Gesellschaft leisten und hier bleiben‹‹, dann erhob sie die freie Hand, um die weiteren Worte zu untermalen, ››aber natürlich lese ich nicht was drin steht. Ich lasse dir deinen Freiraum und bleib an Ort und Stelle sitzen!‹‹
Fassungslos fixierte Carla den weißen Umschlag. Eine magische Anziehungskraft ging von ihm aus, aber auch der Geruch von purer Ablehnung schlängelte sich abrupt in ihre Nase. ››Der stinkt‹‹, setzte sie ihre Gedanken um und Josy lachte nickend.
››Du möchtest doch sicherlich wissen, wie es den beiden geht. Vielleicht hat Alexander auch ein paar Zeilen selbst geschrieben.‹‹
Prompt reagierte etwas auf diesen Namen. Ein Herzschlag, anders als der ihre, pochte unter der Brust. Auch wenn er sie nur ein einziges Mal wie einen Schlag erfasste, zuckte sie zusammen.
Carla schloss die Augen und Schwärze umfing sie. Die Erkenntnis war sofort da. Unverkennbar stark und beängstigend. Sarah hatte sich bewegt; sie hatte sich bei seinem Namen geregt. Als Carla sich den Schemen in ihrem Inneren vorstellte, musste sie jedoch feststellen, dass Sarah noch immer ihren Tränen erlag. Lediglich kurz musste sie gelauscht haben.
Doch war sie nun froh oder traurig darüber? Es war die Frage, die sie nicht beantworten konnte und die sie zum Grübeln brachte.
Ruckartig öffnete sie ihre Augen. Josy saß weiterhin vor der Tür und hielt den Brief in Händen. Sie wartete.
Diese Fürsorge war zu viel für Carla, sie war überfordert. Allerdings nicht nur von Josy, die urplötzlich so freundlich zu ihr war, sondern von ihren eigenen Empfindungen, die so unkontrolliert waren, wie das Meer. Eines wurde ihr jedoch schlagartig bewusst: Erst wenn sie wusste, was sie wollte, durfte sie diesen Umschlag berühren und lesen. Erst dann!
So antwortete sie: ››Ich danke dir für deine lieben Worte, aber ich kann nicht. … Jedenfalls jetzt noch nicht. Würdest du ihn für mich aufbewahren, bis ich mir sicher sein kann, dass ich es ertrage?‹‹
Liebevoll schaute Josy sie an und erweichte ihr Herz. Es war diese tiefe Freundschaft, die Carla schlucken ließ, denn sie wusste um den Betrug, den sie dieser Frau antat. Ohne Worte nickte ihr die Freundin zu und dann änderte sich das Bild schlagartig. Anklagend zuckte der Umschlag in ihre Richtung und Josy schmunzelte. ››Du willst ja nur, dass unser Zimmer vom Gestank verpestet wird, gib es zu!‹‹
Plötzlich musste Carla herzlich lachen. Die Art und Weise wie sich Josy gab und was sie sagte, war so seltsam belustigend, dass sie nicht anders konnte. Und als sie so darüber nachdachte, wurde ihr schmerzlich bewusst, dass es das erste Mal war, das sie so herzlich lachte.
Auf einmal flogen die Tage dahin. Ihre Umgebung war im Umbruch und auch wenn Carla sich anfangs noch gefragt hatte warum, war diese Frage schon lange in Vergessenheit geraten. Sie verstand sich mit Josy so gut, wie noch nie. Sie scherzten, lachten, gingen gemeinsam spazieren und erst heute waren sie zum Einkaufsbummel gefahren.
Der Kofferraum des BMW war überfüllt mit Taschen und Tüten. Die Frauen hatten alle Mühe gehabt ihn überhaupt noch zu schließen, dabei mussten ein paar Taschen auf der Rücksitzbank platz nehmen.
Die Musik des Radios dröhnte aus den Lautsprechern. Ein Lied, welches die beiden Frauen sehr mochten, nahm ihre Aufmerksamkeit ein. Sie sagen mit und bewegten sich, soweit es die Gurte zuließen, zur Musik.
Carla war glücklich. Über alle Maßen strahlte sie und war sich sicher, ihren Platz gefunden zu haben. Ihr tägliches Make-up, was sie als eine Art Maske angesehen hatte, um sich von der eigentlichen Sarah abzugrenzen, war verschwunden. Sie glaubte es nicht mehr zu brauchen. Auch das Gespür für ihre andere Seite, für den anderen Teil in ihr, war verebbt. Zwar war sie sich sicher, dass Sarah noch existierte, aber durch ihre überschwänglichen Gefühle, brauchte sie keine Angst mehr zu haben, die Oberhand zu verlieren.
Als das Auto die Auffahrt zum Carport und dem Fuhrpark der Familie Davenport ansteuerten, musterte sie die Ranken an dem Holz. Vor Monaten hatte sie durch Sarah mitbekommen, wie Celest ihre Blumen hier ausgesetzt hatte, um das Carport zu verschönern. Jetzt bei der Kälte hatten sie ihre Blätter und Blüten verloren. Sie zeigten ihre nackte, kahle Haut und trotzdem vermochten sie das Bild aufzulockern. Carla kam nicht umher an sie zu denken.
Die zerbrechliche Celest war erst gestern wieder nach Hause gekommen. Etwa drei Wochen war sie spurlos verschwunden. Niemand hatte ihr sagen können, wohin sie gegangen war. Angeblich sei sie verreist, so hatte es ihre Schwester versucht dazustellen. Seitdem sie diese Familie kannte, hatte Celest das Haus nur zum Silvesterball verlassen. Wo war sie also gewesen?
Geistesabwesend stützte sie ihren Ellenbogen an der Tür ab und rieb sich die Lippen.
››Weißt du mittlerweile warum Celest weg war?‹‹, machte Carla ihren Gedanken Luft. Aus irgendeinem Grund sträubten sich ihr die Nackenhaare. Ein regelrechter Schauer durchzuckte sie wie ein Stromschlag.
Josy zog den Schlüssel des Autos, blickte zu ihr und legte den Kopf schief. ››Nein, warum interessiert dich das so?‹‹
››Ich weiß