Natürlich erinnerte sich der Zarewitsch an die Korelevs. Den Vater, den Bruder und den Onkel hatte er noch im Kampf getötet, die Mutter und die Schwester hatte er seinen Männern überlassen und Konstantin selbst mit den Illegalen wegbringen lassen. Seine Leute hatten ihm nichts davon gesagt, dass er überlebt hatte. Im Gegenteil, sie hatten ihm bestätigt, dass er tot war. Sie hatten ihn belogen. Seine eigenen Leute hatten ihn belogen! Eigentlich hatte ihn nur einer belogen. Die anderen hatten geschwiegen. Das war eine Schande und nun verstand er seinen Vater. Er selbst würde jeden töten, der einen solchen Fehler zuließ. Eine ungeheure Wut stieg in ihm hoch.
"Ja, ich weiß, wer Korelev ist. Meine Leute haben ihn mit den anderen Illegalen mitgenommen und am Ziel angeblich liquidiert. Daraufhin haben wir den Endpunkt verlegt und damit war Ruhe."
"Ja, seitdem war Ruhe, Jurij. Aber wie lange noch. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis der Bulgare in der Lage ist nach seiner Familie zu suchen und uns dann ein ganzes Heer von Milizbeamten und Soldaten auf den Hals hetzt."
"Ich habe Dir immer wieder gesagt, Du musst mit diesen Aufwieglern kurzen Prozess......"
"Halt den Mund, Jurij", fiel ihm sein Vater ins Wort.
"Du willst immer Krieg führen! Du bist ein Idiot! Krieg schwächt zwar den Gegner, aber wir werden auch Verluste erleiden. Und niemand weiß, wer am Ende siegen wird - und zu welchem Preis."
Jurij war es in der Zwischenzeit gelungen, eine Ecke des Tischtuches in seine Finger zu bekommen. Von den Männern war keiner nahe genug, dass er sich hinter ihm verstecken konnte. Er hätte jeden der Männer - egal wie nahe verwandt oder auch nicht - jederzeit als Schutzschild missbraucht. Sein Plan war simpel.
"Vater, ich bringe das in Ordnung und dann können wir alles Weitere besprechen. Wenn ich tot bin, ist alles vorbei. Siehst Du das nicht ein?" Jurij versuchte seinen Vater einzuwickeln und Zeit zu gewinnen. Er hatte vielleicht zwei oder drei Sekunden für seine Flucht. Er durfte in keiner Phase zögern. Ihm war klar, dass ihn sein Vater töten würde. Anderenfalls würde Jurij seinen Vater töten. Das wusste der auch.
"Komm Vater...gib mir die Waffe... oder gib sie einem der Männer. Wir klären das. Ich kümmere mich um den Zeugen und um die Verräter. Ok, Vater?"
Noch bevor Josef Iwanowitsch antworten konnte, hatte der Zarewitsch das Tischtuch gepackt und mit beiden Händen hochgerissen. Geschirr und Essen flogen durch die Luft und prasselten auf seinen Vater nieder, der kurz die Hand schützend vor den Körper hielt. Genau diesen Augenblick hatte Jurij abgewartet und hechtete mit zwei gewaltigen Sprüngen zu der Türe, die hinter ihm in einen kurzen Gang führte. Noch bevor sein Vater begriffen hatte, was geschehen war, hatte Jurij die Türe aufgerissen und rannte in den Gang. Hinter ihm krachte ein Schuss und er hörte das Holz des Türrahmens splittern. Mit einem kurzen Befehl hatte Josef Iwanowitsch den Männern befohlen, seinen Sohn zurückzubringen. Jurij riss das nächste Fenster auf, kletterte auf das Fensterbrett und ließ sich fast zwölf Meter in den See fallen, der wie ein Burggraben um drei Seiten des Haupthauses angelegt worden war. Als er ins Wasser tauchte, waren seine Verfolger bereits beim Fenster angekommen. Neben ihm durchzogen Kugeln das fast schwarze Wasser. Er tauchte so tief er konnte und schwamm nur knapp über dem schlammigen Grund zick-zack bis seine Lungen zu brennen begannen. Als er am anderen Ufer angekommen und bereits knapp davor war, die Besinnung zu verlieren, tauchte er vorsichtig auf. Eigentlich hätte er einen Kugelhagel erwartet, doch nichts geschah. Die Männer vom Fenster waren verschwunden. Wahrscheinlich jagten sie gerade die Treppen herunter und hatten vor, den Burggraben zu umstellen. Jurij holte tief Luft, tauchte zurück zur Hausseite, an der er sich bis zur Südwestecke des Gebäudes handelte und dann wieder zum anderen Ufer zurückschwamm. Auch wenn die Strecke nicht weit war, kam es ihm vor als wäre er Minuten unter Wasser gewesen. Er hatte einen Bereich des Grabens erreicht, der dicht mit Schilf bewachsen war. Vorsichtig bewegte er sich durch das Schilf und erreichte kurze Zeit später das Ufer. Er spähte über den Rasen und hörte die Männer, die nicht weit von ihm bereits das Ufer absuchten. Wenn er die dreißig Meter über die Wiese schaffte, konnte er sich durch den angrenzenden Wald bis zur Grundstücksgrenze arbeiten. Er würde sich das nächste Auto schnappen und untertauchen. Jurij sprang aus dem Wasser und lief über die Wiese. Durch die einsetzende Dunkelheit schaffte er die Hälfte der Strecke unbemerkt. Erst knapp vor dem Waldstück vernahm er die Rufe seiner Verfolger. Kurz danach hörte er wieder Schüsse, die aber relativ weit an ihm vorbei gingen. Im Wald konnte er seine Verfolger wieder abschütteln. Nach einem kurzen Sprint erreichte er die Grundstücksmauer. Noch einmal blickte sich Jurij kurz um, um festzustellen ob er noch in unmittelbarer Gefahr schwebte. Doch er konnte keinen Verfolger mehr entdecken. Jurij kletterte auf die Mauer, sprang auf der anderen Seite herunter und lief in Richtung Straße. Ihm war, als hörte er bereits ein Auto, das sich rasch näherte. Nach einer Kurve tauchten plötzlich zwei Scheinwerferlichter vor ihm auf. Sie hatten ihn sofort erfasst und machten somit eine Flucht unmöglich. Breitbeinig stellte sich Jurij in die Mitte der Straße um den Wagen zu stoppen. Er würde den Fahrer kurzerhand aus dem Wagen zerren und dann abhauen. Der Wagen näherte sich rasch und blieb unmittelbar vor Jurij stehen. Die Türen des Wagens öffneten sich und vier Männer stiegen aus. Sie kamen auf Jurij zu.
"Was wollt ihr von mir?" Jurij ging sofort in die Offensive. Mit vier Männern hatte er nicht gerechnet. Ein Plan B musste sofort her.
Ohne eine Antwort packten ihn zwei der Männer und stülpten ihm eine Kapuze über den Kopf. Jurij wehrte sich heftig, aber er konnte seinen Gegnern nicht entkommen. Dann legte einer der Männer Jurij eine Drahtschlinge um den Hals und zog sie zu. Der Zarewitsch hörte auf sich zu wehren. Jurij stand nun still da und wartete. Dann fühlte er den warmen Atem nahe an seinem Ohr.
"Dein Vater will Dich tot sehen. Und er hat eine Prämie auf Deinen Kopf ausgesetzt. Eine sehr hohe Prämie, Jurij. Da würde sogar Deine Mutter schwach werden, wäre sie nicht schon tot."
"Was bildest Du Dir ein meine Mutter zu erwähnen, Du räudiger Schakal!" Jurij war außer sich vor Wut. Die Flucht war misslungen. Sein Vater sollte also doch noch seinen Triumph haben. Wenn Sie ihn töten wollten, dann sollten Sie das machen, aber niemand hatte das Recht, seine Mutter in den Dreck zu ziehen! Wild warf er sich gegen seine Widersacher, doch die Drahtschlinge zog sich gnadenlos zu und er japste nach Luft.
"Ganz ruhig, Jurij. Mir ist die Prämie scheißegal. Dein Vater ist ein alter Mann. Ich glaube, dass Du die Zukunft bist, aber ich wollte sicher gehen, dass Du weißt, wem Du Dein Leben zu verdanken hast. Der Mann lockerte die Drahtschlinge und riss ihm die Kapuze vom Kopf. Jurij sperrte die Augen weit auf und starrte in das Gesicht eines seiner engsten Vertrauten: Simeon!
"Du hinterhältige Drecksau, hast mir gesagt, dass der Bulgare tot sei. Du hast Dich von mir belohnen und aushalten lassen und läufst dann hinter meinem Rücken zu meinem Vater! Was hast Du Dir erwartet, du mieses Schwein? Sollte er mich umbringen und Du übernimmst dann den Laden, ja? War das Dein Plan? Du Arschloch, Du miese Sau, Du.....!" Plötzlich wurde die Schlinge wieder enger gezogen und Jurij brachte keinen Ton mehr heraus.
"Jeder muss sehen, wo er bleibt, lieber Jurij. Ich hab für dich immer die Drecksarbeit erledigt und hätte mehr verdient, als Du mir geben wolltest. Doch jetzt hat sich die Situation geändert. Jetzt habe ich das Sagen! Wenn ich nur ein Zeichen gebe, bist Du tot und noch ehe Du kalt bist, wird Dir Dein Vater folgen. Oder Du verschwindest für eine Weile, überlässt mir Deine Geschäfte und wenn ich Dir sage, dass Du zurückkommen kannst, sind wir Partner. So einfach ist das. Was meinst Du?" Er lockerte die Drahtschlinge ein wenig, damit Jurij antworten konnte.
"Du Arschloch. Ich werde Dich einfach kalt machen, so sieht das aus", röchelte der Gefangene hasserfüllt. Dann war die Schlinge schon wieder so eng, dass sie sich in seine Haut presste. Er spürte, wie das Blut an seinem Hals herabfloss.
"Nein, das wirst Du nicht. Du machst mit mir künftig die Geschäfte, so wie ich es will oder du bist in einer Minute tot. Viel Luft erhält Dein Gehirn schon jetzt nicht mehr. Es wird also immer schwieriger die richtigen Entscheidungen zu treffen. Also was meinst Du? Machen wir weiter? Oder beenden wir die Geschichte gleich hier und jetzt?"
Jurijs Hals schmerzte stark, seine Zunge begann