Der Zarewitsch. Martin Woletz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Martin Woletz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742791696
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musste mich an den Küchentisch setzen und wollte den Gedanken nicht zu Ende denken. Ich blickte in die Zeitung um mich abzulenken. Die Erinnerung an meine Flucht hatte ich bis heute nicht restlos verarbeiten können. Sie war schuld an meiner Gefühlskälte und an meiner Kompromissunfähigkeit. Frauen und Mädchen, die ich danach kennengelernt hatte, warfen mir vor, ich sei hartherzig und egoistisch. Ich würde über Leichen gehen, wenn ich mein Ziel erreichen wolle. Ich hatte diese Vorwürfe lange nicht verstanden. Für mich war es selbstverständlich, dass ich mir Ziele setzte und diese unter allen Umständen zu erreichen versuchte. Wozu wären Ziele sonst gut, wenn man sie bei den ersten Schwierigkeiten umformulieren oder gar aufgeben würde? Das ist nicht gefühlskalt oder egoistisch, sondern stark und konsequent! Und wenn irgendjemand das nicht verstehen konnte, dann war es besser mir aus dem Weg zu gehen! Ich hätte die Flucht nicht geschafft, wenn ich den Schwierigkeiten damals aus dem Weg gegangen wäre oder irgendjemandem außer meiner Familie vertraut hätte. Doch es musste irgendetwas Wahres an diesen Vorwürfen sein, denn die meiste Zeit lebte und arbeitete ich alleine. Ohne Partner im Leben und ohne Partner im Beruf.

      Ich war in Gedanken schon fast bei meinen gescheiterten Beziehungen angelangt, als mir meine Erinnerung einen Streich spielte und wieder in das kleine Waldstück an der österreichischen Grenze zurückkehrte.

      Ich hörte ein Geräusch, wie wenn Luftballons zerplatzten. Rasche kurze Knaller. Unheimlich schnelle und viele Platzer. Die Gruppe vor dem Versteck, in dem ich noch vor wenigen Minuten selbst gewartet hatte, auf ihrer grell beleuchteten Bühne, begann zu schreien und zu zucken. Es sah einen Moment so aus als würden sie zu einem eigenwilligen Rhythmus tanzen. Einige versuchten weg zu laufen oder sich hinter dem Verschlag in Sicherheit bringen. Doch keiner von ihnen schaffte es. Nach wenigen Sekunden war der Spuk vorbei und die Flüchtlinge tot. Die Männer in den schwarzen Lederjacken hatten sie eiskalt mit schallgedämpften Maschinenpistolen erschossen. Ich war wie versteinert hinter seinem Baum versteckt und begriff nicht, was hier vor sich gegangen war. Ich wollte schreien, mein Magen drehte sich um, Tränen traten mir in die Augen. Sämtliche Kraft schien meinen Körper zu verlassen. Erst allmählich wurde mir klar, dass keiner der Flüchtlinge, die bis hier her gekommen waren, jemals den Westen gesehen hatten. Und es würde auch niemandem, der dieser Bande vertraute, die Flucht gelingen. Dieser Wald war ein einziges Massengrab!

      Mir wurde plötzlich klar, was das für Mutter und Radka bedeutete und Bäche von Tränen liefen über meine Wangen herunter. Ich hatte noch nie so geweint, seit ich mich erinnern konnte. Nur einmal bei der Sache mit Simeon. Doch jetzt schossen die Tränen in Strömen über mein Gesicht. Ich weinte um Radka, um Plamen, Vater und Mutter. Nach und nach wich die Ohnmacht und ich wurde zornig. Ein Gefühl, das ich erst einmal empfunden hatte. Ich wollte diese Männer jagen wie damals Simeon. Ich war jetzt voller Wut und Hass für diese Verbrecher. Nun wusste ich, was Jokov mit mir vorgehabt hatte. Er wollte mich einfach abknallen und wie einen räudigen Hund liegen lassen. Onkel Stanimir und Vater waren im Kampf gefallen, Plamen war verschleppt und vermutlich getötet worden. Radka und Mutter waren ebenfalls verschleppt worden. Vielleicht tot oder irgendwo in einem Bordell. Oder sie waren auf dem Weg hierher. Ich konnte nichts für sie tun und sie nicht vor dem gleichen Schicksal bewahren, das unsere Fluchtgruppe ereilt hatte. Ich war verzweifelt. Immer noch rasten die Gedanken durch meinen Kopf. Ich konzentrierte mich nicht mehr darauf, was sich bei der Hütte abgespielt hatte. Das wäre mir fast zum Verhängnis geworden. Die beiden Killer hatten die Leichen durchsucht. Offensichtlich suchten sie nach Dokumenten, die eine Identifizierung der Leichen ermöglichte. Dann begannen sie die Leichen zu zählen. Und mir wurde klar, was das für mich bedeutete. Dann entdeckten Sie den Durchlass in der Wand des Holzverschlages. Zwei weitere Männer mit Maschinenpistolen sprangen aus dem schwarzen Jeep. Jeder machte sich in eine andere Richtung auf die Suche nach mir. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie mich finden würden. Ich kroch rückwärts tiefer ins Unterholz und als ich die Hütte kaum noch erkennen konnte, stand ich auf und lief davon. Ich achtete nicht auf Äste, Zweige oder Büsche. Ich rannte einfach drauf los. Mutter und Radka hatten nur dann eine Chance, wenn ich diesen Mördern über die Grenze entwischen konnte und sie irgendwie warnen konnte. In diesem Wald würden sie sonst sterben, so wie alle anderen. Ich rannte immer schneller, fiel hin, prallte gegen Büsche und Bäume, schlug mir den Kopf, die Knie und die Hände blutig. Die Killer hörten den Lärm, den meine Flucht verursachte und nahmen die Verfolgung auf. Wieder vernahm ich die Schüsse und eine Kugel schlug nicht weit von mir in einem Baum ein. Ich schlug einen Hacken und lief fast im rechten Winkel ein paar Schritte. Ich wusste nicht, wo ich aus dem Wald kommen würde oder ob ich nicht noch weiter hineinlief. Also machte ich wieder einen Hacken und rannte in die ursprüngliche Richtung weiter. Die Schüsse kamen näher, wurden lauter. Die Kugeln schlugen immer dichter neben und hinter mir ein. Ich stolperte wieder, stürzte und die knackenden Äste führten die Männer immer näher zu mir. Trotz Schmerzen im Knie sprang ich auf, lief immer weiter. Wieder schlug ich einen Hacken und glaubte in einiger Entfernung einen Lichtkegel zu entdecken. Sofort warf ich mich flach auf den Boden und lugte vorsichtig unter einem Busch hervor. Hinter mir hörte ich die Verfolger näher kommen. Vor mir entdeckte ich tatsächlich einen grellweißen Lichtkegel. Ich saß in der Falle. Sie hatten mich umzingelt! In wenigen Augenblicken würden sie mich entdeckt haben und dann erschießen. Doch anstelle von Angst empfand ich damals nur Sorge, Trotz und Kampflust. Ich dachte nur an meine Familie. Ich wusste, dass ich ein Wunder brauchte, doch ich wollte kämpfen bis zum Schluss. Mir fiel Vater ein, wie er im Garten stand, als die Schläger die Gemüsebeete zerstörten. Ich würde den Killern nicht die Genugtuung geben, in dem ich um mein Leben bettelte. Doch nun hatten sie mich umzingelt. Ich hörte mehrere Schüsse vor mir. Die Kugeln schlugen einige Meter neben mir ein. Nun war es egal. Ich konnte hier liegen bleiben und sterben oder noch einen letzten Versuch unternehmen, Jokovs Männern zu entkommen. Von vorne und von hinten peitschten nun die Schüsse und ich vernahm das Keuchen meiner Jäger. Langsam erhob ich mich vom Waldboden und drehte mich im Kreis. Ich wollte meinen Verfolgern in die Augen blicken, wenn sie auf mich schossen. Ich wollte, dass sie in meine Augen sehen mussten, wenn sie abdrückten. Sie sollten wissen, dass ich keine Angst mehr vor ihnen hatte. Sie sollten zu Jokov gehen und ihm sagen, dass ich sie, dass ich Jokov ausgelacht hatte. Doch plötzlich waren die vier Männer in den schwarzen Lederjacken verschwunden. Kein Lichtkegel, kein Keuchen und keine Schüsse mehr. Ich drehte mich wieder um und sah immer noch den einzelnen Lichtkegel, doch größer und in geringer Entfernung. Vorsichtig ging ich auf das Licht zu. Ich hielt mir die Hand vor die Augen als ich geblendet wurde. Jetzt merkte ich die Anspannung. Ich spürte, dass mein Kopf schmerzhaft pochte und merkte, dass ich hinkte und das rechte Bein kaum noch belasten konnte. Ich lehnte mich an einen Baum und blickte direkt in das Licht. Stimmen und Rufe in einer Sprache, die ich nicht kannte, drangen durch das grelle Licht zu mir herüber. Ich hob die Arme und humpelte einige Schritte nach vorne. Ich war am Waldrand angekommen. Warum schossen diese Kerle jetzt nicht auf mich? Warum machten sie nicht Schluss mit der Jagd? Hier und jetzt. Wollten Sie mich weiter jagen, wie ich Simeon gejagt hatte? Hatten Sie erfahren, was ich mit dem Sohn eines ihrer Männer getan hatte? Als ich ganz aus dem Wald heraustrat, rechnete ich damit, einen Schuss zu hören. Die Schmerzen des Einschlags zu spüren, wenn das Projektil meinen Körper zerfetzte. Mehr, als ich jetzt bereits an Schmerzen empfand. Ich blutete stark aus einer Wunde am Kopf und hatte mir das rechte Knie übel verletzt. Ich stand schwankend einer Gruppe von Männern gegenüber, die mir etwas zuriefen, was ich nicht verstand. Ich verstand sie nicht, aber ich sah die Läufe von mehreren Maschinengewehren. Dann brach ich zusammen. Das letzte, was ich wahrnahm, bevor ich das Bewusstsein verlor, war, dass sich ein Mann über mich beugte. Er trug eine Uniform und eine Armschleife. Eine rot-weiß-rote Armschleife.

      Vier

      „Wir hatten ein paar Probleme mit einer Grenzpatrouille, Jurij.“ Einer jener Männer, die die Drecksarbeit im Wald an der österreichischen Grenze erledigt hatten, war zu Jurij gegangen und versuchte Korelevs Flucht zu verheimlichen.

      „Was heißt das?“

      „Wir waren gerade fertig, als eine Grenzpatrouille aufgetaucht ist. Ich glaube nicht, dass sie was gesehen haben, aber sie blieben eine ganze Weile stehen und leuchteten in den Wald hinein. Zum Glück durften sie nicht weiter als bis zum Waldrand. Wenn die aber die Ungarn benachrichtigen, dann könnte es eng werden.“

      „Sind