Der Sektionssaal aber war kühl, sachlich, medienfrei und auch die Autopsiegehilfen – vierschrötige Gestalten, die emotionslos mit Brustmeißel und Schädelsäge an den Leichen hantierten und bei denen es sich zum großen Teil um Arbeitssklaven aus Neoland handelte – sprachen selten und nie lauter als unbedingt nötig. Der tote Körper waren Olsen immer als die letzte Zuflucht vor einer allzu lärmenden Gesellschaft erschienen. Abgekoppelt vom Datenstrom lagen die Leichen friedlich da und warteten auf letzte Verwertung. Denn selbstverständlich durfte in Terrafranca nichts vergeudet werden. Seine Arbeit als Pathologe hatte er wegen seines neuen Jobs aufgegeben und betrat nur noch gelegentlich einen Sektionssaal.
Olsen schlurfte in die Küche und kehrte mit zwei Orangeaden ins Schlafzimmer zurück. Der Raum war vollständig auf Olsens promisken Lebensstil zugeschnitten. Ein weißer flauschiger Teppich arbeitete sich zu einem Podest hoch, auf dem sich das breite Bett samt ebenfalls weißer seidener Wäsche befand.
In Regalen rechts und links reihten sich unzählige Flakons mit Lotionen, Wässerchen und Tinkturen für unterschiedlichste Zwecke aneinander. Der Raum war fensterlos. Pinkfarbenes indirektes Licht schmeichelte Laras Körper, die gerade gebannt eine der chirurgischen Morgenshows im Fernsehen verfolgte. Spätestens jetzt fühlte Olsen einen unwiderstehlichen Drang aufzubrechen.
Berlin
Neoland umfasste Teile des ehemaligen Frankreichs, Deutschlands und Polens westlich bis zur Seine und Rhone, östlich bis zur Weichsel und südlich bis ungefähr zur Donau. Die Nordgrenze zu Terrafranca war die einzige, die scharf bewacht war, während alle anderen durch Flüsse begrenzt waren, die so stark verstrahlt waren, dass weder Mensch noch Tier es wagte, sie zu überqueren. Den Flüssen näherte man sich in keinem Fall näher als hundert Fuß. So weit bekannt war, existierte jenseits der Flüsse kein menschliches Leben.
Die Hauptstadt des wüsten und spärlich besiedelten Landes war das ehemalige Berlin, das dampfend inmitten einer Kieferneinöde lag. Vier Fünftel von Neoland waren von Wald bedeckt, der an vielen Stellen von Brandrodungen unterbrochen war.
Während das nördlich gelegene Terrafranca wegen günstiger Windverhältnisse von Strahlenschäden weitgehend verschont geblieben war, waren die Folgen des 'Großen Aufstands' in Neoland verheerend. Durch die monatelange Freisetzung von Caesium und Uran hatte sich der Wald zwanzig Jahre nach den Ereignissen stark verändert. Bis zu einer Höhe von 15 Fuß war der Boden dicht mit Kreuzdorn und Efeu bewachsen, der über Totholz wucherte und dessen Blätter so groß wie eine Männerhand wuchsen.
Efeu rankte an Buchen und Eichen hoch, die turmhoch aus diesem Urwald aufragten. Manche dieser Giganten erreichten eine Höhe von dreihundert Fuß und waren so mächtig, dass sechs Männer nötig waren, um den Stamm mit ausgebreiteten Armen zu umfassen. Wenn einer dieser Baumriesen durch Sturm oder Krankheit umfiel, schlug er mit seiner Masse breite Schneisen ins Gehölz. Alles, was die Welt vor Neoland ausgemacht hatte, verschwand unter der üppigen Wildnis. Unter Brücken und Autobahnkreuzen fanden sich die dunkelsten und bizarrsten Oasen, an denen Menschen siedelten. Innerhalb weniger Jahre hatte die Natur Asphalt und Beton besiegt. Sie waren komplett von Gestrüpp überwuchert und dienten als Schutz und als Rohstoffmine. Der Beton war an vielen Stellen von Pflanzen aufgebrochen worden, so dass die eiserne Armierung freigelegt war. Wo die Menschen das Werkzeug hatten, legte man das Eisen frei, um es weiter zu verwenden.
Mitten in der Wildnis waren primitive Siedlungen entstanden, deren Bewohner von der Jagd, vom Pilze- und Beerensammeln und vom einfachen Ackerbau mit der Hacke lebten. Die Partei verheimlichte die immense Strahlenbelastung der Vegetation. Das meiste von dem, was gesammelt oder angebaut wurde, war so stark kontaminiert, dass eine Unzahl Neoländer 'an den Strahlen', wie man das qualvolle Dahinsiechen heimlich nannte, starben. Den frühen Tod vieler Menschen erklärte die Partei damit, dass feindliche Agenten das Wasser vergifteten und Flugzeuge aus Terrafranca nachts heimlich Chemikalien über Neoland versprühten.
Die Technik, die den Alltag der Menschen vor dem 'Großen Aufstand' so sehr geprägt hatte, war unrettbar mit der Vergangenheit versunken. Dem Volk fehlten Mittel und Kenntnisse, um auch nur ein wenig anspruchsvolleres technisches Gerät herzustellen. Was an Technik die große Zerstörung überlebt hatte, wurde von ihm gehütet wie ein Schatz und mühsam in Stand gehalten, so gut es eben ging. Manches allerdings, was sich anfand, stellte die Menschen vor ein Rätsel. Toaster gehörten zu diesen Dingen, aber auch Computer und Fitnessfahrräder. Niemand konnte sich vorstellen, wozu diese Geräte einmal gedient haben sollten.
Eine Bevölkerung, die keine Rechner oder Telefone besaß, die hätten überwacht werden können, musste mit primitiveren und brachialeren Mittel kontrolliert werden.
Große Chinook-Militärhubschrauber – sie stammten von einer amerikanischen Airbase, die in Polen aufgegeben worden war - flogen regelmäßig Patrouille über den Wäldern, den Ebenen, Siedlungen und Ruinenstädten und kreisten von Zeit zu Zeit bedrohlich über einem Fleck, um entweder zu landen oder knatternd ihren Flug fortzusetzen.
Hörte man die Luft-Patrouille nahen, war es ratsam, nicht ins Sichtfeld zu geraten, sondern sofort zu flüchten und sich versteckt zu halten, bis das charakteristische Geräusch verschwunden war. Dabei war unklar, was das eigentliche Ziel dieser Flüge war; man hatte allerdings immer wieder gehört, dass die Hubschrauber irgendwo gelandet waren und sämtliche Bewohner verschleppt worden waren. Die Männer kämen zur Armee hieß es, die Frauen und Kinder zum 'Arbeitseinsatz'. Nie kam jemand zurück.
Olsen bewunderte die Hubschrauberpiloten. Mit ihren Wärmebildkameras konnten diese Teufelskerle im dichtesten Gestrüpp, in Hütten und Häusern und sogar bei Nacht Menschen aufspüren. Was für ein abwechslungsreicher Job verglichen mit seinem eigenen Beruf, der zwar Organisations- und Verhandlungsgeschick erforderte, aber in Olsens Augen nicht genug Abenteuer und Abwechslung bot. Cato beugte sich von seinem Passagiersitz zu dem ledrigen Piloten mit der Habichtsnase vor, der trotz der arktischen Temperaturen schwitzte. Aufgeregt deutete er auf den Wärmebildmonitor.
„Da sind Menschen!“ rief Cato mit den paar Brocken Neoländisch, die er beherrschte.
„Rehe...“ erwiderte der Pilot gelangweilt.
„...die sind schneller – und kleiner. Sieh hier“. Er deutete auf die orangerot zuckenden Linien, die sich in rhythmischem Auf und Ab von einer Ecke des Monitors in die andere schoben. Später döste Cato Olsen ein. Er wachte auf, als nach vier Stunden am künstlichen Horizont des Helikopters der Name der Hauptstadt des Nachbarlandes auftauchte, die offiziell 'Stadt des Spargels' hieß, bei den Bewohnern aber hartnäckig weiterhin 'Berlin' genannt wurde.
Im Dunkeln und aus einer Höhe von 2.000 Fuß waren über der Metropole nur ein paar trübe Lichter zu erkennen, die keine städtische Struktur erahnen ließen. Die Hauptstadt von Neoland war im Grunde nichts weiter als eine Ansammlung zehntausender Schuttberge, zwischen denen nachlässig freigeräumte Straßen den Blick auf einige wenige mehrstöckige Gebäude freigaben. Die wenigen hundert erhaltenen Gebäude der Stadt waren von Kletterpflanzen überwuchert. Auf den Freiflächen hatten sich Birken und dichter Kreuzdorn ausgebreitet, der ab und zu mit Flammenwerfern im Zaum gehalten wurde.
Das Machtzentrum von Neoland lag an einem innerstädtischen Fluss in der aufgegebenen chinesischen Botschaft. Das abweisende mit Aluminiumplatten verblendete Gebäude hatte den 'Großen Aufstand' fast unbeschadet überstanden.
Mit seinen Zäunen, verspiegelten Fenstern, Horchantennen, Verhör- und Folterzellen hatte es ohne größere Umbauten für die Zwecke von Neoland übernommen werden können. Der Gütige Vorsitzende hatte zu Lebzeiten bei der Inspektion des Gebäudes an vielen Stellen anerkennend genickt und nur die in Rot, Gold und Gelb und Troddeln gehaltene Dekoration komplett austauschen lassen.
„Scheußlich, weg damit“ war das einzige, was er gesagt haben soll.
Der Hubschrauber landete in der kalten Morgendämmerung auf dem Dach des Machtkomplexes und scheuchte ein paar der unvermeidlichen Krähen auf, die unwillig zur Seite wichen. Catos Blick glitt über die Silhouette der Stadt, aus der milchig grau ein spargelförmiger Turm mit Kugel und Spitze, dem Wahrzeichen, dem die Stadt ihren neuen Namen verdankte