Der Zarewitsch. Martin Woletz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Martin Woletz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742791696
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      „Ja!“

      „Habt Ihr alle Spuren beseitigt?“

      „Na klar, Jurij. Gleich als sie gegangen sind, haben wir den Verschlag eingerissen. Die Leichen sind im Steinbruch und sonst sieht man auch nichts mehr. Trotzdem wäre es besser, wenn wir einen neuen Zielpunkt in der nächsten Zeit benützen.“

      „ Wo ihr die Leute kalt macht, ist mir egal. Wenn ich allerdings Ärger mit der Polizei bekomme, dann könnt ihr Euch und Eure Familien beim nächsten Mal gleich selbst verladen.“

      Der Mann wusste, dass Jurij nicht scherzte.

      „In einer Woche habe ich die nächste Lieferung und da will ich, dass alles wieder in Ordnung ist, verstanden.“

      „Jawohl, Jurij. Verstanden.“

      Korelevs Flucht blieb ein Geheimnis für Jokov. Sein Menschen- und Drogenhandel ging weiter und die Route, die er aufgebaut hatte, war viel erfolgreicher als die Nordroute.

      In den kommenden Monaten kämpfte Jokov an der Seite seines Vaters um das Familienunternehmen auszubauen. Die Einnahmen waren gewaltig und mit einem Teil davon wurden immer mehr Leute bestochen und geschmiert. Es schien fast, als könnte nichts und niemand die Jokovs stoppen. Lokale Polizeichefs standen auf der Gehaltsliste oder wurden samt ihren Familien getötet. Der Zarewitsch führte ein grausames Regime. Eine neue Widerstandsbewegung, wie die Korelevs eine organisiert hatten, gab es nicht mehr. Jokov wanderte wie eine Heuschrecke weiter nach Polen und in die Ukraine und installierte ebenfalls eine Organisation des Schreckens. Regionale Organisationen wurden eingegliedert und mussten ihren Obolus leisten. Zehn Jahre, nachdem Jurij nach Bulgarien gegangen war, kam er zurück nach Moskau und konnte seinem Vater von seinen Erfolgen berichten. Die Jokovs hatten inzwischen mehrere Anwesen rund um Moskau und St. Petersburg und wechselten unregelmäßig ihr Quartier um ihren Gegnern kein klares Ziel zu bieten.

      Trotz aller Vorsicht waren sie dennoch in Kämpfe innerhalb und außerhalb der Organisation verwickelt. Vor allem die ständigen Attacken der Mafiajäger in Russland waren Jurij ein Dorn im Auge. Nicht nur, dass sie viel Geld und Drogen einbüßen mussten, war es für Jurij ein Zeichen von Schwäche, wenn es ihm nicht gelang, diese Attacken zu stoppen.

      Der oberste Mafiajäger in Russland war Oberst Vladimir Tchatkov. Seine Truppe bestand fast nur aus FSB-Agenten und militärisch ausgebildeten Elitekämpfern. Was Jokov besonders ärgerte, war, dass Tchatkov die Angewohnheit hatte, seine Einsätze und Erfolge auf Video und Foto festhalten zu lassen und diese Filme dann tagelang im staatlichen Fernsehen zu sehen waren. Über Misserfolge oder Fehlschläge erfuhr die Öffentlichkeit nichts. So wurde Tchatkov schnell ein Star in der Öffentlichkeit und der Liebling der Medien. Er galt zwar als anmaßend und arrogant war aber dennoch unantastbar. Auch die ‚Auslandsfilialen‘ der Jokovs wurden immer wieder von den Behörden ins Visier genommen. Jurij hatte schon oft versucht, seinen Vater davon zu überzeugen, dass es endlich an der Zeit war, etwas gegen diese ewigen Attacken zu unternehmen.

      „Was willst Du tun, Jurij? Die ganze Polizei töten? Das ist unmöglich.“

      „Wir müssen Ihnen klar machen, dass es keinen Sinn hat, uns zu jagen. Sie können die anderen Verbrecher jagen. Damit haben sie genug zu tun. Ich will, dass sie uns in Ruhe lassen!“

      „Jurij, das wird nie geschehen. Ich habe Dir beigebracht, dass unser Geschäft darin besteht, Dienstleistungen zu erbringen, die viele Menschen benötigen. Aber das Gesetz steht gegen uns. Und solange das so ist, wird man Jagd auf uns machen. Wir können uns wehren, aber man wird uns immer jagen.“

      „Wir müssen Ihnen zeigen, dass wir zu stark sind. Wir sollten Sie angreifen und ihnen zeigen, dass wir sie immer und überall erwischen können.“

      „Ich bin nicht davon überzeugt. Wir müssten alle unsere Kräfte auf diesen einen Schlag bündeln und hätten keine Reserven mehr um unsere Geschäfte zu schützen. Das ist nicht klug.“

      „Das heißt, Du willst Dir das gefallen lassen und weiterhin Geld an diese Scheißer verlieren? Das kann nicht Dein Ernst sein!“ Jurij stand wütend aus seinem Sessel auf.

      „Jurij, wir verlieren vielleicht fünf Prozent pro Jahr an die Behörden. Sieh es als Investition. Du darfst nicht zu gierig werden! Wenn Du gierig wirst und den anderen nicht auch eine Kleinigkeit gönnst, dann wirst Du vor die Hunde gehen."

      „Vater, wenn wir nichts unternehmen, werden sie immer stärker und eines Tages sind sie vielleicht zu stark für uns. Und dann gehen wir erst recht vor die Hunde! Das kannst Du nicht wollen!“

      „Jurij, eines Tages wirst Du das Unternehmen ganz übernehmen. Dann nämlich, wenn ich tot bin. Solange ich aber die Entscheidungen treffe, sage ich Dir, dass wir die Miliz und Polizei nicht angreifen. Wir verteidigen uns nur, das ist genug.“

      Jurij verschwand wütend und ging in sein Büro. An diesem Nachmittag saßen Vater und Sohn in ihren Büros und besprachen sich mit Ihren engsten Mitarbeitern. Sie trafen Vereinbarungen und besprachen die Aktivitäten der nächsten Tage. Fast so, wie man sich die Arbeit in einem Familienunternehmen vorstellen würde. Es ging um die Übergabe und Übernahme des Unternehmens und diese konnte nur durch den Tod des Firmenchefs erfolgen.

      Fünf

      Der schwere Mahagonitisch war mit weißen Damasttüchern gedeckt. Die goldenen Kerzenständer ragten aus den unzähligen Silberschalen und Silbertabletts hervor auf denen die teuersten Delikatessen angerichtet waren. Josef Iwanowitsch hatte seine Clanchefs versammelt. Es waren dreizehn Jahre vergangen, seitdem in dieser Runde Alexander Poroschenko den goldenen Löffel abgegeben hatte. Der Pate musste schwere Entscheidungen treffen und er hatte sie getroffen. Josef Iwanowitsch war in diesen dreizehn Jahren ein anderer Mensch geworden. Seine Frau und sein älterer Sohn waren tot, nur Jurij war ihm noch geblieben. Er war sein ganzer Stolz gewesen, ein würdiger Nachfolger, dem er das Imperium übergeben wollte. Jurij hatte ihn nie enttäuscht. Er hatte die zweite Route für den Menschenhandel erfolgreich aufgebaut und mehrere andere Clans im Ausland übernommen. Josef Iwanowitschs Geschäfte hatten der Familie Millionen Dollar und Euro gebracht. Sie waren nahezu unangreifbar geworden. Der Junge kam ganz nach seinem Vater.

      Doch vor zwei Wochen brach die Welt des Josef Iwanowitsch, die Welt des größten Unterweltbosses östlich der Donau zusammen. Er musste erfahren, dass sein einziger und geliebter Sohn einen folgeschweren Fehler begangen hatte. Er hatte Menschen vertraut, die ihn belogen und hintergangen hatten. Wenn man seinen Mitarbeitern nicht mehr vertrauen konnte, war eine Organisation verwundbar geworden. Jederzeit konnte ein Angriff auf die Familie erfolgen. Jurij hatte einen Zeugen am Leben lassen. Und noch dazu einen Zeugen, an den im Moment niemand aus der Organisation herankam. Er hatte sich außerhalb des Einflussbereiches von Josef Iwanowitsch niedergelassen und konnte dort in aller Öffentlichkeit leben. Auch wenn das Jahre her war, gab es einen Umstand, der Josef Iwanowitsch zum Handeln zwang: der Zeuge war ein ehemaliger Widerstandskämpfer in Bulgarien gewesen und jetzt wieder zu einem Polizisten geworden, zu einem Mafiajäger. Josef Iwanowitsch hatte zwei Wochen mit sich gerungen, doch er konnte nicht anders. Er musste durchgreifen, musste sein Lebenswerk schützen. Sein Lebenswerk war das Einzige, was ihm – außer Jurij - noch geblieben war. Was nach seinem Tod damit geschehen würde, war ihm nie gleichgültig gewesen. Doch nun hatte alles keine Bedeutung mehr. Er hatte versagt, würde das Unternehmen nicht in der Familie weitergeben können. In seiner Welt ging es immer ums Überleben. Oft fühlte er sich wie in einem Rudel wilder Tiere. Er war der Leitwolf, umgeben von jungen hungrigen Wölfen, die nur darauf warteten, den Leitwolf töten und das Rudel übernehmen zu können. Noch hatte er die Kraft, sich gegen die Jungen durchzusetzen. Doch nun war das letzte Jungtier im Rudel, der eigentliche Nachfolger, zur Belastung für das Rudel geworden. Er musste seinen Sohn, seinen Nachfolger töten, wenn er nicht selbst getötet werden wollte. Er musste die Clanchefs zusammenholen, Stärke demonstrieren, auch wenn er nun seinen zweiten und letzten Sohn opfern musste um überleben zu können. Um den Clanchefs zu zeigen, wer noch immer das Rudel anführte. Er durfte keine Schwäche zeigen! Josef Iwanowitsch zerriss innerlich, als er diese Entscheidung traf. Er verzweifelt, dann heulte er laut und lang, schauerlich wie