Anele - Der Winter ist kalt in Afrika. Marian Liebknecht. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marian Liebknecht
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847634409
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vorzustellen, damit wir alle uns untereinander kennen lernen.“

      Es trat ein Moment der Stille ein. Die Zuhörer, die der engagierten, nach Philipps Meinung allerdings recht dick aufgetragenen Rede gefolgt waren, wurden durch die letzte Aufforderung ziemlich unvorbereitet genötigt, aktiv zu werden. Dr. Schuster erkannte schnell, dass er jemanden bitten musste, zu beginnen, da er sonst eine längere Pause riskierte.

      „Vielleicht beginnen wir auf dieser Seite“, setzte er hinzu und zeigte auf den jungen Mann, der als letzter vor Sarah gekommen war und zwei Plätze links von Philipp saß, „würden Sie sich bitte kurz vorstellen!“

      Der junge Mann, der um die dreißig sein mochte und mit seinem dunkelbraunen Haar und dem ebenmäßigen Gesicht ein sehr ansprechendes Äußeres hatte, setzte sich auf seinem Platz zurecht, um dann sehr ruhig, aber freundlich und aufgeschlossen zu sprechen: „Mein Name ist Helmut Stachl, ich habe vor dreieinhalb Jahren mein Medizinstudium abgeschlossen und mittlerweile auch den Turnus hinter mir. Jetzt bin ich fertiger Allgemeinmediziner und frage mich seit längerem, wie es weitergehen soll. Das sozusagen „Normale“ wäre, entweder zu versuchen, eine Praxis als praktischer Arzt zu eröffnen oder nach einer Ausbildungsstelle zum Facharzt – welche Richtung auch immer – Ausschau zu halten. Beide Varianten sind mir aber in meiner momentanen Lebensphase in gewisser Weise zu endgültig. Da ich noch einigermaßen jung bin, habe ich den Wunsch, meinen Horizont zu erweitern, Neues kennen zu lernen und, was ja auch Sie sehr deutlich angesprochen haben, dort tätig zu werden, wo meine Arbeit dringend gebraucht wird.“

      Philipp hatte von dem jungen Mann einen recht guten Eindruck und auch Dr. Schuster hörte interessiert zu. Seine ruhige und deutliche Sprechweise erweckte den Eindruck, dass er seine Worte sehr genau überlegte.

      „Deshalb möchte ich gerne eine Zeit lang in einem Entwicklungsland als Arzt tätig sein, wobei ich nebenbei auch glaube, dass eine solche Arbeit in jedem Fall eine ganz gute Schule für einen angehenden Mediziner ist.“ Er verstummte, da er alles gesagt hatte, was zu sagen war.

      „Danke, ich freue mich sehr über Ihr Interesse, da wir, wie ich ihnen ohnehin schon im Zweiergespräch gesagt habe, derzeit gerade Ärzte benötigen, egal ob es sich um Afrika, Indien oder Südamerika handelt. Ich würde Sie sogar bitten, dass Sie unter Ihren Kollegen Werbung für diese Idee machen, vielleicht findet sich ja noch der eine oder andere, der sich so etwas auch vorstellen könnte.“

      Im nächsten Moment sah Dr. Schuster zu Philipp hin, worauf dieser zu reden begann, ohne auf eine Aufforderung zu warten.

      „Ja, also, mein Name ist Philipp, ich bin neununddreißig Jahre alt, geschieden und lebe allein. Warum ich nach Afrika gehen möchte? Ja, wenn ich eine ehrliche Antwort geben soll, ist es nicht so einfach: Zum Teil spielen die Umstände eine Rolle, zum Teil ist es der Wunsch, etwas anderes, Sinnvolleres als meine bisherige Arbeit zu machen und den Rest haben Sie schon gesagt, Herr Doktor Schuster. Bei mir kommt einiges zusammen. Die eine Antwort, den einen Grund für alles, habe ich nicht. Aber vielleicht ist das auch gar nicht so entscheidend. Wichtig ist, dass man weiß, was man möchte.“

      Dr. Schuster, der bei dieser Eröffnungsrunde eine Art Moderatorenrolle einnahm, hakte dort ein, wo Philipp geendet hatte. „Sie haben recht, uns allen geht es manchmal so, dass wir etwas tun, ohne hundertprozentig zu wissen, ob es das Richtige ist. Bei einer Sache wie dieser, die für jeden eine einschneidende Veränderung im Leben bedeutet, kann man nicht vorher alles genau abschätzen. Da ist es oft das Beste, sich auf sein Gefühl zu verlassen und einmal ein Risiko einzugehen, denn tut man es nicht und entschließt sich anders, kann es leicht sein, dass man diese Entscheidung irgendwann bereut, dann aber meist für den Rest seines Lebens.“

      Philipp war klar, dass Dr. Schuster nicht zuletzt in eigener Sache sprach, da er natürlich berufliches Interesse daran hatte, dass Leute, in die das Geld für diese Schulung investiert wurde, dann auch der Organisation als Mitarbeiter zur Verfügung standen.

      „Etwas möchte ich noch sagen“, fuhr Philipp nach Dr. Schusters Denkanstößen fort, „ich arbeite im Moment noch in einer Bank, kenne mich aus im Kreditwesen, Buchhaltung, Bilanzierung, und alles, was damit zusammen hängt. Da in der Entwicklungshilfe auch Leute aus der Wirtschaft eingesetzt werden, habe ich die Arbeit in Afrika als Gelegenheit gesehen, meine beruflichen Erfahrungen für etwas wirklich Sinnvolles einzusetzen, eine Möglichkeit, die mir derzeit leider versagt wird, weil das Profitdenken heute offenbar mehr zählt als Anstand und Fairness gegenüber langjährigen Mitarbeitern.“

      Das Schweigen nach diesem etwas verschwommen gehaltenen Bekenntnis weckte in Philipp die Vermutung, mit seiner Bemerkung das allgemein akzeptierte Ausmaß innerer Selbstentblößung überschritten zu haben. Er blickte zu Sarah, die ihn mit großen Augen ansah. Wegen ihr hatte er sich ohne Familiennamen vorgestellt. Er wollte keinen der Anwesenden auf die zwischen ihnen bestehende Verbindung hinweisen.

      „Ich danke Ihnen“, unterbrach schließlich Dr. Schuster das Schweigen, „mit Ihrer Beschreibung der Arbeitswelt von heute haben Sie sicherlich recht. Ich bin schon seit vielen Jahren in verschiedensten Positionen auch im Personalbereich tätig und kann ihre Meinung nur bestätigen. In den letzten Jahren hat sich einiges geändert, und leider nicht nur zum Besseren. Aber beschäftigen wir uns mit Erfreulicherem. Darf ich Sie bitten, sich vorzustellen.“

      Damit war Sarah gemeint. Philipp bemerkte, dass ihre Ohren leicht gerötet waren, wodurch sie der Farbe ihrer Haare sehr nahe kamen. Zu seiner eigenen Überraschung war er ziemlich gespannt darauf, was er nun noch von ihrem Leben erfahren würde.

      „Also, dann bin ich wohl dran“, sagte Sarah mit ihrer eigentümlich zart und zerbrechlich wirkenden Heiterkeit, „mein Name ist Sarah, ich bin siebenunddreißig Jahre alt und geschieden. Die Arbeit, die ich bis vor einigen Jahren gemacht habe – es war ein nicht besonders interessanter Job als Sprechstundenhilfe –, hat mich nicht befriedigt und deshalb habe ich vor vier Jahren eine Schwesternausbildung absolviert. Die dauerte drei Jahre, daher war ich – schwierige Rechnung – voriges Jahr fertig.“

      Allgemeines Lächeln.

      „Nach meiner Ausbildung habe ich in einem Krankenhaus angefangen. Das war am Anfang sehr interessant. Es gab dann allerdings Probleme mit einer Kollegin, die rangmäßig über mir stand und glaubte, sie müsse mir alles neu erklären, was ich schon seit der Schwesternschule im Schlaf konnte. Das größte Problem war aber, dass sie mich dauernd mit vollkommen sinnlosen Arbeiten beschäftigte und so vom Dienst an den Patienten abhielt. Überhaupt herrschte auf ihrer Station ein Regiment, das alles war, nur nicht patientenfreundlich.

      Ich habe dann mit dem verantwortlichen Arzt darüber gesprochen. Da er das Ganze aber als unerheblich abtat, habe ich gewusst, dass ich dort nicht bleiben möchte. Nachdem ich einige Zeit überlegt hatte, was ich mit meiner Ausbildung machen möchte, erfuhr ich von jemandem, der in die Entwicklungshilfe gehen möchte.“

      Philipp wurde hellhörig.

      „Als ich mich selbst daraufhin mit dem Gedanken beschäftigte, so etwas zu machen, wurde mir klar, dass es in meiner derzeitigen Stellung nichts gibt, was mich dort hält. Und eines wusste ich schon, als ich mit der Krankenpflege begonnen habe, nämlich, dass für eine Krankenschwester eine Tätigkeit im Rahmen der Entwicklungshilfe in Afrika, wo sie wirklich gebraucht wird, die denkbar interessanteste Aufgabe wäre.“

      Dr. Schuster und alle im Raum schwiegen. Philipp, der Sarah in gewisser Weise besser kannte als sich selbst – zumindest hatte er das einmal geglaubt –, konnte nachvollziehen, dass sie, die immer alles so perfekt wie möglich machen wollte, es unter einer solchen Person, wie sie sie beschrieben hatte, nie und nimmer aushalten konnte. Auf einmal ging Philipp durch den Kopf, dass Dr. Schuster die Namensgleichheit zwischen Sarah und ihm ja ohnehin aufgefallen sein musste, er hatte ja alle Daten von den Teilnehmern. Ob er Sarah danach gefragt hatte? Auf der anderen Seite wusste Philipp nicht einmal, ob Sarah diesen Namen überhaupt noch verwendete.

      „Ich glaube, diesen Ausführungen ist nichts hinzuzufügen. Vielen Dank!“ schloss Dr. Schuster schließlich Sarahs Worte ab.

      Als nächstes war ein Mann an der Reihe, der etwa in Philipps Alter oder etwas älter sein mochte und schräg hinter ihm saß. Er lachte sehr freundlich und