Anele - Der Winter ist kalt in Afrika. Marian Liebknecht. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marian Liebknecht
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847634409
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nicht bewegen, es wird schon irgendwie vorbeigehen. Seit seiner Scheidung war es besonders schlimm geworden, damals hatte er gekämpft, ohne den Strom der Ereignisse auch nur einen Millimeter von seinem Weg abzubringen. Doch jetzt sollte es anders sein. Er schwor sich, dieses Mal der Entscheidung nicht aus dem Weg zu gehen, auch wenn es weh tat.

      5.

      Am nächsten Tag rief Philipp vom Büro aus gleich um halb neun morgens bei D.C., der Organisation, die er Samstag Abend beim Treffen mit Bernhard kennen gelernt hatte, an. Eine Frauenstimme meldete sich, worauf er von der Veranstaltung erzählte und angab, sich für eine Tätigkeit als Projektmitarbeiter in Afrika zu interessieren, weshalb er sich so ausführlich wie möglich über diese Arbeit und alles, was damit zu tun hatte, informieren wolle. Die Dame am anderen Ende der Leitung erklärte ihm, dafür sei Herr Dr. Schuster zuständig, der aber momentan einen Termin außer Haus habe und erst gegen Mittag komme. Da es wohl am besten sei, gleich einen Termin mit ihm zu vereinbaren, schlug sie heute 15 Uhr vor, was Philipp nach einem Blick auf seinen Terminkalender bejahte. Mit Babsi hatte er sich erst um sechs Uhr abends verabredet und es schien ihm nur von Vorteil zu sein, wenn er dann schon abschätzen konnte, ob seine Idee mit der Arbeit im Projekt überhaupt Aussicht auf Verwirklichung hatte.

      Philipp hatte seinem Zimmerkollegen Thomas angekündigt, heute früher zu gehen und winkte ihm deshalb nur kurz zu, als er etwa um zwei aufstand, seinen Mantel überwarf und die Bank verließ. Beim ersten Schritt ins Freie musste er kurz blinzeln, denn nach einer Durststrecke von einigen Nebeltagen schien erstmals wieder die Sonne. Er war recht früh weggegangen, so dass ihm noch etwas Zeit für einen kleinen Umweg blieb. Deshalb beschloss er, einen Spaziergang über den Naschmarkt mit seinen vielen exotischen Ständen und Imbissbuden zu machen. In der Bank hatte er heute nichts gegessen und da sein Magen schon seit Mittag knurrte, bestellte er sich bei einer der Buden einen Salat mit Schafskäse, Weißbrot und Oliven und genoss das Ganze an einem der Tische im Stehen. Es war heute nicht so kalt wie an den letzten Tagen und er fühlte behaglich die wärmenden Sonnenstrahlen, die ihm das Gesicht vergoldeten und deren wohltuende Wirkung nicht nur seinen Körper, sondern auch sein Gemüt durchdrang. Dabei übersah er fast die Zeit. Am Ende musste er die letzten Bissen hastig hinunter schlingen und sich beeilen, zum Büro von D.C. zu kommen, das noch etwa zehn Minuten entfernt war.

      Zwei Minuten nach drei Uhr kam Philipp bei D.C. an. Das Büro war in einem Altbau untergebracht, einem jener Jugendstilhäuser mit ihren verspielten Ornamenten, auf die man in den inneren Bezirken Wiens fast in jeder Straße stößt. Als Philipp im fünften Stock aus dem Lift stieg, trat er in ein auffallend ungepflegtes Stiegenhaus, das einen neuen Anstrich schon vor ein paar Jahren nötig gehabt hätte. Um so überraschter war er, als am Ende eines längeren Ganges auf sein Klingeln die Tür geöffnet wurde und sich vor ihm ein sehr modernes Büro ausbreitete. Er wurde im Vorraum von einer jungen Dame empfangen.

      „Guten Tag, Sie müssen Herr Engelbrecht sein, mein Name ist Artner. Wenn Sie bitte einen Moment Platz nehmen. Ich werde Herrn Dr. Schuster sagen, dass Sie da sind. Ihren Mantel können Sie dort vorne hinhängen.“

      Sie zeigte auf einen hölzernen Garderobenständer, der aussah, als sei er aus einem Alt-Wiener Kaffeehaus entwendet worden und im Grunde überhaupt nicht ins Büro passte. Anschließend verschwand sie hinter einer Tür, während Philipp auf einem der Sessel Platz nahm. Das Vorzimmer war nicht sehr groß. Der Schreibtisch von Frau Artner stand direkt am Fenster, das, wie immer in diesen Altbauten, sich fast bis zur Decke erstreckte und den Raum hell und freundlich erscheinen ließ. Gegenüber vom Fenster befand sich die Tür, in der die junge Dame eben verschwunden war und daneben an der Wand drei Sessel. Auf einem davon saß Philipp. Von seinem Platz aus sah er auf der dem Eingang gegenüberliegenden Seite einen Gang, von dem auf beiden Seiten mehrere Türen wegführten. Nach etwa einer Minute kam Frau Artner wieder aus dem Büro und signalisierte ihm, dass er jetzt kommen könne.

      Philipp musste an das Gespräch mit seinem Chef in der Bank denken, wenn auch das Thema heute erfreulicher war. Als er ins Zimmer trat, begrüßte ihn Dr. Schuster sehr freundlich. Er war um die fünfzig, hatte graues, fast weißes Haar und eine sehr einnehmende Persönlichkeit. In gewisser Weise erinnerte er Philipp an seinen Vater, besonders durch seine ruhige, aber trotzdem engagierte Art, mit der er auf die Leute zuging.

      Das Gespräch verlief recht viel versprechend. Dr. Schuster fragte Philipp, ob er eine ähnliche Arbeit schon einmal gemacht habe und als dieser verneinte, wollte er die Beweggründe für seinen Wunsch nach einem Berufswechsel wissen. Philipp erzählte von der vertrackten Situation in der Bank und vom Wunsch, endlich etwas Sinnvolles in seinem Leben zu tun. Er erwähnte auch, wie sehr ihn die Veranstaltung am Samstag beeindruckt hatte. Schließlich erkundigte sich Dr. Schuster nach Philipps Ausbildung und seiner Tätigkeit in der Bank, was ihm dieser ebenfalls anschaulich darlegte.

      „Wissen Sie, wir haben natürlich genaue Vorstellungen, welche beruflichen Voraussetzungen gegeben sein müssen, um einen guten Betreuer bei unseren Projekten abzugeben, Voraussetzungen, die bei Ihnen durch die langjährige Praxis in ihrem bisherigen Beruf, wie ich meine, vorhanden sein dürften“, begann Dr. Schuster nach einer kurzen Pause, „aber ich habe im Laufe der Zeit eine Erfahrung gemacht, und sie bestätigt sich immer aufs Neue. Weitaus wichtiger als alle Zeugnisse und Referenzen ist, dass man es wirklich will. Das gilt im Grunde für alles im Leben, aber besonders für diese Arbeit. Sie müssen sich bewusst sein, dass es etwas vollkommen anderes ist als alles, was Sie bisher gemacht haben, und wenn sie nicht mit ihrem ganzen Herzen dahinter stehen, werden Sie scheitern. Dort unten arbeiten Sie nicht, um zu leben, die Arbeit wird der Inhalt Ihres Lebens. Ist es wirklich aus tiefster Überzeugung Ihr Wunsch, in Afrika für uns zu arbeiten?“

      „Natürlich weiß ich noch nicht, was mich wirklich alles erwartet, und ich habe hier noch einiges zu regeln, aber dass ich es will, da bin ich mir völlig sicher“, sagte Philipp, etwas überrascht von dieser plötzlichen Gewissensfrage.

      Dr. Schuster fuhr fort: „Ich muss Ihnen ehrlich sagen, irgendwie scheint sie uns der Himmel zu schicken. In unserem Projekt in Swasiland haben wir gerade den Plan entwickelt, ein Genossenschaftssystem aufzubauen, um den dortigen einheimischen Bauern Maschinen und Gerätschaften zur Verfügung stellen zu können. Außerdem sollen über diese Genossenschaft auch sogenannte Startkredite abgewickelt werden, das sind Kleinkredite an Personen, die sich mit einer eigenen Arbeit eine Existenz aufbauen wollen und dafür Anschaffungen benötigen, beispielsweise eine Nähmaschine, um Schneiderarbeiten ausführen zu können. Wenn sich dieses System bewährt, möchten wir solche Kredite in größerem Umfang vergeben, um den Leuten zu helfen, auf eigenen Beinen zu stehen. Glauben Sie, Sie könnten das organisieren?“

      „Ich denke schon“, antwortete Philipp, „es ist ja ziemlich genau mein Bereich.“

      „Sie bekommen natürlich eine gründliche Einschulung“, fuhr Dr. Schuster fort, „unten wären Sie die Drehscheibe für alles, was die Gründung und Abwicklung der Kredite und der Genossenschaft betrifft: Genehmigungen, Beschaffung der notwendigen Materialien, Einrichtung der Räumlichkeiten, Information und so weiter. Wenn Sie sich dafür entscheiden, werden Sie eine Erfahrung ganz sicher machen: Es gibt bei dieser Arbeit Schwierigkeiten, die sie sich in Ihren schlimmsten Träumen noch nicht ausgemalt haben.“

      „Ich hoffe, Sie erwarten nicht zu viel von mir. Ich habe zwar viele Jahre Erfahrung im Kreditbereich, aber bisher habe ich so etwas noch nie völlig eigenständig aufgezogen“, bemerkte Philipp etwas verunsichert.

      „Immer mit der Ruhe, Herr Engelbrecht, machen Sie sich zum jetzigen Zeitpunkt bitte keine Sorgen, ob Sie es schaffen oder nicht. Wie ich schon sagte, wichtig ist, dass Sie es wollen. Wissen Sie, ich habe schon mit sehr vielen Menschen ähnliche Gespräche geführt und einen gewissen Blick dafür entwickelt, wer geeignet ist und wer nicht.“

      Er machte eine kurze Pause.

      „Ich glaube nicht, dass Sie mich enttäuschen werden.“

      Wieder sah er Philipp ein paar Sekunden an, bevor er weiter sprach.

      „Sie haben gesagt, sie müssen noch Dinge regeln, bevor Sie beginnen könnten.“

      Philipp