››Lass ihn ja heile. Ich zähle im Anschluss die Nadeln, die er verloren hat! Und wenn er mir nicht mehr gefällt, weil er teilweise kahl ist, besorge ich uns einen neuen, größeren!‹‹, spaßte Celest und ein Ruck ging durch Marc. Er war vermutlich ziemlich gefrustet. Mit einem Stöhnen kündigte er seine Befürchtung an, dass er bereits davon ausging, er müsste diese Arbeit nochmals tätigen. Schmollend schaute er an sich herunter und schien bereits zu zählen.
Schließlich seufzte er, schaute wieder auf und gab sich sichtlich geschlagen. Abermals schätzte er ab, wie er am besten durch den Türrahmen kam.
Währenddessen kicherten Li und Gray wie zwei Kleinkinder, was Marc wohl reichlich missfiel. Aber wer mochte es schon im Mittelpunkt zu stehen und die Lachnummer zu sein?
Es war unübersehbar wie Marc schmollte, doch er versucht krampfhaft sich aus seiner Lage zu befreien. Vorsichtig setzte er den Baum an den Rahmen an und wägte ab, wie viel breiter das Netzpaket war. Ihm schien allmählich klar zu werden, dass ihm nur die Chance blieb es extrem schnell zu gestalten, um den Nadelverlust gering zu halten.
››Kann wenigstens einer von euch die Spitze halten? Wenn ich versuche mich mit durch die Tür zu quetschen, riskiere ich, das er noch mehr Nadeln verliert.‹‹ Marc sah nicht auf. Er glaubte wohl nicht wirklich daran, dass ihm jemand zur Hilfe kam.
Carla mochte ihn und wollte ihn nicht noch länger der Schadenfreude der restlichen Familie aussetzten. Sie alle hatten ihren Spaß gehabt.
Geschmeidig wie eine Katze mit einem verführerischen Hüftschwung trat sie vor und griff nach der Tannenspitze. ››Du wirst mir etwas schuldig sein‹‹, schnurrte sie und Marc hob verdutzt den Kopf.
Hinter Carla ertönte Protest von Li: ››Spielverderber!‹‹
››Sarah hat recht‹‹, stimmte Josy ihr zu und ließ die Videokamera sinken, ››irgendwann muss es gut sein.‹‹
Erleichterung erfasste Marcs Miene und er lächelte. Schnell drückte er das Bündel durch den Türrahmen und Carla zog. Es ging fix, aber gequält. Ein leises Quietschen drang an Carlas Ohren, weil das Kunststoffnetz an den Rahmen drückte. Nadeln prasselten auf den Untergrund, aber der Weihnachtsbaum hatte seinen Weg hinter sich gebracht.
Tänzelnd kam Elest an und riss das Netz auf.
››Sie liebt Weihnachten und kann es gar nicht erwarten den Baum zu schmücken‹‹, erklärte Celest und lächelte breit.
Während Marc mit Gray die Tanne aufrichtete, verschwand Josy und kam mit etlichen Holzkisten zurück. Gestapelt überragten sie die Schwarzhaarige, die nur durch ihre ausgesandten Schallwellen wusste, wohin sie trat.
Li kümmerte sich um die Stimmung. Seine Stereoanlage, die er eigenst für Floras Geburtstagsfeier gekauft hatte, nahm ihren Betrieb wieder auf. Weihnachtslieder durchdrangen das gesamte Haus und machten auch vor Carlas Herz nicht Halt.
Sie bestaunte die Tanne und war sichtlich überwältigt. Ihr erster Weihnachtsbaum! Wie ein Kind, das zum ersten Mal das Fest erlebte, hüpfte sie um das grüne Monstrum herum.
Obgleich er ein paar Nadeln hatte lassen müssen, die Tanne war immer noch prächtig und prall. Ihre Spitze bog sich an der Decke und müsste noch abgeschnitten werden, damit sie mit einem schönen Stern verziert werden konnte.
Alle packten mit an. In Rot und Gold begann die Tanne ihren Glanz noch zu verstärken. Wie Kugeln aus überreifen Äpfeln und teurem Gold glitzerten sie Carla an. Die Männer kümmerten sich um die Lichterkette, die so lang war, dass sie mehrere male im großen Wohnzimmer vor und zurück ausgelegt werden musste. Dabei feixten und spaßten sie. Eine Familie; glücklich, zusammen und eine Einheit. Und Carla gehörte dazu. Um nichts in der Welt würde sie diesen Platz wieder hergeben!
Es war dieses Glück und diese Freude, die in ihr eine Erinnerung aufkommen ließen, die sie etwas beängstigte. Verstohlen blickte sie zu ihrer Armbanduhr und wusste, dass es nur noch wenige Stunden waren.
››Wann kommt noch mal der Besuch?‹‹, fragte sie und machte ihren Gedanken Luft.
Celest legte den Kopf schief und blickte über die Schulter zu ihr herüber. ››In etwa fünf Stunden. Ich bin froh, dass es überhaupt noch vor Weihnachten geklappt hat. In dieser Zeit einen Flug aus Alaska zu bekommen, der auch wirklich stattfindet, ist nicht so einfach.‹‹
Aus Alaska?! War Celest etwa dorthin gefahren? Carla dachte an ihre Lauschaktion und durfte sich nicht verraten. Nur zu gerne hätte sie weitergebohrt, beließ es aber dabei und versucht auf einer anderen Ebene weiter zu kommen: ››Mein Gott, aus Alaska!? Bei den Temperaturen würde wohl jeder flüchten! Wird der Besuch abgeholt, oder kommt er mit einem Taxi?‹‹
Die Hausherrin wandte sich wieder der Verschönerung des Baumes zu und sprach dabei weiter: ››Einem Vampir macht die Kälte nichts, oder dachtest du, ich lade einen Menschen zum Fest ein?‹‹ Plötzlich wurde sie melancolisch: ››Wenn man so lange lebt, wie ich, dann sucht man sich nur noch Gleichgesinnte. Menschen, die man lieb gewonnen hat, sterben eines Tages. Es ist nicht gerade der schönste Teil des unsterblichen Lebens, wenn man ihn ständig durchleben muss. Aber um deine Frage zu beantworten: Elest wird sie nachher vom Flughafen abholen.‹‹
Zwar waren dies nicht gerade viel Informationen, aber sie brachten Carla weiter.
Um den unbekannten Besucher handelte es sich also um einen weiblichen Vampir.
Die Neugier kitzelte in ihren Fingern. Sie drehte eine rote Weihnachtskugel in ihrer Hand und betrachtete ihr verzogenes Abbild, welches sich darauf spiegelte. Bald würde sie ihrem Feind gegenüberstehen. Was sie wohl für ein Vampir war? Ein Seelenaustreiber vielleicht?
Plötzlich quoll die Erinnerung an Chui hervor, der sich anfangs als Exorzist angepriesen und Sarah vollkommen überrumpelt hatte. Dies würde ihr nicht widerfahren! Carla war der festen Überzeugung, dass der Selbsterhaltungstrieb ihr den Sieg bringen würde. Egal, was diese Person aufzubringen vermochte, um sie zu bekämpfen, sie würde den Kampf gewinnen. Sie musste einfach! Carla musste es allen zeigen!
Aber dennoch, als sich ihr Magen schmerzhaft zusammenzog, schwang auch ein Hauch von Angst mit. Wie eine schwere Bürde legte er sich auf ihre Schulten. Drohend drückte sie die Last nach unten und sie stemmte sich vehement dagegen.
Erneut vernahm sie einen Schrei. So unglaublich gequält und zerrissen, dass sich ihr die Nackenhaare aufstellten. Dieses Mal brauchte sie nicht in sich hineinsehen, um sich zu vergewissern, wer der Auslöser war. Nicht noch einmal wollte sie ihre traurigen, entsetzlichen Augen sehen, denn sie glaubte, ihnen erliegen zu können. In dieser Sekunde verlor sie jegliche Beherrschung. Alles verselbstständigte sich.
Wie in Trance erschlafften ihre Arme; so schwer wie Millionen von Tonnen.
Dabei verlor sie die rote Weihnachtskugel. Fast wie in Zeitlupe fiel sie herunter und zerschellte klirrend auf dem Boden. Etliche, spitze Scherben schossen in alle Richtungen und glichen makaberen Blutstropfen, die sich im Wohnzimmer verteilten.
Alle Blicke luden sich auf sie ab. Die komplette Familie hielt in ihrer Arbeit inne und musterten sie verdutzt.
Ein Gurgeln und Glucksen hallte durch den Raum, wie eine brachiale Meereswelle. Ihr Magen verkrampfte und sandte unbeschreibliche Schmerzen aus. Jedes Körperteil reagierte darauf und stimmte in das Konzert mit ein. Galle kroch die Speiseröhre empor und ließ Carla geräuschvoll würgen. Wieder einmal gaben ihre Beine nach, wollten der Kraft erliegen und zitterten. Im nächsten Moment sackte sie zusammen wie ein nasser Sack.
Josy war die Erste, die sich aus ihrer Starre lösen konnte. Carla erkannte nur aus dem Blickwinkel, wie sie das Zimmer verließ