Ich presste die Butter unbewusst so fest auf den Toast, dass er zerbrach und an meiner linken Handfläche kleben blieb. Ich hatte mir in den letzten Jahren immer wieder einzureden versucht, dass damals jeder um sein Überleben kämpfte. Jeder musste seinen ganz eigenen Weg finden, um am Leben zu bleiben und nicht als namenloses Opfer zu verrecken. Das traf nicht nur auf uns zu, das traf auch auf Simeon zu. Ich hatte wirklich versucht, Simeon vor mir selbst zu verteidigen. Dass auch er nur überleben wollte. Aber eben nicht so stark war wie etwa mein Vater. Dass es keine Absicht von ihm war. Dass er eben nicht anders konnte. Doch ich konnte seinen Verrat nicht akzeptieren. Und Simeon hatte uns verraten. Schon als Kind konnte ich bei Verrat nicht über meinen Schatten springen.
Ich war ein kräftiger, intelligenter Junge mit schwarzen Haaren, grünblauen Augen und einer von bereits nur wenigen Sonnenstrahlen braunen Haut. Ich galt als nett und wohlerzogen. Ein lieber, hübscher Junge. Doch so hübsch und lieb ich auch bis zu jenem Tag gewesen sein mochte, dieser Verrat veränderte mich. Wegen dieses Verrats musste Mutter schreien und weinen und Vater verlor fast den Verstand. Zum ersten Mal in meinem Leben wurde ich wütend, dachte an Vergeltung und beschloss Rache für meine Familie zu nehmen. Simeon musste dafür büßen. Ich dachte lange nach und spielte viele, nein – ich spielte alle Möglichkeiten zur Rache durch. Ich hatte Simeon seit dem Verrat nicht mehr gesehen. Simeon war verschwunden. Wie vom Erdboden verschluckt. Doch dann fand ich ihn in der Nähe des Bahnhofs, als er mir mit einem Paket Schokolade und einer Stange Zigaretten entgegenkam. Möglicherweise war das sogar der Lohn für den Verrat an uns. Simeon wollte flüchten als er mich sah. Doch ich war schneller. Ich jagte Simeon. Ich jagte ihn so, wie ein Wolf einen Hasen jagte. Ich holte ihn ein, verpasste ihm einen Faustschlag und ließ ihn entkommen. Ich gab ihm einen kleinen Vorsprung, jagte ihn, fing ihn, schlug wieder auf ihn ein und ließ ihn wieder kurz entkommen. Auf diese Weise verfolgte ich ihn durch die Stadt. Ich stellte ihn dort, wo viele Menschen waren, wo uns jeder sehen konnte, verdrosch ihn und schrie dabei laut:
„Verräter! Du dreckiger Verräter!"
Das machte ich über eine Stunde lang. Bis Simeon nicht mehr konnte. Bis mein bester Freund blutend und weinend mit zerfetztem Hemd und halb heruntergezogener, angepinkelter Hose vor mir im Dreck lag. Doch auch meine Kräfte waren verbraucht. Ich war müde, meine Finger und Arme taten weh und mein Magen knurrte. Ich stand über meinem einstmals besten Freund, der zu einem dreckigen, miesen Verräter geworden war und hatte mir meine ganze Wut war aus dem Leib geprügelt. Ich war mir sicher gewesen, dass mir diese Hasenjagd Genugtuung geben würde. Doch auch wenn Simeon jetzt vor mir im Dreck wimmerte, nichts davon konnte gutmachen, was Simeon meiner Familie angetan hatte. Es war kein Triumph. Ich fühlte mich leer und alleine. Ich war noch ein halbes Kind und hatte gerade meinen besten Freund verloren.
Von diesem Tag an änderte sich meine Welt grundlegend. Jokovs Männer sah ich nun nahezu täglich. Unsere Straße stand jetzt unter deren Beobachtung. Das hinterließ auch in unserer Familie Spuren. Wir konnten nicht mehr so tun, als ginge uns das alles nichts mehr an. Wir mussten Farbe bekennen. Entweder wechselten wir wie Simeon auf Jokovs Seite oder wir mussten ihn bekämpfen. Dazwischen gab es nichts.
Wir entschieden uns für den Widerstand, versuchten dennoch nicht aufzufallen und den Schlägern keinen Grund zu geben, ihre gefürchteten Einschüchterungsaktionen gegen uns weiter durchzuführen. Neu war auch, dass Vater und Plamen oft erst spät in der Nacht nach Hause kamen. Als Plamen achtzehn Jahre alt wurde, trat er der Miliz bei. Gegen Mutters Willen. Sie hatte verständlicherweise Angst. Vater und Plamen gingen nach dem Dienst ins Kaffeehaus. Was dort genau geschah, wusste ich nicht. Das erfuhr ich erst einige Monate später.
Es kam immer öfter zu kleinen Zwischenfällen zwischen den Widerständlern und Jokovs Organisation. Ab und zu ging einer von Jokovs schwarzen Wägen in Flammen auf. Ein anderes Mal gab es Brandanschläge gegen Lokale und Treffpunkte von Jokovs Männern. Aber es erfolgten auch direkte Angriffe gegen Jokovs Männer. Widerstand formierte sich und das blieb nicht ohne Folgen. Der Zarewitsch ließ für jedes zerstörte Auto ein Wohnhaus in Flammen aufgehen, für jede Attacke gegen einen seiner Männer starb ein Milizionär. Der Widerstand konnte nur bestehen, weil jede Beute, die gemacht wurde direkt an die Bevölkerung zurückfloss. Ohne diese Robin-Hood-Taktik wären sie alle verraten worden.
Mit achtzehn Jahren beschloss ich auch zur Miliz zu gehen. Ich hatte ein Gespräch zwischen Plamen und Vater belauscht und wusste daher, dass die Miliz und die Widerstandsbewegung eng miteinander zusammenarbeiteten. Jokovs Männern war natürlich bekannt, dass die Korelevs bei der Miliz waren. Aber sie wusste nicht, dass wir auch die Anführer des aktiven Widerstandes waren. Als Milizionäre schauten wir tagsüber weg, wenn Jokovs Männer ihre Verbrechen verübten. Als Widerstandskämpfer jagten wir sie in der Nacht und fügten Ihnen Schaden zu, wo wir nur konnten. Dieses Doppelleben war unsere Überlebensgarantie. An meinem ersten Arbeitstag weihte mich Vater in das Geheimnis ein. Als Zentrale der Widerständler diente das Kaffeehaus, in dem Informationen und Waffen weitergeleitet wurden. Über mehrere Jahre gelang es uns, Jokov zu schaden. Wir raubten Ihnen Waffen und Geld, stahlen Drogen und Fahrzeuge und töteten einige Männer des Zarewitschs. Wir wurden ihm so lästig, dass sich schließlich Jokov höchstpersönlich einschaltete und zum Gegenschlag ausholte. Er fiel in einen Blutrausch, tötete Männer und Frauen, die er für Widerstandskämpfer hielt, ohne mit der Wimper zu zucken und schaffte es schließlich, den Widerstand zu brechen. Durch diese Racheaktionen quittierten einige unserer Kollegen den Dienst bei der Miliz, weil es für sie und ihre Familien zu gefährlich wurde. Der eine oder andere wechselte sogar die Seiten, ließ sich bestechen oder von den Banden als Spitzel oder Schläger anheuern. Wieder kam in mir dieses Gefühl des Verraten werden auf wie damals bei Simeon. Aber diesmal ging es nicht nur um Geld oder Schmuck sondern ums nackte Überleben. Die Miliz in unserer Heimatstadt stellte für die Verbrecher kaum mehr eine ernstzunehmende Gefahr dar. Sie bestand nahezu nur noch aus uns und unseren besten Freunden. Damit war für den Zarewitsch auch klar, dass wir zu seinen Feinden gehörten. Und damit wuchs auch die Gefahr für uns täglich. Nach den nächsten erfolgreichen Coups des Widerstandes lag eine eigenartige Stille über der Stadt. Es war die Ruhe vor dem Sturm. Für Jokov waren die Korelevs zum Ärgernis geworden. Und nun begann Jurij Josifowitsch Jokov uns gezielt zu jagen.
Drei
An einem glühend heißen Augusttag, nach Sonnenuntergang, packten wir die wenigen Dinge zusammen, die noch wichtig waren und wanderten zu Onkel Stanimir. Vater hatte beschlossen, Plovdiv zu verlassen. Es war nur noch eine Frage der Zeit gewesen, bis uns der Zarewitsch gefunden hätte. Onkel Stanimir wohnte in einem Dorf, das rund fünfzehn Kilometer außerhalb der Stadt lag. Von dort waren es nur noch wenige Kilometer bis zur Grenze im Süden.
In dieser Nacht ging die halbe Stadt in Flammen auf und die meisten Widerstandskämpfer und Milizsoldaten wurden getötet. Der Zarewitsch führte einen vernichtenden Schlag aus. Jokovs Männer stellten uns in unserem Unterschlupf, Gott alleine weiß, woher er diesen Tipp bekam. Zuerst wurde Vater von einer Maschinengewehrsalve getötet. Dann starb Onkel Stanimir durch einen Schuss in den Hinterkopf. Plamen wurde gefangen genommen und verschleppt. Ich war bei Mutter und Radka geblieben, aber wir hatten keine Chance. Doch anstatt uns gleich umzubringen oder in die Stadt zu schleppen, luden uns die Männer auf Lastwägen. Ich musste in einen Sattelzug einsteigen, der über eine doppelte Wand verfügte. Ich wurde durch die Tür in den Hohlraum gestoßen, stolperte und krachte mit dem Kopf gegen die Wand. Der Aufprall war so heftig, dass ich das Bewusstsein verlor. Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf dem Rücken. Mein Kopf pochte und es dröhnte ohrenbetäubend. Ich konnte meine Hand vor Augen nicht sehen. Es stank nach Urin, Schweiß und Benzin und ich rief nach Mutter und Radka. Doch es antwortete niemand. Ich versuchte mich aufzurichten. Der Sattelzug schwankte und mein Kopf tat so weh, dass mir die Knie versagten. Außer mir waren noch rund ein Dutzend Frauen und Kinder in dem kaum zehn Quadratmeter kleinen Raum. Niemand konnte mir sagen,