Der Zarewitsch. Martin Woletz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Martin Woletz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742791696
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hätte, alleine in den Wald zu laufen?! Entgegen den Befehlen der Schlepper. Tot und verscharrt im Wald. Nach meiner Genesung und der Einbürgerung war es für mich glasklar gewesen, dass ich diese Verbrecher weiter bekämpfen würde. Wenn es von Bulgarien aus nicht mehr ging, dann eben von hier. Aber nichts zu sagen, wäre für mich nie in Frage gekommen. Klar hatte ich mich nicht freiwillig für die Flucht entschieden, außer für den letzten Teil. Und ich hatte vielleicht auch keine Verwandten und Freunde mehr in der Heimat, die man unter Druck setzen konnte. Obwohl ich immer noch hoffte, meine Mutter und meine Schwester eines Tages lebend zu finden. Aber ob ich nun auf der Flucht mein Leben riskierte oder durch meine Aussage, war doch egal. War es diesen Menschen denn immer noch nicht klar, dass sie sich und allen anderen einen Gefallen taten, wenn sie auspackten und die Hintermänner preisgaben? Damit niemand mehr in einsamen Wäldern von Kugeln durchsiebt werden würde.

      „Woher kommen Sie?“ eröffnete ich die Befragung mit ruhiger, klarer Stimme. Ich hatte mich vor den kleineren Mann auf den Boden gehockt und blickte ihm direkt in die Augen. Der Mann war etwa vierzig bis fünfundvierzig Jahre alt, sah aber bei weitem älter aus. Sein gebräuntes Gesicht war von einem stoppeligen Bart geprägt, der schon mehr grau als schwarz war. Die Wangen waren eingefallen und von tiefen Falten geprägt. Auf der Stirn war eine verkrustete Wunde zu sehen, so als hätte er sich vor ein paar Tagen den Kopf gestoßen. Die Haare waren ungepflegt, jedoch noch dunkel bis auf die Ränder.

      „Woher kommen Sie?“, wiederholte ich die Frage eine Spur lauter und eindringlicher. Ich zog den Mann an den Handschellen nach oben und stand ihm nun gegenüber. Schmale Schultern, sehnige Arme. Ich war davon überzeugt, dass dieser Mann eine lange harte Flucht hinter sich hatte. Die an sich gebräunte Haut hatte einen grauen Teint. Seine Augen waren milchig-gelb. Sein Atem roch schlecht und war flach. Der Mann war am Ende seiner Kräfte, fertig, wahrscheinlich krank. Doch gleichzeitig versuchte er sich nichts anmerken zu lassen. Er wich meinem Blick nicht aus. Er wartete einfach ab. Es schien, als habe er nichts mehr zu verlieren.

      „Verstehen Sie meine Frage?“, lockte ich ihn.

      „Verstehen Sie, was ich von Ihnen wissen möchte?“ Noch immer kam keine Reaktion. Ich trat einen Schritt zurück und blieb noch einen Augenblick vor den Männern stehen, drehte mich dann um und ging zur Tür zurück. Den beiden Beamten befahl ich, die Männer zu bewachen.

      „Wo ist der Hauswirt?“, fragte ich die Beamtin.

      „Hier!“ antwortete sie sofort und deutete in Richtung Eingangstür. Dort stand ein nervöser fetter Mann, jenseits der fünfzig im Unterhemd und Jogginghose. Er war ungepflegt mit gelben Zähnen. Er stank nach Schweiß und kaltem Rauch. Ich öffnete eine Türe im Flur.

      „Hier rein!“ herrschte ich den Mann an. Die Beamtin schickte sich an mitzugehen, doch ich blockte sie im Türrahmen ab.

      „Sie bleiben hier. Wenn ich wieder rauskomme, dann sagen sie mir, wie Sie darauf gekommen sind, dass die Männer aus Russland stammen.“

      „Das kann ich Ihnen auch gleich sagen, Chefinspektor. Für mich klingen „Stoy“ und „Njet“ nach den russischen Wörtern für „Stopp“ und „Nein“.“ Die Kollegin lächelte triumphierend und war sich sicher, die Scharte von vorhin ausgemerzt zu haben.

      „Das ist alles?“ fragte ich sie gelangweilt. Ich hatte nicht vor, sie Oberwasser gewinnen zu lassen.

      „Ich hoffe, Ihnen fallen noch bessere Gründe ein.“ Damit ließ ich die verdutzte Polizistin stehen und schloss die Türe von innen.

      „Warum ist der Kerl so ein Arschloch?“, fragte die Polizistin die beiden Kollegen nachdem ich die Türe von innen geschlossen hatte.

      „Nimm’s nicht so tragisch. Er hat seine Macken aber er ist ein genialer Ermittler. Ich hab gehört, dass er bei seiner eigenen Flucht fast draufgegangen wäre. Seine ganze Familie ist seitdem verschollen oder tot. Wahrscheinlich haben die dran glauben müssen. Bleib auf Distanz und mach nur, was er sagt. Dann ist alles ok.“ Der ältere der beiden Kollegen, ein Gruppeninspektor, ließ den Oberlehrer raushängen.

      „Ist das alles? Ich streng mich an, zermartere mir den Kopf und das Einzige, was er sagt, ist, dass mir hoffentlich noch was Besseres einfällt. Der kann mich mal! Wenn er mir nochmal blöd kommt, dann lernt er mich kennen! Wofür hält der sich eigentlich?! Nur weil er Chefinspektor ist, hat er noch lange kein Recht, mich wie eine Anfängerin hinzustellen!“ Die attraktive Beamtin war auf Hundert.

      „Ich kann Dir nur raten, keinen Ärger mit Korelev zu suchen. Der Kerl kennt kein Erbarmen. Du kennst doch Chefinspektor Spitzer, den Macho-Man?“

      „Ja natürlich, auch so ein eingebildeter Kerl.“

      „Die beiden haben Stress, wann immer sie sich sehen. Aber ich hab bisher noch nie erlebt, dass Spitzer irgendwie an Korelev herangekommen wäre. Der hat ihn immer noch geschnupft und manche meinen, dass ihm das nicht immer nur mit Worten gelungen ist. Wenn der Spitzer könnte, dann würde er den Korelev mit Freude ins Weltall schießen. Mit Papas Hilfe könnte es ihm vielleicht sogar gelingen, wenn der Korelev nicht höllisch aufpasst.“

      Der Vermieter hatte sich auf den Rand der Badewanne gesetzt. Eigentlich hätte er in die Badewanne gehört, denn die hatte er sicherlich seit einigen Wochen nicht mehr von innen gesehen, so wie er stank. Der aufgeschwemmte Körper schien die bleiche, dünne Haut des Mannes zum Platzen zu bringen. An den Oberarmen entdeckte ich frische rote Flecken, die nach Schlagmalen aussahen. Das dünne, strähnige Haar hing ungepflegt ins Gesicht und der hässliche Dreitagesbart sah nicht nach Absicht aus.

      „Warum hab ich von Ihnen nichts gehört?“ Ich hatte es mir zur Angewohnheit gemacht, meine Gesprächspartner immer mit „Sie“ anzusprechen. Nicht aus Respekt oder der Etikette wegen, sondern weil ich keine Vertraulichkeiten mit Menschen austauschen wollte, mit denen ich nur beruflich zu tun haben musste.

      „Mann, Chef, ich wollte das gleich heute machen. Ich schwör‘s Ihnen! Die sind erst gestern Abend zu mir gekommen. Und heute ist Einer tot. Scheiße, Mann! Ich wollte es Ihnen wirklich gleich sagen, aber ich hab selbst nichts davon gewusst.“

      „Wovon haben Sie nichts gewusst?“

      „Na, dass ich wieder eine Lieferung bekomme. Das war diesmal anders.“

      „Wie anders?“

      „Normalerweise kriege ich vier oder fünf Tage vorher Bescheid. Dann richte ich alles her und sehe zu, dass die Vorräte aufgefüllt sind. Wenn ich plötzlich für zehn oder zwanzig Leute einkaufen gehe, dann fällt das gleich auf. Na und diesmal war gar nichts. Die sind in der Nacht einfach vor der Tür gestanden und ich musste sie rein lassen. Der große Typ hat gesagt, dass sie nur ein oder zwei Tage bei mir bleiben und dann weiter ziehen. Wenn die Lieferung angekündigt ist, sind sie länger bei mir.“

      „Und weiter.“

      „Nichts weiter. Heute Morgen komme ich runter um Ihnen Ihr Frühstück zu bringen und da liegt der eine vor dem Fenster und rührt sich nicht mehr. Keine fünf Minuten später rückt hier die halbe Armee an und stellt mir das Haus auf den Kopf.“

      „Haben Sie die Polizei angerufen?“ hakte ich nach.

      „Nein, Mann, haben Sie nicht zugehört? Ich hab den Toten selber noch nicht mal richtig gesehen, da wart Ihr schon vor der Haustüre.“

      „Gibt es in dieser Wohnung ein Telefon?“

      „Nein, Chef, machen Sie Witze? Ich weiß nicht, wer angerufen hat.“

      „Wie sollte es weitergehen? Wann werden die Männer abgeholt?“

      „Ehrlich Chef, das weiß ich nicht. Sie haben gesagt, sie melden sich heute oder morgen bei mir. Bis dahin soll ich aufpassen und die Penner nicht vor die Hunde gehen lassen.“ Ich machte einen kleinen Schritt auf den Vermieter zu und blickte zu ihm herab. Der Mann war um gut zehn Zentimeter kleiner und mir stieg der fettige Schweißgeruch aus seinen Haaren in die Nase. Ich musste mich beherrschen, dass ich nicht gleich wieder einen Schritt zurück machte.

      „Sie haben jetzt noch genau fünf Sekunden Zeit, Schweiger,