Neoland. H.W. Jenssen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: H.W. Jenssen
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847668138
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Herkunft im Land gestrandet waren, die sich untereinander nicht verständigen konnten. Ein anderer, dass Englisch oder Chinesisch als Sprache der alten Supermächte nicht in Frage kamen. In einer der wenigen Bibliotheken, die der 'Große Aufstand' nicht völlig vernichtet hatte, waren Grammatiken, Wörterbücher und Monographien in Latein aufgefunden worden waren. Um das angestaubte Latein alltagstauglich zu machen, hatte man es mit allerhand neuen Ausdrücken angereichert. Nur wenige sprachen es fließend, und viele mischten dänische Brocken hinein.

      In Terrafranca waren Heerscharen von Linguisten über Jahre damit beschäftigt gewesen, die antike Sprache zu ergänzen und moderne Unterrichtswerke zu erstellen. Zwar sah man sich einerseits in römischer Tradition, hatte aber trotzdem Begriffe für modernes technisches Gerät wie Warper, Transluzender oder Schlafmaschinen gefunden.

      „Desidero renum pro filiae meae, bedes straks“ wiederholte der Fremde radebrechend, der sich Olsen respektvoll genähert hatte. Sein Gesicht unter seiner Kopfbedeckung glühte knallrot vor Hitze. Er schwitzte und war hochgradig nervös. Olsen musterte den Zwerg kalt und freundlich und zögerte, bevor er antwortete. Mit Daumen und Zeigefinger der Linken und Daumen und Zeigefinger beider Hände formte er die Buchstaben 'L M' für 50.000.

      „Nächste Woche kann Deine Tochter ihre neue Niere bekommen“, antwortet Cato höflich.

      Sein Gesprächspartner war ihm lästig, aber das ließ er sich nicht anmerken. Schließlich verdiente gut an diesen Leuten. Und Höflichkeit tat einer Geschäftsverbindung immer gut. Zufriedengestellt trottete der Turbanträger davon.

      „Nimm Deine Finger weg, Fettsack!“, irgendwo auf der Terrasse schrie eine Frau. Olsen drehte sich um und erblickte über den Köpfen der Menge vor dem marmornen Swimmingpool eine hübsche Rothaarige, die zum belustigten Entsetzen der anderen Partygäste gerade einem korpulenten Mann in einem metallisch glänzenden Umhang einen Pokal Weißwein mitten ins Gesicht schüttete.

      Der Dicke schnappte nach Luft und trollte sich. Die Rothaarige drehte sich triumphierend um. Dann rauschte sie zur sonnenbeschienen Balustrade in Olsens Richtung davon. Sie setzte sich auf die steinerne Brüstung in seine Nähe und blinzelte in die Abendsonne und dann kurz zu Olsen herüber.

      Er bemerkte den Blick sofort. Günstige Gelegenheiten wie diese durfte man nicht verstreichen lassen. Cato Olsen schnappte sich zwei Weinpokale von einem Tablett, das ein livrierter Kellner bereit gehalten hatte.

      „Viel zu schade um den guten Wein...“ sagte er lächelnd.

      „...ich bin Cato Olsen und habe uns etwas zum Abkühlen mitgebracht.“

      Er reichte ihr einen Pokal.

      „Lara Pulkra, ich danke Dir. Nächstes Mal lasse ich dem Kerl die Eier abschneiden“ knurrte sie.

      „Oh, bitte – sag mir vorher unbedingt Bescheid. Ich hätte eventuell Verwendung dafür“, warf Olsen lächelnd ein.

      Lara Pulkra, Cato Olsen – alle Namen, oder zumindest Namensteile in Terrafranca waren durch die Standesämter latinisiert worden, um durch Anknüpfen an eine vermeintliche römische Tradition jede Erinnerung an die jüngere Vergangenheit zu löschen.

      Lara blickte Olsen aus stark geschminkten Augen eine lange Sekunde fragend an, lachte dann schallend und zeigte dabei zwei Reihen perfekter elfenbeinfarbener Zähne. Olsen bemerkte zwei parallele kleine Narben unterhalb ihres gut gefüllten goldfarbenen Bikinioberteils, die sich beim Lachen hoben und senkten. Fachmännisch erkannte er, dass die kurzen Rippen entfernt worden sein mussten, um eine mädchenhaft schlanke Taille zu formen. Über den Schultern trug Lara eine offene orange-gold changierende Toga und an den Füßen silberne Römersandaletten.

      Nicht nur die Frauen von Terrafranca ließen ständig etwas 'an sich machen' – wie es hieß. Tätowierungen, Piercings, durch Körperteile gestochener Schmuck und korrigierte Körperzonen sowie bei Bedarf verlängerte oder verkürzte Gliedmaßen entsprachen dem Massengeschmack und waren so alltäglich wie die Nahrungsaufnahme. Lara jedoch brachte bis auf das gelöste Taillenproblem von Natur aus offensichtlich bereits vieles mit, was dem Schönheitsideal nahekam.

      „Bist Du nicht eigentlich viel zu beschäftigt, um mit mir zu flirten, Olsen?“, fragte sie prüfend.

      Vorsicht war geboten. Cato musste ihr irgendwie aufgefallen sein. Lara war ganz offensichtlich im Marketing-Senat an leitender Stelle beschäftigt. Wenn sie dem Marketing-Senat angehörte, kannte sie vermutlich seine Transluzender-Auswertungen oder konnte diese zumindest mühelos beschaffen. Dass Olsen kaum Zeit hatte, war nicht zu leugnen, verriet das Gerät doch so ziemlich alles über Lebenssituation, Ziele und Motive jedes Bewohners von Terrafranca.

      Der Transluzender wurde am Deka – also jedem zehnten Tag - genau um 12 für 10 Sekunden mit je einer Klemme am Ohrläppchen und am Geschlechtsteil angeschlossen und lieferte einen Datenstrom, der es Marketingfachleuten, Versandhäusern, Reiseanbietern, Partnervermittlungen, Immobilienmaklern und natürlich den sogenannten 'Motivatoren' vom Marketing-Senat ermöglichte, maßgeschneiderte Angebote für jedes Landeskind zu entwickeln. Mit dieser kleinen - und nicht ganz schmerzlosen Unannehmlichkeit – erkauften sich die Einwohner von Terrafranca eine reichhaltige und effiziente Versorgung mit allen erdenklichen Gütern.

      Erfüllt von der Aufgabe, die anspruchsvollen Massen stets mit den neuesten Dingen zu versorgen, warnte der Marketing-Senat die Bevölkerung, wenn Dinge alt waren. 'Alt' war ein dehnbarer Begriff, der je nach Gegenstand unterschiedliche Bedeutung haben konnte. So war Kleidung nach drei Monaten 'veraltet', Fahrzeuge nach einem Jahr und Immobilien spätestens nach fünf Jahren. Dies bedeutete, dass die Bürger Neues anschaffen mussten, und es galt als 'Verrat an der Republik', sich dem Konsumgebot nicht zu beugen.

      Obwohl ständig importiert und produziert wurde, waren manche Waren trotzdem fast nicht zu bekommen. Dazu zählten Zeitungen und Bücher. Diese wurden kaum hergestellt, und alte Bücher gab es so gut wie gar nicht. Die Beschäftigung mit der Vergangenheit – außer mit der römischen - war nicht gerne gesehen. Bunte Bildbände, die weitgehend ohne Text auskamen, stellten das Leben in im Römischen Reich vor zweitausend Jahren in idealisierter Weise dar. Aus den Bildbänden konnte man sich mit dem Transluzender sofort alles, was abgebildet war, bestellen. Togen, Marmorbänke, Sandalen, Wein, Delikatessen – aber auch Pfauenfedern oder Nachbildungen von Kurzschwertern – alles stand innerhalb kürzester Zeit zur Verfügung.

      Literatur aus der Zeit vor dem 'Großen Aufstand' war schwer zu bekommen, da sie größtenteils mit der damaligen Welt untergegangen war. Der Erwerb der wenigen verbliebenen Werke war verpönt und Wissenschaftlern vorbehalten. Verstöße gegen dieses unausgesprochene Tabu fielen aber spätestens im Transluzender auf und konnten mit dem eingebauten Gedankenverbesserer umgehend korrigiert werden. Dafür musste am Gerät nach dem Anschließen lediglich ein Schalter umgelegt und weitere 10 Sekunden gewartet werden. Danach war der lästige Drang, im 'Vergangenen zu wühlen' - wie offizielle Stellen dieses Bedürfnis lächerlich zu machen versuchten, verschwunden.

      Manche Terrafrancaner hatten eine regelrechte Obsession für den Gedankenverbesserer entwickelt und nutzten den Transluzender darum verbotenerweise erheblich länger als die erforderliche Zeit. Dies aber galt als 'Energieverletzung' und damit als eines der verabscheuungswürdigsten Vergehen.

      Wie durch ein Wunder konnten die Energieverletzer nach einer Übertretung dieser Regel eine Zeit lang weder Luxusartikel kaufen, selbst wenn sie ihre elektrischen Kaufkarten vorlegten, noch Schönheitsoperationen durchführen lassen, selbst wenn sie dafür alle Vorbereitungen getroffen waren. Nachweisbar war diese unausgesprochene Strafe zwar nicht, es gab aber keinen Zweifel, dass der unberechtigte Einsatz des Transluzenders der Grund war.

      Cato jedenfalls brauchte keine Maschine, um seine Stimmung aufzuhellen. Eine Frau wie Lara brachte ihn zum Leuchten! Mit einer eleganten Bewegung beugte er sich ganz nahe zu ihr und küsste sie auf den Mund.

      Zettel

      In einer schäbigen Kaserne tief in Neoland erwachte Silvio mitten in der Nacht vom schrillen Pfiff eines vermutlich betrunkenen Wachoffiziers, denn auf den Pfiff folgte ein unverständliches zorniges Gegröle, das in den kahlen