Anele - Der Winter ist kalt in Afrika. Marian Liebknecht. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marian Liebknecht
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847634409
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war seit dem Tod seines Vaters vor sechs Jahren in ein Pensionistenheim in Liesing, einem südlich gelegenen, von eher gut situiertem Volk bewohnten Stadtteil Wiens gezogen, wo sie sich von Anfang an sehr wohl gefühlt hatte. Es war ein neues Haus, das in kleine Apartments unterteilt war, die wiederum aus einem Wohnraum mit Kochnische und einem Schlafzimmer bestanden. Daneben gab es Gemeinschaftsräume und einen großen Speisesaal, in dem das Frühstück, Mittag- und Abendessen sowie am Nachmittag eine Kaffeejause serviert wurden. Martha, so hieß seine Mutter, ging fast immer in den Speisesaal essen, nur manchmal, wenn ihr das Menü nicht zusagte, kochte sie sich selbst etwas im Apartment. Sie war zwar schon zweiundsiebzig, aber noch bei bester Gesundheit und nahm an fast allen Veranstaltungen, die im Heim angeboten wurden, teil. So hatte sie erst vor kurzer Zeit mit großer Begeisterung Bridge gelernt, da ein paar Kundige eine Bridge-Runde auf die Beine gestellt hatten, in der auch neue Gesichter gerne aufgenommen wurden. Mit ein paar anderen Heimbewohnern hatte sie sogar eine Reisegruppe ins Leben gerufen, die mit mehreren Reisebüros in Kontakt stand und, wenn sich Gelegenheiten boten, Besichtigungsfahrten zu erschwinglichen Preisen organisierte. Aus diesem Grund war sie auch mindestens zwei Mal im Jahr mehrere Tage unterwegs.

      Als Philipp das Pensionistenheim betrat, war es elf Uhr. Aus dem Speisesaal hörte man bereits das Klappern von Tellern und Besteck, da schon für das Mittagessen gedeckt wurde. Das Geräusch kam ihm merkwürdig vertraut vor und weckte in ihm ein Gefühl von Geborgenheit. Vor Marthas Zimmer angekommen klopfte er und öffnete nach einem knappen „Komm‘ rein“ die Tür. Im Zimmer roch es wunderbar nach Weihnachtsgebäck und frisch gekochtem Kaffee. Martha hatte für ihn in ihrer kleinen Küche seine Lieblingskekse, Linzer Augen und Vanillekipferln, gebacken. Außerdem stand auf dem Tisch, auf dem schon das Kaffeegeschirr hergerichtet war, ein sehr hübsches Weihnachtsgesteck. Obwohl er von all dem nicht besonders viel hielt und auch nur selten herkam, konnte sich Philipp dem Gefühl nicht entziehen, „nach Hause“ zu kommen. Als Martha ihn sah, umarmte sie ihn.

      „Grüß dich, Philipp, ich habe schon auf dich gewartet, wie geht es dir?“, fragte sie.

      „Danke, es geht, und wie ist es bei dir immer so?“ erwiderte er.

      „Danke der Nachfrage, meine Wehwehchen bleiben mir treu, im Großen und Ganzen fühle ich mich aber recht in Ordnung. Lass dich anschauen, du siehst nicht gut aus, hast überhaupt kein Fleisch auf den Knochen. Wahrscheinlich isst du zu wenig.“ Philipp, der wusste, es würde immer zu den größten Sorgen seiner Mutter gehören, dass er eines plötzlichen Hungertodes sterben könnte, ging auf die Bemerkung nicht weiter ein.

      „Ach ja, frohe Weihnachten!“ sagte er und gab ihr sein Geschenk. Es war ein Buch, ein Bildband über norditalienische Städte, der ihm beim Stöbern in einem Buchgeschäft in die Hände gefallen war. Wegen seines ansprechenden Einbandes und weil er Marthas Liebe zu Italien kannte, das bei ihren Reiseplänen zumeist an erster Stelle stand, hatte er es gekauft und, so gut er konnte, verpackt.

      „Danke, das wäre aber nicht notwendig gewesen“, sagte Martha, „ich packe es aber noch nicht aus, sondern werde es am Abend bei Alex unter den Baum legen. Du solltest Alex übrigens auch wieder einmal besuchen. Ihr seht euch viel zu wenig.“

      Alex war die Abkürzung von Alexandra, Philipps Schwester, bei der Martha immer den Weihnachtsabend verbrachte. Sie war drei Jahre älter als Philipp und hatte einen Mann und zwei Kinder. Philipp hatte so gut wie keinen Kontakt zu ihr, er war irgendwann abgerissen. Das lag nicht daran, dass sie sich nicht mochten. Sie waren einfach zu verschieden. Schon als Kinder hatten sie kaum gemeinsame Interessen gehabt. Neben Philipps Ernährungszustand war das die zweite große Sorge Marthas, dass ihre beiden Kinder so selten zusammenkamen.

      „Du siehst gut aus. Das Heimleben scheint dir gar nicht so schlecht zu bekommen“, bemerkte Philipp, halb im Spaß. Aber es war einiges dran. Wenn man Martha so ansah, konnte man sie ohne weiteres für kaum über sechzig halten.

      „Na ja, ganz so ist es nicht“, sagte sie, „wenn du wüsstest, wie viele Tabletten ich jeden Abend schlucken muss, würdest du anders reden. Und dich sehe ich auch so selten, etwas öfter könntest du dich schon blicken lassen.“

      Philipp hatte sich gedacht, dass dieser Seitenhieb irgendwann kommen musste, nahm ihn aber nicht allzu ernst.

      „Du weißt ja selbst, es ist bei mir eine Frage der Zeit“, erwiderte er, „aber du bist ohnehin fast nie da. Die Sache mit deiner Reisegruppe scheint ja ganz gut zu laufen.“

      „Du meinst, weil du von mir vor kurzem eine Ansichtskarte bekommen hast. Pass nur auf, ich werde mich hüten, dir noch einmal zu schreiben, wenn Du mir das dann vorhältst. Aber du hast schon recht, es macht es mir großen Spaß, die Sachen zu organisieren und wir haben auch ziemlichen Zuspruch. Die Busse sind fast immer voll. Es wird nur mit der Zeit recht viel, was alles an dir hängt. Und wenn etwas einmal nicht so klappt, hörst du es gleich von fünfundzwanzig Leuten. Deshalb habe ich meinen Mitbewohnern schon gesagt, dass wir uns die Sachen nächstes Mal besser aufteilen müssen. Noch einmal mach’ ich nicht alles alleine. Aber setz‘ dich hin, der Kaffee ist schon fertig.“

      Im nächsten Moment stellte sie einen großen Teller mit den Keksen auf den Tisch, nach denen es schon die ganze Zeit so wunderbar roch. Philipp machte es sich auf der Sitzbank bequem und konnte es sich nicht verkneifen, gleich zuzugreifen. Nachdem seine Mutter den Kaffee eingegossen hatte, setzte sie sich zu ihm.

      „Was ist bei dir in letzter Zeit alles passiert, gibt es etwas Neues?“, fragte sie.

      Philipp überlegte kurz, ob er erzählen sollte, was bei ihm derzeit alles umgekrempelt wurde. Aber genauer betrachtet war es sinnlos, es zu verheimlichen. Martha würde es zweifellos von Julia erfahren. Außerdem, wenn er seine Pläne verwirklichen wollte, konnte er das Ganze ohnehin nicht verschweigen.

      „Wie gesagt, mir geht’s ganz gut, so wie es aussieht, stehen allerdings einige Veränderungen ins Haus.“

      Er machte eine Pause.

      „Was für Veränderungen?“, fragte Martha.

      „Voraussichtlich beruflicher Natur. Bei mir in der Bank gibt es keine Zukunft mehr für mich. Überall wird eingespart und rationalisiert, zuletzt hat es auch meine Abteilung betroffen. Deshalb sehe ich mich gerade nach etwas anderem um. Also, um ehrlich zu sein, habe ich, wie es aussieht, auch schon etwas gefunden.“ Wieder machte er eine Pause.

      „Du spannst mich aber auf die Folter“, sagte Martha.

      „Na ja, ehrlich gesagt, bin ich nicht sicher, ob dir gefällt, was ich vorhabe“, bemerkte er vorsichtig.

      „Sag‘ schon, was du machen willst, Philipp, ich bin deine Mutter und habe wohl ein Recht darauf, es zu erfahren.“

      „Na gut, ich werde voraussichtlich ins Ausland gehen“, sagte er und wartete auf die Wirkung seiner Worte.

      „Was heißt das, wohin willst du gehen, weit weg?“, fragte sie.

      „So wie es aussieht, schon eher weit, ich möchte nach Afrika gehen.“ Jetzt war es raus.

      „Nach Afrika? Was willst du dort machen?“

      „Ich möchte für eine Entwicklungshilfeorganisation tätig werden. Ehrlich gesagt, bin ich momentan an einem Punkt, an dem ich mich völlig neu orientieren muss. In der Bank läuft alles schief, sie nehmen mir meine Arbeit weg und stecken mich in eine Reservetruppe, die im Grunde keine Aufgaben hat und nur tut, was andere ihr befehlen. Weißt du, irgendwann hält man das alles nicht mehr aus und möchte nur noch davonlaufen.“

      Er nahm einen Schluck Kaffee und einen Keks, den er eine Zeit lang zwischen Daumen und Zeigefinger hin- und herrollen ließ, während er überlegte, wie er fortfahren sollte.

      „Es kommt aber noch etwas dazu“, sagte er schließlich, „etwas, das wahrscheinlich schon vorher da war, nur habe ich es erst im Zuge dieses ganzen Schlamassels erkannt und es lässt mich alles in einem neuen Licht sehen. In Wahrheit möchte ich gar nicht mehr in der Bank arbeiten. Ich will in meinem Leben endlich etwas machen, hinter dem ich voll und ganz stehen kann, das mich erfüllt und eine echte Herausforderung darstellt. Die jetzige Situation in der Bank war nur der auslösende Faktor. Den