'Bruder, Schwester, Kamerad und Parteikamerad. Nach heldenhaftem Abwehrkampf unserer Truppen dringen Horden aus Terrafranca von Norden auf unser Gebiet vor und nehmen Tausende Geiseln. Wir aber, werden den Feind zurückschlagen und koste es uns noch so viele Opfer.'
Schließlich zeigten die Bilder entschlossen blickende Neoländer Soldaten mit kantigen Gesichtern in schmucker Ausgehuniform, stramme Erntehelferinnen, strahlende Kinder und zu ihren Füßen gut genährte Schweine und Gänse in strahlend weißem Federkleid. An Stelle der aufwühlenden Musik von vorhin legte sich ein harmonischer Streicherteppich über die friedlichen Bilder. Auf der Leinwand flatterte jetzt bildfüllend die Fahne der Partei, und die sonore Stimme des Sprechers erklang
„Sei bereit, und bringe Dein Opfer für Freiheit und Vaterland!“
„Für Freiheit und Vaterland“ antwortete die Masse halbbeeindruckt mechanisch und von klein auf darauf abgerichtet, den eingeübten Riten zu folgen. Dann war die Vorstellung vorüber, und die Menschen strömten aus dem Vorführsaal. Sie sammelten sich im Foyer, wo drei müde junge Frauen in Rot-Kreuz-Uniformen Suppe aus einem enormen Blechkübel verteilten. Wer seine Suppe bekommen hatte, kauerte auf einer der Holzbänke und schlürfte ergeben die mehr wässrige als fettige Brühe in sich hinein. Brotlaibe, Schweineschmalz und irdene Schnapskrüge kamen auf die Tische, und die Anspannung der Menschen löste sich allmählich.
„Diese Hunde! Diese lateinischen Teufel! Habt Ihr das gesehen? Sie ermorden unsere Menschen!“ schrie eine junge blonde Frau empört, die wenn nicht schon am Umstand, dass sie hier das große Wort führte, dann spätestens an Stiefeln und Koppelschloss als Funktionärin zu erkennen war. Als keine Reaktion von den um die Tische Sitzenden kam, blickte sie lauernd in die Runde. Pflichtschuldig murmelten die Tischgenossen nun beifällig und nickten unschlüssig zu ihrer geifernden Rede.
Wer von den Zuschauern den eigenen Staat nicht aus ganzem Herzen hasste, stand ihm zumindest ablehnend gegenüber. Aber die Gräuel der Terrafranca-Soldaten, die sie hier mit eigenen Augen gesehen hatten, verunsicherten selbst die Kritischen ein wenig, die auch Belial jede Grausamkeit zutrauten. Trotzdem war es ratsam, jedes sichtbare Zeichen von Gleichgültigkeit oder gar offener Ablehnung gegenüber dem Staat oder seinen Funktionären zu vermeiden und sich unauffällig zu verhalten.
Nach etlichen Schnäpsen verließ die Funktionärin beschwipst und mit sich selbst zufrieden den Saal. Die Wochenschau hatte ihren Eindruck nicht verfehlt. Wieder einmal war sich die Funktionärin sicher, dass sie auf der richtigen Seite stand. Diese primitiven Proleten würden es auch noch begreifen. Leicht schlingernd trat die Frau in die Dunkelheit hinaus und merkte nicht, dass ihr in sicherem Anstand zwei Männer folgten, die die ganze Zeit über nüchtern geblieben waren.
Lob
„Ein Meisterwerk der Propaganda!“, Lara Pulkra starrte ungläubig in den Telefonhörer, dann lächelte sie stolz. Es war sehr ungewöhnlich, dass Globzon direkt nach einer Wochenschauübertragung über die geheime Leitung anrief, noch seltener, dass er Lara lobte.
„Diese Wochenschau hat sie aufgewühlt!“ schwärmte Globzon mit seiner warmen Stimme.
Auch aus den übrigen Lichtburgen des Landes kamen erbauliche Daten. Tatsächlich gelangen die Computeranimationen immer realistischer und es glückte, den Bildern einen glaubwürdigen dokumentarischen Touch zu geben, zum Beispiel indem man angebliche Archivaufnahmen künstlich alterte und ab und zu vermeintliche Kriegsreporter bei einer Attacke des Feindes 'sterben' ließ. Effektvoll wurde dann im Abspann der Name des Reporters neben einem Kreuz eingeblendet. Das Kreuz hatte ansonsten seine religiöse Bedeutung völlig verloren.
Genauso erfunden wie die Kampfszenen waren die Bilder weinender Frauen und Kinder, die an mit der Spargelfahne bedeckten Soldatensärgen knieten, sich in ihrer Verzweiflung das Haar ausrissen und mit den Fingernägeln die Wangen blutig kratzten.
Die Schlachten, die Massen zerlumpter bedauernswerter Neoländer in den Lagern des Feindes, die Divisionen schwer bewaffneter Terrafranca-Soldaten, die Panzer, die wimmernden Kinder und verzweifelten Flüchtlinge – sie alle entstanden im Rechner.
In diesem Krieg ging es nicht um Territorien sondern um die Alleinherrschaft über Gehirne und Gefühle. Es war das, was Globzon, die graue Eminenz des Regimes, die 'weiße Diktatur' nannte. Diese war die appetitlichere Variante einer blutigen Unterdrückung, die sich mit elektronischen Bilderlügen verschleiern ließ.
Die Waffen in diesem Kampf waren keine Panzer und Granaten, sondern erstklassige Software, die auf den Festplatten von Superrechnern in Terrafranca gespeichert war. Der Marketing-Senat, die mächtigste Behörde von Terrafranca, beschäftigte die besten Programmierer und Drehbuchschreiber, die sich darauf verstanden, mit aberwitzigen Plots und manchmal auch mit nur einer Textzeile die Gemüter der nach Bildern und Aufregung gierenden Neoländer zum Kochen zu bringen.
So war die heutige Wochenschauübertragung in Globzons Augen geradezu perfekt gelungen. Zwanzig in jedem Vorführsaal versteckte Kameras hatten alle Reaktionen in jedem Zuschauersaal des Landes erfasst. Per geheimer Leitung waren die gewonnenen Daten nach Terrafranca überspielt worden und dienten nun zur Vervollkommnung weiterer Wochenschauberichte.
Neoland hatte es seit langem aufgegeben, die Wochenschauen selbst zu fabrizieren. Zu primitiv waren die Arbeitsmittel und zu aufwendig die Herstellung. Doch die vom vorgeblichen Feind durch die Macht der Illusion erschwindelte Gefolgschaft hatte ihren Preis.
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