Doch plötzlich drohte ihre idyllische Welt gestört zu werden. In wenigen Sekunden zerbrach der wunderschöne Spiegel namens Ruhe in tausend Scherben. Ein Geruch von schwefelartiger Substanz schlängelte sich in ihre Nase und legte sich bitter auf der Zunge ab. Angewidert schüttelte Carla sich und verzog die Lippen, als habe sie in eine Zitrone gebissen. Instinktiv sandte sie ihre Schallwellen aus, um sich zu vergewissern, dass ihr nichts entgangen war.
Leise Schritte drangen an sie heran, gefolgt von wildem, ungestümen Getrampel.
Als jemand in ihr Zimmer trat, versuchte sie den Störenfried anhand des Duftes zu erkennen, doch der Gestank war so abartig, dass sie ihn nicht zuordnen konnte. Je näher die Person kam, umso schlimmer wurde er. Galle brodelte empor und Carla versuchte krampfhaft den Würgereiz hinunterzuschlucken. Die Nackenhaare richteten sich auf und ihr ganzer Körper spannte sich.
Sie wollte ihre Augen nicht öffnen; sie wünschte sich doch nur Ruhe und ein bisschen wärmende Sonne.
Dann landete etwas auf ihrem nackten Bauch. Der Gestank schien seinen Höhepunkt zu erlangen, doch sie versuchte sich nichts anmerken zu lassen.
››Du hast Post!‹‹ Das musste Josys Stimme sein; ein nicht gerade reizvoller Gast.
Carlas Augen öffneten sich. Sie schob die Sonnenbrille auf der Nase nach vorne und linste über den Rand.
Der Absender des Briefes war ihr nur zu gut bekannt. Daher rührte also dieser schlimme Gestank. Wann würde sie endlich aufgeben? Ständig warf Carla diese Umschläge in den Müll und hatte auch nicht vor, dies zu ändern. Sie stanken zum Himmel. Nach Werwolf, Schwefel, Dreck; einfach abartig!
››Du kannst ihn gerne wieder mitnehmen‹‹, gab Carla gelangweilt von sich und machte eine eindeutige Geste, dass Josy ihr aus der Sonne gehen sollte. ››Mich interessieren die News aus Werwolftal nicht im Geringsten.‹‹
Etwas begann zu wimmern und zu fiepen. Ein Knurren und Fauchen drang an Carlas empfindliche Ohren und sie wurde allmählich zornig. Wo war ihr schöner Tag hin?
Finster schaute Josy drein und fixierte sie böswillig. ››Ich bin nicht dein Diener!... Ich hätte wissen müssen, dass es schon zu viel des Guten war, ihn dir zu bringen. Was habe ich mir nur dabei gedacht?!‹‹
Carla richtete sich auf der Liege auf und der Umschlag glitt zwischen ihre Schenkel. Grimmig zog sie die Brille aus ihrem Gesicht. ››Willst du mir jetzt schon wieder eine Szene machen? Ich wollte dir lediglich klar machen, dass ich ihn nicht haben will.‹‹
Aus dem Augenwinkel bemerkte sie schnelle Bewegungen, die ihre Aufmerksamkeit erlangten. Sie drehte ihren Kopf zur Tür und glaubte ihren Augen nicht trauen zu können. Die Vampirwolfwelpen spielten in ihrem Zimmer! Wild balgten sie sich auf dem Boden, sprangen und feixten um die Wette.
Carla wusste, wie klein sie gewesen waren, als Sarah sie das letzte Mal gesehen hatte. Auch ihr war der Anblick nicht verwehrt geblieben, doch mittlerweile waren sie gewachsen. Vieles in diesem Haus war ihnen schon zum Opfer gefallen: Vasen, Gläser, Fenster, Türen, Kabel und selbst vor Carlas neusten Schuhen hatte sie keinen Halt gemacht. Vor ihren teuren Schuhen!!!
Weit beugte sie sich über die Rückenlehne ihrer Liege und schätze jegliche Bewegung der Bande ab. Als sie ihren Schminkutensilien zu nahe kamen, begannen ihre Augen zu glühen und sie schrie: ››Weg von meinen Sachen, ihr widerlichen Mistviecher!‹‹
Als ein lauter Knall die Umgebung vereinnahmte, hielten die Welpen inne, legten ihre Ohren an und fiepten erschrocken.
Josy hatte Carla eine Ohrfeige verpasst. Ihre Hand vibrierte noch in der Luft; anklagend und drohend. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte sie Carla mit zwei Flammenherden fixiert, die sie brennen sehen wollten.
››Das sind Welpen! Babys! Keine Mistviecher! Wage es nicht noch einmal sie so zu nennen!‹‹
Carla hielt sich die Wange. ››Und was dann?‹‹
››Du bist unausstehlich!‹‹, fauchte Josy sie wie eine Viper an und wandte sich von ihr ab. Mit lauten Stampfen und einem eindringlichen Pfiff an ihre Welpenmeute, das sie ihr folgen sollten, verließ sie das Zimmer und knallte die Tür absichtlich laut hinter sich zu.
Carla schnaubte wie ein wild gewordener Stier. Ohne Worte ließ sie sich wieder auf die Liege fallen und setzte ihre Sonnengläser wieder auf. Reflexartig griff sie nach dem Brief. Verärgertes Schnauben gurgelte durch ihre Kehle.
Viele Briefmarken klebten darauf. Das Papier hatte einen weiten Weg hinter sich.
Wie viele Umschläge waren es jetzt schon gewesen? Carla konnte es nicht mit Sicherheit sagen.
Jedes Mal aufs neue packte sie die Neugier. In diesem Umschlag verbargen sich Ereignisse, denen sie nicht beiwohnen konnte. Eine Welt, die so fern und verborgen lag. Sie interessierte sich nicht für die langweiligen Belange der Werwölfe, aber ein wenig für die des Halbwesens.
Sie war im Zwiespalt mit diesem Mann. Damals, als sie noch nicht die Oberhand über diesen Körper errungen hatte, stellte er eine wichtige Rolle dar. Obgleich sie ihn für den Wolf in ihm verabscheute, so lebensnotwendig war er für sie gewesen. Dass sich ihre Wege nun nicht mehr kreuzten, empfand sie nicht als sonderlich schlimm. Aber da sie ihn sehr gut kannte, stellte sich Carla in diesen Augenblicken oft die Frage, was er dort tat.
Sie hielt den Umschlag in die Sonne und erhaschte ein paar Worte, die durch das Licht hindurch schimmerten. Wirr und teilweise überlappend drückte sich das Geschriebene durch das Papier.
Die Regung ließ nicht lange auf sich warten. Unter ihrer Brust rührte sich etwas. Ein Gefühl, wie die Berührung eines Geistes; seltsam kalt, unbekannt und beängstigend. Sarah war in diesen Momenten nah; zu nah! Sie schien in ihren Gedanken wie in einem Buch zu lesen. All die Worte, die Carla aufschnappte, bekam auch sie zu fassen.
Nein! Carla durfte ihn nicht öffnen, auch wenn sie noch so neugierig war. Eine Unachtsamkeit ihrerseits und sie würde abermals eingesperrt sein. Gefangen in einem Körper, den sie nicht kontrollieren konnte und es nur hin und wieder durfte. Sie wollte nicht zurück ins Nichts... Wie ein Sträfling, der zu lange die Decke seiner Zelle begutachtet hatte, war es ihr zu viel geworden.
In diesem Augenblick tat Carla ihre forsche Art auch schon wieder leid. War sie wirklich so unausstehlich, wie Josy behauptet hatte? Genaugenommen, wollte sie gemocht werden. Dennoch brauchte sie diese Maske, damit ihr keiner zu nahe kam. Wie sollte sie diese zwei Bedürfnisse nur überein bekommen? Geliebt werden und trotzdem alle auf Abstand halten? Ging das überhaupt?
Schweren Herzens seufzte sie und betrachtete den Umschlag wehmütig.
So leise, dass es niemand hören konnte, flüsterte sie: ››Verzeih mir, aber ich kann das nicht.‹‹ Dann riss sie das Papier in zwei. Die Geste war leblos und ihr Kopf fühlte sich so leer dabei an, dass sie den Fehler bereits in ihren Fingerspitzen als negatives Kribbeln fühlen konnte. Wieso war das Leben so schwer für sie? Auf der einen Seite so schön, frei und schwebend leicht, auf der anderen Seite, so besorgniserregend, schwer und zornig.
Darauf musste sie erst einmal einen Schluck von ihrem Getränk nehmen. Gierig schüttete sie das Blut in einem Schwung herunter.
So viel zu einem schönen, gemütlichen Tag auf der Liege, denn dieser war nicht nur von ihren Gedanken getrübt, sondern auch von ihrem Durst und den Drang die Vorratskammer aufzusuchen...
››Hey, wir haben nichts mehr zu trinken!‹‹ Grayson ging die Treppe zum Wohnzimmer herunter und blickte sich suchend um. ››Haben wir echt gar nichts mehr im Haus?‹‹
Carla saß auf der Schaukel der Veranda und hatte nicht die Absicht sich zu dem farbigen Vampir umzudrehen. Sie war sich ihrer Schuld, mal wieder die letzte Blutkonserve genommen und nicht beim Lieferanten angerufen zu haben, bewusst. Ihre Sturheit hinderte die Blondine daran. Nach ihren Streitigkeiten mit Josy schaltete sie erst recht auf durchzug.
In den letzten drei Monaten konnte sie an nichts