Neoland. H.W. Jenssen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: H.W. Jenssen
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847668138
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Position und visierte sein Ziel an.

      Prüfend blickte der Gütige Führer auf seinen Spross. Der flüsterte seinem Vater etwas zu und lächelte ihn an. Wie sehr rührte die Massen diese Geste des Einverständnisses zwischen Vater und Sohn. Ein anerkennendes Raunen ging durch die Ränge. Der Vorsitzende zwinkerte seinem Sohn aufmunternd zu und wich in gespieltem Respekt einige Schritte beiseite. Schon bellte eine krachende Maschinengewehrsalve über die Köpfe der Zuschauer, und ein Keiler und ein Treiber sackten tödlich getroffen zusammen.

      Sofort schnellte Globzon von seinem Sitz in der Ehrenloge und applaudierte. Auch die Menge durchzuckte es wie ein Blitz. Beifall brandete auf. Hochrufe erklangen. Den Zuschauern zugewandt waren im Stadionrund Truppen des Wachregiments postiert, das den Vorsitzenden und seinen Spross schützte. Als sie die Unruhe bemerkten entsicherten die zweihundert Wachsoldaten, die ihre Gesichter die ganze Zeit den Zuschauerrängen zugewandt hatten, ihre Sturmgewehre mit hörbarem Klacken. Noch zweimal fegte eine MG-Garbe über Zuschauer, Hirsche, Treiber und Schweine hinweg, ohne etwas zu treffen. Dann setzte Musik ein, und Mädchen des Jugendbundes in fleischfarbenen Leibchen und schwarzen flatternden Bändern tänzelten zum 'Marsch der Mutter' graziös ins Stadion.

      Es war zu einem kurzen Massenaufruhr gekommen, in dessen Verlauf Vater und Sohn Vorsitzender von Soldaten des Wachregiments über sichere Pfade aus dem Stadion herausgebracht worden waren. Das Wachregiment hatte nach einer halben Stunde die Kontrolle über das Stadion zurückgewonnen – doch vorsichtshalber war die Veranstaltung in der Staatszeitung (und einzigen Zeitung) 'Freier Gedanke' nur mit einem Halbsatz erwähnt worden.

      Aus dem Staatsblatt, einer mit großer Schrift und vielen Bildern erscheinenden Postille, deren bräunliches grobes Papier das Einwickeln von gelegentlich zugeteilten Fleischrationen, aber wegen seiner Beschaffenheit nicht einmal das Reinigen nach dem Stuhlgang erlaubte, erfuhr man über Belial im übrigen, dass er bereits mit zehn Jahren eine Oper komponiert, mit 13 mehrere neue Werkstoffe für die Rüstung erfunden hatte und mit 16 Jahren an der Nordgrenze hinter den feindlichen Linien aus einer Militärmaschine abgesprungen war. Anschließend habe der Sechzehnjährige seinem Stoßtrupp mit sieben Getreuen 20 feindliche Panzer vernichtet. Der Jahrestag jedes dieser Ereignisse wurde im Staatsblatt, im Rundfunk und in der Wochenschau feierlich und ausführlich begangen. Das Fernsehen war seit dem 'Großen Aufstand' in Vergessenheit geraten und sein Betrieb nicht wieder aufgenommen worden.

      Nun trat der 19jährige Belial in weißer Bärenfellmütze und weißem etwas zu knappen Zobelfellmantel flankiert von Globzon und dem Militärrat, sechs griesgrämig drein schauenden alten Männern im Generalsrang, an das Mikrofon der Rednertribüne, um die Trauerrede zu halten.

      Seit dem Vorfall im Stadion hatte man Belial nicht mehr in der Öffentlichkeit gesehen. Aus dem blassen dünnen immer etwas abweisend blickenden Kind war ein kräftiger junger Mann geworden, aus dessen dicklichem auf dem riesigen Bildschirm bis zum Erschrecken vergrößertem Gesicht kalte helle Augen einen Punkt oberhalb der hundertausendköpfigen Menge fixierten. Belial schien sich an dem herausgepressten Weinen und Stöhnen zu ergötzen. Schließlich war das Volk zu Tausenden zu diesem Ereignis hergeschafft worden, um seinen Schmerz über den Tod des Landesvaters zu bekunden. Stumm genoss Belial die Szene und wandte sich kurz an einen seiner Generäle. Er wechselte eine paar Worte mit ihm und deutete dann mit einer knappen Geste in Richtung einer Zuschauergruppe, die daraufhin in noch lauteres Schluchzen ausbrach.

      Abrupt setzte der Trauermarsch aus. Weinen und Klagen verebbten. Die mächtigen Lautsprecher links und rechts der Tribüne knisterten, als ob die angespannte Erwartung sie elektrisch aufgeladen hätte.

      Mit einer erstaunlich hohen gequetschten Stimme, die der des Alten zum Verwechseln ähnlich war, begann Belial zu sprechen.

      „VoVoVoVoVolk k k von n n Neeo eo eo land land land!“ schepperte das Echo. Irritiert kniff Belial die Augen zusammen. Auf dem Panorama-Bildschirm konnte Silvio deutlich sehen, wie sich vor dem Mund des neuen Machthabers ein zorniges Atemwölkchen bildete. Belial zögerte, dann sprach er weiter.

      „Volk von Neoland...“ Er breitete die Arme aus.

      „...Huldige Deinem neuen Herrscher, dem Statthalter des Gütigen! ..ütigen, ütigen“

      „Hurra, hurra, Belial lebe hoch“ schrie die Menge in gehorsamer Entfesselung ein ums andere Mal, bis Belial nach einer guten Minute die ausgebreiteten Arme senkte und sich anschließend nach Diktatorenart selbst applaudierte.

      „Durch gnadenlose Strenge werden wir dem Gütigen Führer unsere Ehre erweisen und alle Saboteure...“ - Silvio bemerkte, dass der Sohn des toten Präsidenten nicht nur die gleiche Stimme, sondern auch dessen starken S-Fehler geerbt hatte - „... aufspüren und vernichten, die die Lebensgrundlagen unseres heiligen Volkes zerstören. Der Gütige Führer, mein Vater, um den wir hier heute alle weinen, hat befohlen, entschlossen zu handeln, denn die Zukunft unserer ewigen Nation steht dem Spiel.“

      Silvio spürte wie seine dicken Zehen vor Kälte taub wurden und versuchte mit wenig Erfolg, sie in seinen Paradestiefeln in eine wärmende Auf-und-Abwärtsbewegung zu versetzen. Um sich von dem Schmerz abzulenken, konzentrierte er sich auf die akustisch schwerverständliche Rede des neuen ersten Mannes der Heimat. Der pries nun bereits seit einer Viertelstunde – thematisch mäandernd wie der Alte - die Menschen, die Landschaft, die Produktion des Landes, seine eigenen sowie - etwas weniger ausführlich - die 'unermesslichen Leistungen' seines Vaters.

      Von irgendwo her erklang plötzlich das hohle Geräusch, von aufeinanderschlagendem Blech und Beton. Wenige Augenblicke später das gleiche Scheppern noch einmal. Kein Soldatenkopf rührte sich, aber aus den Augenwinkeln sah Silvio zwei Kameraden reglos bäuchlings auf dem Boden liegen. Ein Stahlhelm, der unsanft in Kontakt mit dem Beton gekommen und Ursache des Krachs war, kullerte im Zickzack in Richtung Rednertribüne. Belial stutzte eine lange Sekunde.

      Wahrscheinlich hatten Kälte und Entkräftung die beiden Soldaten gefällt. Derartiges geschah in einem Land, dessen Herrscher stundenlange Militärparaden liebte, natürlich immer wieder. Bei solchen Anlässen zusammenzubrechen hatte für die Soldaten unangenehme Folgen. Zunächst einmal ließ man die Ohnmächtigen unbeachtet liegen. Anschließend würde die geheime Militärpolizei sie aufklauben, aufs Revier bringen und Fragen stellen. Wollte sich hier jemand drücken? Handelte es sich um eine Art Demonstration? Vielleicht steckte gar die Absicht dahinter, den Staat lächerlich zu machen.

      Außer dem Verhör und dem Spott der Kameraden blühten dem Bedauernswerten eine Nacht 'im Loch' ohne Decke, ohne Wasser und ohne Essen. Nach einem weiteren kurzen Verhör ließ man ihn dann meistens in Ruhe. Die übrigen Soldaten, die durchgehalten hatten, würden dagegen eine Extraration erhalten. Die Heimat päppelte die Soldaten des Wachregiments.

      Latein

      Cato Olsen spielte gedankenverloren an der Fibel seiner marineblauen Toga. Mit der Linken, deren Ellenbogen auf dem Geländer der Terrasse einer klassizistischen Villa ruhte, und die einen herrlichen Blick aufs Meer bot, stützte er das Kinn. Er saß auf einer marmornen Bank und kniff die Augen zu Schlitzen, denn er musste sich konzentrieren, um sein Gegenüber zu verstehen. Obwohl er vor Olsen stand, war der Mann einen halben Kopf kleiner. Zu einer zu engen weißen Toga trug der Zwerg einen stattlichen safranfarbenen Turban. Der Kleine sprach ein stümperhaftes Latein, und er sprach es zudem mit einem hässlichem Akzent. Wo war dieser Mensch nur zur Schule gegangen? Olsen seufzte unmerklich. Schließlich hatte sich seit gut drei Jahrzehnten Latein als Verkehrssprache in diesem Teil der Welt, in Terrafranca, durchgesetzt.

      Seit dem 'Großen Aufstand' war die Welt – oder besser das, was von ihr übrig geblieben war - in zwei Hemisphären geteilt, deren Bevölkerung nun schon wieder um die sechs Millionen Menschen betrug. Angeblich sollten es – so wusste Olsen es zumindest vom Hörensagen – zuvor neun Milliarden gewesen sein. Aber das schien unvorstellbar.

      „Was möchtest Du genau?“ fragte Cato den Turban mit leichtem Stirnrunzeln.

      Da hunderte Sprachen mit ihren Sprechern im Zuge der Katastrophe untergegangen waren, hatte man sich in Terrafranca auf das Idiom der alten Römer besonnen, obwohl es in einem Teil der Welt lag, den sie weder erobert