Der Zarewitsch. Martin Woletz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Martin Woletz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742791696
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werden. Niemand würde wissen, was er tatsächlich vorhatte. Somit konnte er sich selbst und die Firma schützen. Wenn das erledigt war, würde er sich den Verräter und anschließend den Zeugen, diesen beschissenen, verfluchten bulgarischen Bullen vornehmen.

      Die Creme de la Creme der russischen Unterwelt labte sich ausgiebig. Josef Iwanowitsch hatte ihnen eine wichtige Entscheidung angekündigt. Sie ahnten, dass Jurij Josifowitsch nun die Geschäfte übernehmen würde und freuten sich insgeheim, dass die Übergabe ohne Blutvergießen über die Bühne gehen würde. Es war ein Grund zum Feiern, denn mit Jurij Josifowitsch an der Spitze würde die Macht der Familie weiter wachsen. Davon waren die Clanchefs überzeugt. Und mehr Macht für die Jokovs bedeutete mehr Sicherheit für jeden Einzelnen von ihnen.

      Jurij hatte ebenfalls gegessen und bereitete sich nun innerlich auf die große Überraschung vor. Er war sich sicher, dass ihm sein Vater heute das Imperium übergeben würde; er würde nicht darum kämpfen müssen. Das war gut. Nun konnte er für immer zurück nach Russland. Das Land, das er so liebte, weil er hier aufgewachsen und groß geworden war. Heute Abend wollte er noch in seinen alten Club gehen und feiern. Nach der Feier würde er dann die Geschäfte übernehmen und sich endlich auf seine Weise um die Miliz und die Politiker kümmern, die Jagd auf ihn und seinen Vater gemacht hatten. Er würde ein Exempel nach dem anderen statuieren und die Gegner vernichten.

      Jurij nahm einen großen Schluck Wodka aus dem Kristallglas und goss sich wieder nach. Er blickte in die Runde und musterte die Clanchefs. Wie vor dreizehn Jahren saßen sie um den Tisch, schlugen sich den Bauch voll und fuhren dann wieder in ihre Provinzen. Tausende Kilometer weit weg um die Geschäfte der Jokovs zu überwachen. Aber wer wusste schon, was sie wirklich taten? Vielleicht stopften sie sich auch selbst die Taschen voll und gaben nur einen Bruchteil der Einnahmen weiter? Vater hatte immer seine Kontrollen gemacht und es war nie etwas vorgefallen. Aber der Mann war jetzt alt, fast achtzig Jahre, und vielleicht waren die Clanchefs schon zu selbständig geworden. Jurij dachte nach und kam zu dem Schluss, dass er die Kontrolle ausweiten würde. Ihn würden sie nicht bescheißen können. Seinen Vater vielleicht, doch ihn nicht. Er würde sie gnadenlos töten, wenn sie sich auf seine Kosten ein schönes Leben machen sollten. Das schwor er sich, als er das nächste Glas Wodka leerte. Sein Cousin hatte einen Toast auf die Familie ausgebracht und alle Anwesenden hatten sich erhoben. Als Jurij in die Runde blickte, kam ihm irgendetwas ungewöhnlich vor. Sein Vater hatte den Platz an der Stirnseite, dann folgten links und rechts der Tafel die Clanchefs. Jurij hatte den Platz gegenüber seinem Vater. Irgendwie hätte Jurij die Sitzordnung anders gestaltet, aber es war egal. Schließlich sollte noch am selben Abend sein Platz jener an der Stirnseite sein. Und nur darauf kam es an.

      "Der heutige Tag wird ein entscheidender Tag für unser Unternehmen." Josef Iwanowitsch hatte sein Glas erhoben und mit seiner Gabel dagegen geschlagen. Es war Zeit für seine Rede.

      "Ihr wisst, dass es an der Zeit ist, die Weichen für uns alle neu zu stellen. Natürlich fragt ihr euch, ob der alte Mann an der Spitze bleiben wird. Natürlich fragt ihr euch, ob Jurij Josifowitsch mein Nachfolger wird. Natürlich fragt ihr euch, warum wir heute hier zusammen sitzen."

      Er blickte in die Runde und sah in die angespannten Gesichter seiner engsten Freunde. Als er das Gesicht von Jurij erblickte, blieben seine Augen an ihm hängen.

      "Unsere Organisation ist groß geworden, weil wir immer in der Lage waren, unsere Freunde zu überreden mit uns zu arbeiten. Wir haben unsere Feinde bezahlt um für uns zu arbeiten. Nur von einigen wenigen Unbelehrbaren mussten wir uns auf Dauer trennen. Das waren jene, die wissentlich oder unwissentlich gegen uns gearbeitet oder die Organisation dadurch gefährdet haben. Ihr erinnert Euch an Alexander Poroschenko? Ich habe ihn wirklich geliebt."

      Jurij hörte seinem Vater genau zu. Wieder stieg eine unbewusste Ahnung in ihm hoch, dass diese Feier nicht ganz so ablief, wie er es sich schon oft in seinen Gedanken vorgestellt hatte. Warum musste er jetzt die alte Sache mit Alexander wieder ausgraben? Jurij versuchte seinem Vater zu folgen, doch er verstand nicht, warum er an diesem Tag von Menschen sprach, die Fehler begangen hatten und dafür mit ihrem Leben bezahlen mussten. Wenn es aber schlussendlich dazu führte, dass er in wenigen Augenblicken von seinem Vater zum Oberhaupt der Firma ernannt werden würde, sollte es auf den genauen Wortlaut in der Laudatio nicht ankommen.

      "Ich hatte beschlossen, Jurij Josifowitsch zu meinem Nachfolger zu ernennen und ich erwarte, dass ihr alle ihm folgt und euer Leben für ihn gebt."

      Jurij schluckte. Nun war es soweit! Sein Vater hatte die Worte ausgesprochen, auf die er seit Jahren gewartet hatte. Er war so aufgewühlt und begeistert, dass er die kommenden Worte kaum mitbekam.

      "Umso schlimmer ist es für mich, als ich vor kurzem erfahren musste, dass ausgerechnet Jurij dafür verantwortlich ist, dass ein gefährlicher Zeuge am Leben gelassen wurde. Dieser Zeuge könnte unserer Organisation erheblichen, massiven Schaden zufügen."

      Die Stimmung am Tisch kippte. Josef Iwanowitsch sprach die Worte ganz leise, bedeutsam und langsam aus. Wieder blickte er durch die Runde. In den Gesichtern der Männer stand Furcht, teilweise blankes Entsetzen, denn es war ihnen allen klar, dass Josef Iwanowitsch nun nicht anders konnte, als seinen Sohn zu bestrafen. Jurij selbst war versteinert. Er saß auf seinem Stuhl, fixierte seinen Vater mit seinen Augen und begriff kaum, was hier gerade geschah.

      "Nicht nur die Tatsache, dass du, Jurij Josifowitsch, uns durch deine Leichtsinnigkeit in große Gefahr gebracht hast, sondern auch die Art und Weise, wie ich es erfahren musste - nämlich durch den Verrat eines deiner eigenen Männer an Dir – lässt mir keine andere Wahl!"

      Als er das letzte Wort gesprochen hatte, zog er eine Waffe aus seinem Sakko und richtete sie auf seinen Sohn. Die Männer, die um die Tafel saßen, sprangen wie von der Tarantel gestochen von Ihren Stühlen auf und versuchten sich einigermaßen in Deckung zu bringen. Nur Jurij war sitzen geblieben und sah seinem Vater ins Gesicht.

      "Willst Du mich jetzt erschießen Vater? Ist es das, was Du beschlossen hast? Du alter Narr! Wenn Du mich erschießt, sind die Familie Jokov und alles, was Du und ich aufgebaut haben, verloren. Du hast keinen Schutz mehr und diese Hyänen... -", er deutete auf die Oberbosse, die mit offenen Mäulern hinter ihren Stühlen standen oder sich in Türnischen pressten, "...- werden Dich noch heute in der Luft zerreißen! Du wirst noch miterleben, wie Dein Lebenswerk auseinandergerissen wird, und erst dann werden Sie Dich in der Gosse verrecken lassen." Jurij war langsam aufgestanden. Er hatte jeden Muskel angespannt und fixierte nun den Zeigefinger seines Vaters, der um den Abzug gebogen war. Die Hand seines Vaters zitterte leicht. Sobald er nur ein Zucken sah, würde er sich in Deckung bringen. In seinem Kopf pochte das Blut. Fieberhaft überlegte er einen Fluchtplan. Er blickte aus den Augenwinkeln zu den Türen und Fenstern des Saales und versuchte die Entfernungen zu den einzelnen Öffnungen abzuschätzen. In jeder Richtung waren es weniger als drei Meter bis er ein vorläufiges Versteck finden konnte. Sein Vater hatte den Ablauf offensichtlich genau geplant und ihm die Flucht so schwer als möglich gestaltet. Nun wurde ihm die Sitzordnung auch klar. Dieser verfluchte alte Mann!

      "Das ist mir egal! Ihr habt alle jahrzehntelang von meinen Erfolgen und Entscheidungen profitiert! Ihr habt Euch die Taschen gefüllt und Euch und Euren Vertrauten ein schönes Leben gemacht. Damit ist Schluss! Ein für alle Mal! Ich habe es satt und werde das alles hier und jetzt beenden!" Josef Iwanowitsch hob den Revolver unmerklich und zielte direkt auf das Herz seines Sohnes. Auch er war komplett angespannt und musste alle Kraft, die noch in seinem alten Körper steckte, aufwenden, um die Waffe einigermaßen ruhig zu halten. Zwischen ihm und seinem Sohn lagen höchstens sieben oder acht Meter. Der Alte war zwar kein guter Schütze, aber auf diese Entfernung würde er ihn in jedem Fall treffen. Und wenn sein Sohn nicht nach dem ersten Schuss tot war, dann musste eben ein zweiter oder sogar dritter Schuss her. Josef Iwanowitsch wusste, dass es kein Zurück mehr gab. In dem Augenblick, in dem er die Waffe gegen seinen Sohn erhoben hatte, wurden sie zu Totfeinden. Und er wusste auch, dass er es war, der sterben würde, wenn er Jurij nicht ausschalten konnte. Jurij würde keine Skrupel haben, seinen Vater genauso kalt abzuknallen, wie er schon seinen Bruder getötet hatte. Er selbst hatte ihn so erzogen.

      "Vater, nimm die Waffe runter und lass uns reden. Wir können die Sache aus der Welt räumen. Ich hatte keine Ahnung davon, dass es einen Zeugen gibt. Wofür überhaupt