Der Zarewitsch. Martin Woletz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Martin Woletz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742791696
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sagen sollen, wenn er Sie anblickt, anspricht oder anrempelt. Ich meine damit, dass mir sagen sollen, wenn er umkippt, zum Heulen anfängt oder nach seiner Mami ruft. Haben Sie das verstanden?“

      „Ja natürlich, Herr Chefinspektor. Hab ich verstanden.“ Der Polizist tippte sich beflissen an die Mütze.

      „Wir werden ja sehen.“ Ich hievte den anderen an den Handgelenken hoch.

      „Wir gehen nach nebenan. Sorgen Sie dafür, dass wir nicht gestört werden, Kollege.“ Der Auftrag richtete sich an den jüngeren Beamten.

      „Ich bin Revierinspektor Novotny, Herr Chefinspektor.“

      „Sollten Sie sonst auch noch etwas zum Fall beitragen können, dann werde ich mir Ihren Namen merken. In Ordnung?“ Ich konnte Informationen, die ich nicht verlangt hatte, nicht leiden. Das war vielleicht menschlich eine Schwäche, half mir aber, mich auf meine Arbeit zu konzentrieren.

      „Gehen wir.“ Ich führte den Mann absichtlich in das Zimmer, in dem der Tote gelegen hatte. Auf dem Boden war die übliche Skizze zu sehen. Eine weiße Linie zeichnete die Umrisse des toten Körpers nach. An der Stelle, an der der Kopf gelegen hatte, klebte ein Blutfleck am Parkett.

      Diesen Fall würde ich bis Mittag geklärt haben. Es war mir schon ziemlich klar, was geschehen war. Ich war schon mitten in meinem Schauspiel. Es war mir bereits gelungen, einen Zweifel zwischen die Männer zu bringen. Die weicheren Jungs klappten meistens bereits zusammen, wenn ich sie in den Raum zur Einzelbefragung führte, in dem das Verbrechen geschehen war. In den darauffolgenden Phasen gelang es mir dann immer, dem Verhörten die entscheidenden Informationen zu entlocken. Auf die eine oder andere Weise.

      Als Junge hatte ich meinen Vater einige Male gefragt, wie es denn so sei, wenn man ein Verhör führen musste. Welche Tricks er angewandt hatte, wenn er einen Verbrecher überführen konnte? Wie weit er gehen durfte? Wie hatte er erkannt, ob der Befragte log oder die Wahrheit sagte? Vater hatte mir immer eine Antwort gegeben, aber ich war mir sicher, dass Vater nicht immer die ganze Wahrheit gesagt hatte. Die Kleinverbrecher, Trickdiebe oder Fälscher, waren nie ein Problem für ihn gewesen. Aber wenn sie einen vom organisierten Verbrechen geschnappt hatten, dann hatte die Sache sicher anders ausgesehen. Diese Männer waren Profis und einer strengen Hierarchie unterworfen. Sie wussten, dass sie ihr Todesurteil unterschreiben würden, wenn Sie der Miliz Hinweise auf die Organisation, deren Geschäfte oder Mitglieder gegeben hätten. Vater war Realist gewesen. Er hatte mir immer erklärt, dass Gewalt keine Probleme lösen würde, sondern der Grund für Probleme ist. Es gab genügend Möglichkeiten, einen Menschen zum Reden zu bringen, ohne auf ihn einschlagen zu müssen. Schlafmangel beispielsweise war eine der effizientesten Methoden, einen Gefangenen in Widersprüche zu verwickeln und ihn damit zum Sprechen zu bringen. Extrem laute Musik und Unterversorgung waren andere Methoden, von denen ich wusste, dass sie von den Milizbeamten angewandt wurden. Ich vertrat den Standpunkt, dass jeder Polizist die Vorschriften solange als möglich befolgen und die Rechte des anderen wahren sollte. „Solange als möglich“ hieß für mich, solange die Ermittlungen nicht behindert wurden. Und das hatte Vater wahrscheinlich auch gemacht. Zumindest wollte ich diese Wahrheit glauben. Verbrecher hatten auch ihre Regeln und die waren denen der Polizei fast immer überlegen, weil sie unmoralisch, asozial, illegal und gefährlich waren.

      Der Mann schluckte, als er den Kreideumriss und das Blut am Boden sah. Ich sprach weiter russisch mit ihm.

      „Ich werde Ihnen jetzt einmal die Situation erklären, in der Sie sich befinden. Und hören Sie damit auf so zu tun, als würden Sie mich nicht verstehen. Sie verstehen mich ausgezeichnet und ihre einzige Chance hier zu bleiben, ist mit mir zu reden. Ihr Freund da draußen glaubt jetzt bereits, dass Sie zum Verräter geworden sind. Da nützt es Ihnen gar nichts, dass ich Sie ausgetrickst habe.“ Der Mann blickte mich mit dunkelbraunen Augen traurig an. Ich hatte ihn gebrochen.

      „Na sehen Sie, das ist ein Anfang. So ist es gut.“ Ich hatte den ersten Durchbruch geschafft. Die Männer sprachen also russisch und verstanden mich. Ich war auf die weiteren Erklärungen der Kollegin gespannt, die mir von einem kurzen Gespräch zwischen den Männern erzählt hatte, bevor ich am Tatort eingetroffen war. Eigentlich hatte nur der große Mann gesprochen, der kleine, mit dem ich gerade sprach, hatte nur genickt. Ich hoffte nur, dass die Beobachtungsgabe der Kollegin besser war, als ihre Ausdrucksweise.

      „Dann sagen Sie mir jetzt, woher Sie kommen.“ Ich sah, wie der Mann mit sich kämpfte, entdeckte Angst und Verzweiflung in den Gesten des Mannes. Er würde bald reden. In diesem Moment war für mich nur die Information wichtig. Nicht die Motive, die dahinter steckten. Nicht, dass es mich völlig kalt ließ, aber es war in diesem Moment nicht entscheidend. Ob Angst, Verzweiflung, Gier, Neid, Rache oder ein psychischer Defekt - für mich waren diese Motive im Verhör nur Mittel zum Zweck. Wenn ich dann hatte, was ich wollte, überkamen mich ab und zu leichte Zweifel, ob ich zu weit gegangen war.

      „Tschetschenien.“ Der Mann flüsterte das Wort.

      „Ich komme aus Tschetschenien.“

      „Wie heißen Sie.“

      „Boris.“

      „Boris, wie sind Sie hierhergekommen?“

      „Schiff.“

      Korelev wurde hellhörig. Mit dem Schiff waren seit einigen Jahren keine Flüchtlingsgruppen mehr gekommen.

      „Wie sind Sie mit den Schleppern in Kontakt gekommen?“

      „Vadim hat das gemacht.“ Der Mann deutete zum Boden.

      „Vadim? Der Tote?“

      Der Mann nickte.

      „Vadim ist mein Bruder.“

      „Und der andere Mann?“

      Der Junge zuckte mit den Schultern.

      „Weiß nicht. Er hat uns vom Schiff hierher gebracht.“

      „Waren noch andere Leute am Schiff?“

      „Nein.“

      „Woher kannte Vadim den Mann.“

      „Vadim und ich hatten Schulden bei dem Mann, weil er unsere Schwester nach Europa gebracht hatte. Sie musste vor ihrem Mann fliehen, weil sie studieren wollte. Der Mann hat Vadim und mir dann angeboten, einen Auftrag zu übernehmen. Damit wären wir die Schulden los gewesen.“ Der Mann sprach leise und abgehakt, als hätte er Angst, dass ihn der andere Mann hörte. Und er hatte ganz bestimmt Angst.

      „Was für ein Auftrag ist das?“

      „Das hat er nicht gesagt.“

      „Solltet Ihr jemanden töten?“

      „Ich weiß es nicht.“

      „Wie hoch waren die Schulden?“

      „Zehntausend Dollar.“ Der Mann flüsterte jetzt fast.

      „Haben Sie Vadim getötet?“

      „Nein, warum sollte ich!“ Jetzt war die Stimme des Mannes laut und fest.

      „Hat der andere Mann Vadim getötet?“

      „Ich habe geschlafen. Ich weiß es nicht. Ich bin erst aufgewacht, als die Polizei hier war.“

      „Novotny!“, brüllte ich in den Flur. Eine Sekunde später stand der Uniformierte im Türrahmen.

      „Ja, Chefinspektor?“

      „Haben Sie ein Telefon oder ein Handy oder Funkgerät hier gefunden?“

      „Nein, Herr Chefinspektor!“

      Dann wandte ich mich wieder an Boris.

      „Kommen Sie Boris.“ Ich winkte ihn mit einem freundlichen Lächeln zu mir. Als Boris neben mir stand, legte ich den Arm um seine Schultern. Für den anderen Mann, der uns im Flur sehen konnte, musste der Eindruck entstehen, dass Boris alles ausgeplaudert hatte und derjenige war, der den Jackpot gewonnen hatte. Aus dem Augenwinkel beobachtete ich die Reaktion des Mannes auf die Szene und war zufrieden. Der Mann stieß einen