Bei dieser Gelegenheit pries der Staatschef regelmäßig die Bescheidenheit des Spargelgenusses und lobte allenthalben die Anspruchslosigkeit der Pflanze in endlosen Reden, bei denen er virtuos von einem Thema zum nächsten wechselte. Der 'Gütige' konnte zum Beispiel mit dem Thema Spargelanbau beginnen, die Bedeutung der Infanterie beim Spargelstechen streifen, die Vorzüge des Jugendbundes als 'frischester Organisation der Welt' preisen, um dann zwei bis fünf Fronterlebnisse einzustreuen. Niemand konnte voraussagen, wann der 'Gütige Führer' zum Ende kommen würde, und es war besser, ausgeruht und mit vollem Magen zu den Massenversammlungen zu erscheinen.
Spargel habe ihm damals in der Todeszone das Leben gerettet schwärmte er den weißen Holzspargel fast zärtlich streichelnd. Ohne das köstliche Gemüse wäre er nicht in der Lage gewesen, den 'Großen Aufstand' zu seinem glücklichen Ende zu bringen. Neolands Jugend, so der greise Staatslenker, solle sich gefälligst ein Beispiel an der Pflanze nehmen. Frische, Kraft und Festigkeit seien auch für sie ein Vorbild.
Dabei wedelte er mit dem Mittelfinger phallusgleich und zweideutig, und die Menge lachte pflichtschuldig und voll ängstlicher Übertriebenheit über derartige Anzüglichkeiten. Der Passion des Gütigen Führers folgend war das Land auf seinen wenigen bebaubaren Flächen überzogen von Spargelwällen, zwischen denen die Menschen während der Erntezeit von Aufsehern überwacht wie ein Ameisenheer herumkrauchten.
Unnötige Unterhaltungen und schon gar engere Kontakte zwischen Mädchen und Jungen waren während der Ernte zwar streng verboten, aber trotzdem hatte die Jugend gelernt, sich mit unauffälligen Blicken und Zeichen zu verständigen. So hatte Silvio zumindest Kims Namen erfahren. Nach Sonnenuntergang waren beide aus ihren Unterkunftsbaracken geschlichen und hatten im Mondschein am Rande des Feldes miteinander geredet. Sie hatten den politischen Unterricht geschwänzt, der abends nach dem Ernten stattfand und der im wesentlichen im gemeinsamen Herunterbeten von Losungen bestand, die so perfekt abgespult werden konnten, weil sie von klein auf im Stammhirn verankert zu sein schienen.
Falls herauskam, dass die beiden sich drückten, würden sie sich eine gute Ausrede einfallen lassen müssen. Da aber fast fünfhundert Jugendliche in ihrem Ernteabschnitt arbeiteten, konnten sie Glück haben und nicht auffallen.
„Morgen bringen sie alle Frauen und Kinder an die Küste.“ hatte Kim geflüstert.
„'Landgewinnung', steht im Marschbefehl“, fuhr sie fort. Sie hatten eine Weile geschwiegen.
„Und mich holen sie bestimmt bald zum Militär“ hatte Silvio gebrummt. „Wenn sie mich kriegen...“
Sie lagen aneinander geschmiegt Seite an Seite am Rande des Feldes auf einem Bett aus Plastikplanen und betrachteten die Sterne. Sie strahlten wie jede Nacht hell, weil es im Land kaum Industrie und so gut wie keine Fahrzeuge gab, deren Abgase den Himmel hätten trüben können.
Sie wussten, dass es ein ziemlich großes Risiko, sich hier vor der Arbeitskolonne zu verstecken. Wahrscheinlich würden jetzt alle nach dem Unterricht in der Kantine beim Essen sitzen und alberne Propagandalieder singen. Dieser Moment hier gehörte ihnen ganz allein, und sie würden sich ihn von niemandem stehlen lassen.
Mit der Unschuld der Ahnungslosen und dem Eifer der Gelegenheitsarmen hatten sie sich im Schutze der Dunkelheit zwischen den Spargelwällen geliebt. Morgen würden sie getrennt. Kims Gesicht, ihre Stimme, ihren Körper, ihren Geruch – Silvio wollte nichts vergessen. Er wollte sie wiedersehen.
Kim war sofort in den hageren und auf sanfte Art rebellischen Silvio verschossen, der so anders als die eingeschüchterten Jungs im politischen Unterricht war, die auch bei den absurdesten Behauptungen des Politischen Leiters nicht den geringsten Anflug von Geringschätzung zeigten.
Vor dem Morgengrauen küssten sie sich ein letztes Mal und schlichen zurück in ihre Baracken.
Belial
Das Schneetreiben hörte auf. Als das Porträt mit dem durchdringenden Blick des Verblichenen seine Höhe erreicht hatte, starrte Silvio einfach durch das Bild hindurch. Er wollte lieber an Kim denken. Wie die meisten Neoländer beherrschte er es perfekt, Aufmerksamkeit bei völliger Teilnahmslosigkeit vorzuspiegeln. Mit einer langsamen synchronen Kopfbewegung folgten die Rekruten dem wenige Fuß entfernten vorbeirollenden Katafalk mit der Leiche des Präsidenten.
Eine unbestimmte Angst arbeitete in Silvios Eingeweiden. Wenn das Leben unter dem 'Gütigen' schon hart gewesen war, wie würde es erst unter seinem Sohn werden, von dem Gerüchte – und davon entstanden in jeder Sekunde Hunderte in Neoland – nichts Gutes berichteten?
Die gewaltige Menschenmenge, die sich jenseits der Paradestraße gegenüber den angetretenen Wachsoldaten versammelt hatte, blickte mit gesenkten Köpfen auf den betonierten Aufmarschplatz mit den auf Halbmast gesetzten Fahnen. Der Betonboden war so kalt, dass die Schneeflocken darauf liegen geblieben waren. Hier und da hörte man ein angestrengtes Stöhnen und Weinen, das sich mit dem Triebwerksgeheule von sechs 'Vaterland-Düsenjägern abwechselte, die in Formation mehrmals dicht über die Köpfe der Menge hinwegdonnerten. Die Jettriebwerke hinterließen lange bunte Rauchfahnen in Blau, Rot und Schwarz, den Farben des Landes.
Jedes Kind lernte, dass Blau für die Weisheit, Rot für die Liebe und Schwarz für den Tod stand, ohne, dass es den Sinn dieser Begriffe verstanden hätte. Schon die Erstklässler der vierjährigen Volksschule (länger gingen nur die Kinder der Partei in die Schule) lernten das Gedicht 'Die drei Farben' auswendig.
Blau, Schwarz und Rot
das ist unser Glück
verlachen wir den Tod
niemals geht's zurück
Belial, der Sohn des 'Gütigen' und ein halbes Dutzend Generäle, schälten sich umständlich aus den schwarzen Limousinen, die dem Sarg auf dem Lastwagen gefolgt waren.
Der Sohn des Toten, der jetzt die fahnengeschmückten Holztribüne betrat, war schon als kleiner Junge herausgeputzt in Begleitung des Vaters bei den Massenveranstaltungen erschienen. In der Phantasieuniform eines 'Kinderadmirals', eines Ranges, der extra für ihn erfunden worden war, hatte er stolz die weiß behandschuhte kleine Hand zum Gruß an die viel zu große Offiziersmütze gelegt, wenn das Defilee der Soldaten an ihm und seinem Vater vorüber marschierte. Der blickte ob dieses Anblicks gerührt und mit gütiger Strenge auf sein Fleisch und Blut herab. Waren das nicht die gleichen wasserblauen Augen, das gleiche strohblonde Haar, der gleiche stets halbgeöffnete fleischige Mund, der immer ein wenig an eine klaffende Wunde erinnerte? Jeder in Neoland kannte das Doppelporträt von Vater und Sohn, das überlebensgroß an jedem Polizeiposten, jeder Schule aber auch jeder der kärglich ausgestatteten Lebensmittelzuteilungsstellen in den Städten des Landes angebracht war.
Vor Jahren, am 'Tag der Heldenmutter', hatte Globzon, Erster Sekretär der Heimatfront und Belials Erzieher, dem jungen Erben der Macht im 'Stadion des Großen Aufstandes' vor aller Augen ein goldenes Kindermaschinengewehr überreicht. Kriegsspielzeug wurde im Rahmen der normalen Waffenproduktion seit Jahren in den Waldwerkstätten von Neoland von besonders zuverlässigen Gefangenen 'für den Export' - wie es hieß - gefertigt.
Dann hatten Clowns Hirsche und Wildschweine ins Stadionrund getrieben. Treiber in orangenen Warnwesten dengelten unter dem Gejohle einer Abordnung von Maiden des Jugendbundes auf Blechnäpfe ein, um das Wild in Aufregung und die Zuschauer in Ekstase zu versetzen. Auf einer großen Leinwand hatten die Zuschauer verfolgen können, wie Belial mit geschickten Handgriffen zuerst das Dreibein seines