Und dann passierte es.
Als der Magenkrampf abermals wie eine Druckwelle den Körper schund, musste sie sich übergeben. Angewidert spuckte sie aus und keuchte.
Niemand sagte etwas. Die weihnachtliche Musik im Hintergrund klang plötzlich mehr als grotesk.
Carla war zum Weinen zumute. Sie fühlte sich nicht nur schlecht, sondern erniedrigt. Wollte ihr Verstand ihr somit klar machen, dass ihre Gedanken von vorhin nichtig waren? Dass sie keine Chance hatte sich diesem Besuch und ihrem Ende zur Wehr zu setzten?
Geschockt sah sie in die Schüssel hinein und fand dort pures Blut vor. Unberührt, fast rein, als hätte man es gerade erst aus einer Konserve genommen.
Dann wurde ihr Schwarz vor Augen. Das Gefühl von Schwerelosigkeit ergriff sie und zog sie weit fort. Sie hörte noch wie das Blut in der Metallschale schwappte und spürte wie ein Luftzug ihre Wangen streifte. Der Hauch war ganz nah. Jemand musste nach der Schüssel gegriffen haben, um sie vor dem Fall zu bewahren.
Carla fühlte sich so unbeschreiblich leicht. So musste sich eine Feder fühlen. Die Feder eines Vogels, der in der Nacht umherflog, denn sie sah nichts außer Dunkelheit.
Stimmen versuchten die Finsternis zu durchdringen, doch sie war nicht mehr anwesend.
››Das muss doch bald ein Ende finden! So kann es nicht weitergehen!‹‹, zischte Josys Stimme.
››Bald ist sie da, dann haben wir Gewissheit. Bis dahin können wir nur warten!‹‹ Celest klang seltsam befremdlich; fast ängstlich und energisch.
››Was geht hier eigentlich vor?‹‹, knurrte Grayson.
Doch auch wenn diese Sätze noch an Carlas Ohren drangen, waren sie prompt wieder vergessen. Ihr Unterbewusstsein zwang sie zur Ruhe, die sie sich zweifelsohne lange nicht mehr gegönnte hatte. Und so schlief sie ein und gab sich der Bewusstlosigkeit hin.
Die Sonnenstrahlen stachen durch das Fenster hindurch wie dicke Lichtkegel. Grell versuchten sie die ersten Augenaufschläge Carlas zu behindern.
Sie konnte nichts sehen, war geblendet von der Helligkeit. Es kam ihr fast so vor, als seinen ihre Augen verklebt. Sie sträubten sich vor der Sonne und schlossen sich automatisch. Jeder Versuch das Umfeld zu betrachten, misslang.
Lautstark gab sie sich einem Seufzer hin und blinzelte. Die Finsternis zuvor war ihr lieber gewesen. Obgleich sie sich an nichts mehr erinnern konnte, aber dieses Licht brachte sie fast um den Verstand. Es schien ihr völlig fremd zu sein. In diesem Moment kam es ihr so vor, als öffnete sie zum ersten Mal ihre Augen; erwacht in einer unbekannten Welt.
Ihr Körper war schwer wie Blei. Ihr Kopf so leer, als hätte er noch nie an etwas denken müssen. Ihr Verstand allerdings schien Carla inständig vor etwas zu warnen. Heiß wie brodelnde Lava brannte sich ein Schrei hinein und hallte durch ihre Hülle. Jede Zelle begann zu reagieren und zu zucken.
Sie wollte es nicht, aber dennoch schlug sie die Augen schlagartig auf. Die grelle Sonne stach in sie hinein, wie unbeschreiblich schmerzhafte Schwerthiebe.
Carla war sich gerade ihrem Körper sehr fern und trotzdem reagierte er auf sie. Als Schutz hob sich der Arm an und belegte das Gesicht mit einem Hauch von Schatten.
All diese Reaktionen in den letzten Wochen brachten ihren Körper zum Erliegen. All der Schmerz und der Zerfall nagten an ihr wie ein Raubtier. Wie konnte sie dies nur stoppen? Wie?
Erneut schloss sie ihre Augen und gab sich der Schwärze hin. Dabei tastete sie ihre Umgebung ab. Wo war sie überhaupt?
Ihr Untergrund war weich und bequem. Neben ihr ein Tisch. Eine Tür in der Nähe. Ah, das Wohnzimmer. Der Geruch der alten Bücher, der ihre Nase kitzelte, war unverkennbar. Heute allerdings war der Raum weit mehr mit einem anderen Duft erfüllt. Tanne. Frisch wie im Wald verströmte er seinen Geruch.
Als Carla ihn beruhigend auf sich wirken lassen wollte und ihn tief einatmete, schwappte ein weiterer Duft auf sie ein. Wie eine Schlange schlängelte sich in ihre Nase und war unbeschreiblich betörend. Flammende Begierde versenkte die Kehle und auch ihre Augen gierten glühend danach. Hitze erfasste die Augenhöhlen. Das Herz begann zu rasen. Vermehrter Speichel plagte auf einmal ihren Mund.
Erst als ihre Neugier die empfindlichen Schallwellen abermals antrieb, wurde ihr klar, dass sie nicht allein war. Jemand saß ihr gegenüber. Die Person war von einer Wolke aus Kräutern umgeben. Wie eine schützende Wand verbarg er den Eigengeruch ihres Gegenübers.
Nie zuvor war Carla so beeinträchtigt gewesen, wie in diesem Moment. Sie spürte die Macht, die dieser Duft auf sie auswirkte. Er war beständig und kraftvoll. Er schien ihrem Körper neue Befehle zu senden und ihn tanzen zu lassen.
Dennoch versuchte sie vehement sich zu beherrschen und die Gier nicht nach außen zu tragen. Ihr war nur zu gut bewusst, wer dieser Gast sein musste. Durch das Tasten war ihr nicht entfallen, dass es sich um eine Frau handelte. Es musste die Frau sein, die sie schon lange erwartet hatte.
››Wie spät ist es?‹‹, hauchte Carla fast tonlos.
››Sieben Uhr abends‹‹, sagte die Frau mit tiefer Stimme.
Carla antwortete erheitert: ››Dann ist ja gut, ich dachte schon, ich hätte das Geschenkeauspacken verpasst.‹‹
››Sieben Uhr abends am nächsten Tag.‹‹
››WAS?‹‹
In nur einer Sekunde saß sie senkrecht auf dem Sofa und hatte ihre Augen abermals weit aufgerissen. Die Erkenntnis das freudige Ereignis verpasst zu haben, war ein Schock, der sehr weh tat.
››Du hast mehr als einen Tag verpennt, Herzchen! … Was würde ich dafür geben auch mal wieder richtig zu schlafen!?‹‹ Die Dame zuckte mit den Schultern und schmunzelte.
››Das ist alles andere, als lustig!‹‹, fachte Carla sie an. Die Augenhöhlen begannen zu brennen und der blanke Hass schoss in ihre Adern. Niemand konnte etwas für ihre Lage, aber es schien gerade diese Art von Hilflosigkeit zu sein, die sie zu hassen begann und energisch verfluchte. Allem voran verharrte der Gedanke, dass wohl diese Unbekannte es sein musste, der Carla an den Kragen wollte. Es war nicht nur die Tatsache, dass sie einen ganzen Tag verloren hatte, sondern die Anwesenheit dieser Person, die sie wie Gift traf und verätzte. Angst, Sorge, Verzweiflung und Hass brachen über sie herein wie ein Gewitter. Gefühle waren etwas, was Carla nicht brauchte, sie machten sie schwach und dennoch waren sie so süß wie Honig. Carla hatte auch die guten Seiten des Lebens erfahren und die wollte sie nicht mehr hergeben. Ein Zwiespalt der einen frostigen Schauer über ihren Rücken wandern ließ.
Gekonnt rief sie sich zur Ruhe. Inständig hatte sie sich eingeredet, dass sie stark sein musste. Carla konnte nicht wissen, was ihr für ein starker Vampir gegenüber saß.
Sie drehte den Kopf und wollte ihren vermeidlichem Feind in die Augen blicken. Was war dies für eine Frau, die man geholt hatte, damit sie ihr den Teufel austreiben oder sie gar töten sollte? Welcher mächtigen Fähigkeit würde sie gleich ausgesetzt werden? Alle Muskeln spannten sich zum Zerreißen an, jeder Zeit bereit einer Attacke auszuweichen, oder ihr entgegen zu wirken.
Der Anblick war seltsam. Er war alles andere, als bedrohlich. Carlas wutdurchtränkte Augen verloren ihr Flimmern und der Mund öffnete sich leicht. Fassungslosigkeit untermalte ihre Mimik.
Es war wohl das erste Mal, dass Carla einen alten Vampir sah. Stets waren es nur junge Körper, die man verwandelt hatte. Schön. Perfekt. Zwar war sie alles andere, als hässlich, doch auch das Gift der Verwandlung hatte es nicht vollbracht die Alterszeichen zu verwischen.
Die Sechzig war schon lange überschritten. Etliche Falten gruben sich in ihr Gesicht. Ihr schulterlanges Haar war grau und teilweise mit weißen Strähnen durchzogen. Die Unbekannte trug eine dunkle Rüschenbluse und einen dicken Wollrock, die so gar nicht zu den Gästehausschuhen passten.
Carlas Reaktion auf ihr Äußeres schien sie nicht