Anele - Der Winter ist kalt in Afrika. Marian Liebknecht. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marian Liebknecht
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847634409
Скачать книгу
wahr. Obwohl er weiter nach Sarah Ausschau hielt, konnte er sie nicht finden. Plötzlich fühlte er die staubige Hand eines der Männer in seinem Nacken ...

      Der Ober hatte ihn auf die Schulter getippt, da ihm sein Buch aus den Händen auf den Boden geglitten war. Er bedankte sich, hob es auf und sah wieder hinein, so als würde er darin lesen. Seine Gedanken waren aber noch in der Wüste und bei Sarah. Er fühlte den Schweiß, der sich durch die Wärme der Sonne auf seiner Haut festsetzte und versuchte nur, das kurze Glücksgefühl festzuhalten, das er im Traum empfunden hatte, als Sarah ihm zu trinken gegeben hatte.

      Plötzlich fiel ihm der Kurs ein, der um halb sechs anfing und er sah auf die Uhr. Es war knapp vor fünf. ‚Gott sei Dank‘, dachte er, ‚noch etwas Zeit.‘ Langsam kehrte er in die Realität zurück und nahm seine Lektüre wieder auf, ehe er zwanzig Minuten später zahlte, um im Schein der mittlerweile erleuchteten Straßenlaternen den Weg in die ein paar hundert Meter entfernte Zentrale von D.C. einzuschlagen.

      Frau Artner empfing ihn mit einem Lächeln und fragte, wie er die Feiertage verbracht hatte. Als sie ihm seine Garderobe abnehmen wollte, bedankte sich Philipp, hängte Mantel, Schal und Kappe aber selbst auf den alten Garderobenständer und ließ sich von ihr zum Schulungssaal führen. Sie gingen den schmalen Gang hinunter, der ihm schon bei seinem letzten Besuch aufgefallen war, bis sie zu einer offen stehenden Tür auf der linken Seite kamen. Philipp trat ein, während seine Begleiterin zu ihrem Schreibtisch zurückkehrte.

      Es war ein mittelgroßer, Saal, der für etwa zwanzig Zuhörer Platz bot. Wenn es draußen nicht dunkel war, mochte es ein sehr heller, freundlicher Raum sein. Jetzt war er allerdings mit Neonröhren erleuchtet, was Philipp an seinen Fahrschulkurs erinnerte, der mittlerweile auch schon zwanzig Jahre her war. An den Wänden des Raums hingen Aufnahmen von irgendwelchen Gegenden Afrikas, Asiens und Südamerikas. Vorne war eine Tafel an der Wand befestigt wie in einer Schule, nur etwas kleiner. Daneben erstreckte sich eine Weltkarte.

      Im Raum saßen bereits zwei Männer, ungefähr in Philipps Alter, der eine vielleicht etwas jünger, der andere mochte ein paar Jahre älter sein. Philipp grüßte in ihre Richtung. Da sich kein Gespräch entwickelte, spazierte er umher und betrachtete die Fotos. Schließlich stellte er seine Tasche neben einen freien Tisch und setzte sich. Kurz danach stieß noch ein etwas jüngerer Mann zu den bereits Anwesenden, grüßte freundlich und machte es sich ebenfalls auf einem der Plätze bequem.

      Genau um halb sechs kam Dr. Schuster mit einem Paket Unterlagen in den Raum, sah sich kurz um und legte seinen Stapel auf den Tisch.

      „Ah, wie ich sehe, sind wir noch nicht ganz komplett, also warten wir noch ein paar Minuten. Wie geht es ihnen, das Weihnachtsfest gut verbracht?“

      Da er diese Frage in die Allgemeinheit des Raumes hinein stellte, fühlte sich im ersten Moment niemand angesprochen, bis Philipp bemerkte: „Danke, alles gut überstanden, bei Ihnen auch alles in Ordnung?“

      „Danke, alles bestens erledigt.“ Plötzlich wandte Dr. Schuster seinen Kopf zur Tür und sagte erfreut: „Ah, nun sind wir komplett. Schönen guten Abend!“

      Philipp sah ebenfalls hin und konnte im ersten Moment nicht glauben, was er erblickte. Sarah, seine Ex-Frau, sah etwas verlegen zur Tür herein, grüßte die Anwesenden und trat schließlich ein.

      „Kommen Sie nur rein, hier sind sie schon richtig“, bemerkte Dr. Schuster gutgelaunt.

      Als Sarah Philipp erkannte, machte sie ein überraschtes Gesicht, lächelte aber gleich darauf. Sie fragte, ob der Platz neben ihm frei sei.

      „Ja, sicher!“, antwortete er, worauf sie sich zu ihm setzte. Philipp tat sich schwer zu glauben, dass Sarah durch puren Zufall exakt die gleiche Idee im gleichen Zeitpunkt gehabt hatte wie er und deshalb genau im selben Kurs landete. Er konnte sich keinen Reim auf das Ganze machen, musste seine Überlegungen in dieser Sache aber auf später verschieben, da Dr. Schuster mit seinem Vortrag begann.

      „Ich möchte Sie zunächst einmal alle sehr herzlich begrüßen und freue mich, dass Sie sich für unsere Tätigkeit interessieren, immerhin so sehr interessieren, dass Sie bereit sind, eine ganze Reihe von Abenden hier mit dem Thema ,Entwicklungshilfe’ zu verbringen. Ich bin sicher, Ihr Interesse wird mit jedem Tag dieser Schulung noch wachsen, denn was wir machen, hat mit den grundlegendsten Fragen zu tun, die sich für jeden Menschen auf dieser Welt stellen. Bevor wir in die Sache selbst hineingehen – und ich kann ihnen versichern, das werden wir ausführlich tun – möchte ich mich kurz vorstellen und ihnen meine Beweggründe nennen, warum ich bei dieser Organisation arbeite.“

      Die Ansprache schien Philipp etwas übertrieben salbungsvoll, er konnte sich deren Wirkung aber dennoch nicht ganz entziehen.

      „Also: Mein Name ist Fritz Schuster“, fuhr dieser fort, „ich bin fünfundfünfzig Jahre alt, verheiratet und habe zwei bereits erwachsene Kinder, eine Tochter, die müsste jetzt – Moment – dreiunddreißig sein, und einen neunundzwanzigjährigen Sohn. Seit mittlerweile zwölf Jahren arbeite ich bei D.C. und bin für den Bereich Österreich verantwortlich. Vorher war ich nacheinander bei unterschiedlichen Instituten, Banken und Versicherungen, im Personalverwaltungs- und -entwicklungsbereich und verschiedentlich auch im Controlling tätig. Nun, was waren meine Beweggründe, zu D.C. zu gehen?“

      Dr. Schuster legte ein gekonnte rhetorische Pause ein, die allerdings einen Tick zu lang dauerte, was dem ganzen eine etwas übertriebene Theatralik verlieh.

      „Zuallererst natürlich“, setzte er schließlich fort, „hat sich diese Tätigkeit für mich deshalb angeboten, da die Organisation vor zwölf Jahren ihre Österreich-Niederlassung aufgebaut und im Zuge dessen eine erfahrene Führungskraft aus der Wirtschaft gesucht hat. Der Grund dafür, dass ich mich dann wirklich zu dieser Sache entschlossen habe, ist aber eigentlich sehr persönlicher Natur.“

      Wieder hielt er inne, diesmal nahm man ihm aber jeden Atemzug ab.

      „Ich habe mich immer gefragt, warum es auf der Welt, in der wir alle leben – und wir leben ja sehr gut – derartige Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten geben kann, ohne dass irgend jemand die Stimme für jene erhebt, die am unteren Rand des Spektrums stehen, für jene, die eben keine Stimme haben. Es klingt ja schon abgedroschen, wenn man sagt, es sei vollkommen unverständlich, dass wir hier im Überfluss leben und ein paar Flugstunden von uns sterben die Menschen an Unterernährung. Hier bei uns wird Millionen Euro teure Spitzenmedizin eingesetzt, um jemandem das Leben ein halbes Jahr zu verlängern und in Afrika müssen vollkommen gesunde Leute sterben, weil nicht einmal ausreichend Medikamente gegen die einfachsten Krankheiten vorhanden sind. Bei uns werden von vielen Leuten teure kosmetische Operationen ohne jeden medizinischen Sinn gezahlt, aber in Afrika ist ein Menschenleben nicht genug wert, dass die vielen hunderttausenden Aids-Kranken eine adäquate Therapie bekommen können.“

      Wenngleich die Moralkeulen offenbar recht tief flogen, wenn Dr. Schuster in Fahrt kam, konnte Philipp eine gewisse Folgerichtigkeit seiner Argumentation nicht verleugnen.

      „Mit diesen Dingen kann man sich abfinden, wie es die meisten Menschen tun, oder man kann irgendwann die Entscheidung treffen, dass man das in seiner Macht stehende in Bewegung setzt, um an diesen Zuständen etwas zu ändern. Hier in dieser Organisation habe ich zum ersten Mal Menschen getroffen, die dasselbe Problem hatten wie ich und denen es auch nicht mehr möglich war, einfach wegzusehen und die Dinge laufen zu lassen. Viele sagen, man könne ohnehin nichts machen, alles, was man tut, sei nur ein Tropfen auf dem heißen Stein.“

      Plötzlich fiel mit hörbarem Klirren ein Schlüsselbund zu Boden. Als Ursache stellte sich Sarah heraus, die etwas in ihrer Tasche gesucht hatte und mit leichter Verlegenheit die kurzfristig in ihre Richtung gelenkten Blicke quittierte. Dr. Schuster ließ sich dadurch allerdings nicht aus dem Konzept bringen.

      „Dazu möchte ich nur fragen: Kann die Rettung eines Menschenlebens ein Tropfen auf dem heißen Stein sein? Kann es ein Tropfen auf dem heißen Stein sein, dem Leben eines jungen Menschen in Afrika Perspektiven zu geben? Wer so etwas sagt, zeigt nur, dass er nicht bereit ist, etwas gegen diese Zustände zu tun. Sie, liebe Freunde, haben gezeigt, dass Sie etwas tun wollen, schon dadurch, dass sie hierher kommen und wissen wollen, wie die Arbeit eines Mitarbeiters von D.C.