Neoland. H.W. Jenssen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: H.W. Jenssen
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847668138
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lassen. Vielleicht hatten sie die Sperrstunde missachtet, waren zu spät zur Arbeit erschienen oder hatten vergessen, eines der Doppelporträts oder der Landesflaggen nach Vorschrift zu grüßen und waren denunziert worden. Die Flaggen erinnerten an den 'Großen Aufstand' – und wie von den Bildern des Vorsitzenden und seines Sohnes es gab nicht eben wenige davon in Neoland. Vielleicht waren sie aber auch rein zur Abschreckung verhaftet worden, wie es seit einigen Jahren üblich war. Niemand traute sich zu fragen.

      Trotz des jämmerlichen Anblicks, den die Frauenkolonne bot, waren die jungen Männer sofort elektrisiert vom Duft der Mädchenkörper und dem Klang ihrer Stimmen. Dünn besiedelt wie Neoland war, begegneten Menschen einander ohnehin selten. Junge Mädchen und junge Männer selbstverständlich noch seltener.

      Alle Jugendlichen mussten den Massenorganisationen beitreten, in denen streng darauf geachtet wurde, dass sich die Geschlechter nur unter Aufsicht trafen. Sauertöpfisch dreinblickende Funktionärinnen angetan mit den für sie viel zu jugendlichen Uniformen des Bundes schlichen bei diesen Anlässen lügnerisch lächelnd von einem zum anderen Grüppchen und horchten auf die Gespräche, die mit dem Näherkommen einer dieser Wachteln im Handumdrehen einen unverdächtigen Gegenstand annahmen.

      Umso ekstatischer fielen zufällige Begegnungen wie diese im Militärlaster aus. Rasch hatten sich auch in den vorderen beiden Lastwagen Pärchen gefunden, die heftig mit einander knutschten und sich gegenseitig befummelten und schließlich mit einander unter den Augen aller anderen sogar vögelten. Gelegenheiten wie diese ließ sich trotz des Verbots niemand entgehen, beschränkten sich die sexuelle Erfahrung der Jugend doch auf gelegentliches Missbrauchen wehrloser Geschöpfe wie Hühner, Ziegen, Hunde oder Schafe sowie auf Masturbation.

      Rekruten – wie die erwachsene Bevölkerung überhaupt - konnten in sexuellen Dingen auf eine gewisse Narrenfreiheit setzen. Wie in allen Diktaturen waren Suff und Sex die Ventile, die das Regime geöffnet hielt und kaum regulierte.

      Selbst die Spitzel, die eigentlich immer da anzutreffen waren, wo mehr als fünf Personen zusammenkamen, musste man in diesem Fall nicht fürchten. Sogar die furchterregenden Feldgendarmen drückten Alkohol und Sex ein Auge zu. Zwar hielt die Staatsführung offiziell das Ideal der Keuschheit hoch, huldigte aber andererseits dem Ideal ungezügelter Fruchtbarkeit.

      „Wenn eine starke Nation heranwachsen soll, muss man der Natur ihren Lauf lassen“, war eine der Weisheiten der Partei. Der Gütige Führer hatte sich zu Lebzeiten bei öffentlichen Auftritten stets mit Kindern umgeben und in seinen Reden unablässig die heilige Aufgabe der Frau gepriesen, die höchste Erfüllung darin fände, Partei und Volk reichlich Kinder zu schenken.

      Jedes überlebende achte Kind einer Familie durfte darum auf die Patenschaft des ersten Mannes von Neoland und auf zahlreiche Privilegien hoffen, von denen das beste die Befreiung vom Militärdienst, das zweitbeste die Sicherheit vor Verhaftung war.

      An einem Militärposten hielt die Kolonne. Zugführer Scholz ließ die Frauen aussteigen. Unauffällig drückte die Blonde, die Silvio während der Fahrt unablässig angestarrt – und die seinen Blick gelegentlich erwidert hatte, Silvio einen eng zusammengefalteten Zettel in die Hand.

      „He Langer“, flüsterte sie. „Du hast ein gutes Gesicht und scheinst nicht so ein Schwein wie Deine Kameraden zu sein. Nimm den Zettel und bring ihn dem Widerstand. Wir sind in Lebensgefahr.“

      'Widerstand?' Silvio durchzuckte es wie ein Blitz. Trotz der Kälte fing er an zu schwitzen. Gab es sie also doch, die 'Aufsässigen', die angeblich den Umsturz planten und den Vorsitzenden und seinen Sohn umbringen und eine neue Ordnung errichten wollten? Wie sollte ausgerechnet er, der außer seinem Dorf nichts kannte, Kontakt zum Widerstand bekommen? Unauffällig ließ Silvio den Zettel in der Beintasche seiner Uniformhose verschwinden. Silvio hoffte, dass unter den Aufsässigen jemand war, der lesen konnte. Er selbst hatte es nie richtig gelernt.

      Terrafranca

      „Merda!“, fluchte Olsen. Er hasste die Unerbittlichkeit, mit der der Transluzender am Deka genau um 32.400 Sekunden angelegt werden musste. Das Ding nervte und schmerzte, und er hatte wirklich besseres zu tun. Grob schob er Lara zu Seite, die sich neben ihm im Bett räkelte und ein Bein über ihn geschlagen hatte.

      „Noch 20 Sekunden“ flüsterte Lara etwas atemlos und klemmte stöhnend das Gerät wieder an. Olsen tat es ihr gleich. Er hasste diese Prozedur.

      Im Grunde war es ja sehr bequem, sich nicht selbst um die Erfüllung der eigenen Bedürfnisse kümmern zu müssen. Der Marketing-Senat erledigte alles, indem er den freien Kräften des Marktes – in diesem Fall den individuellen Wünschen, die der Transluzender automatisch aus dem Frontalkortex und den Schleimhäuten der Menschen auslas - alles überließ. P.C. - „panem es circensis“ (Brot und Spiele) war das vom römischen Vorbild übernommene Motto. Selbst bei der Partnerwahl wurde nichts dem Zufall überlassen, weil man am Transluzender einfach den sogenannten 'Pirsch-Modus' einstellen konnte. Ohne lästiges Geplänkel, ohne zeitraubendes Gebalze, kamen so Männer mit Frauen, Frauen mit Männern, Frauen mit Frauen und Männer mit Männern in Kontakt und ohne Umschweife zum Ziel.

      Sobald man auf jemanden traf, dessen Vorlieben den eigenen entsprachen, blinkte, summte und vibrierte das Gerät. Die Auswertungsalgorithmen waren immer weiter perfektioniert worden. Schließlich sonderte jeder Einwohner, wo er ging und stand, konsumierte, kopulierte, entspannte oder verdaute, eine Unsumme von Daten ab, die die der Marketing-Senat unablässig analysierte.

      Was immer es auch sein mochte – welches Angebot eines Unternehmens jemand angenommen, angesehen oder ignoriert, welche Veranstaltung er besucht und wie sehr oder wenig begeistert er oder sie davon gewesen war – alle Regungen wurden mit Hilfe ausgeklügelter Rechenoperationen kontinuierlich, unauffällig und effektiv aufgezeichnet und ausgewertet und bildeten in ihrer ungeheuren Summe die Grundlage für alle Entscheidungen die der Marketing-Senat, das Führungsgremium des Staates, traf.

      Die Peinlichkeitsschwelle lag hoch in Terrafranca. Auf die Privatsphäre zu achten, galt als rückschrittlich. Olsen war es dennoch eindeutig lieber, seine Partnerinnen, die er regelmäßig und in kurzen Abständen wechselte, aus eigener Kraft zu erobern. Regelmäßig kamen E-Mails und sogar Briefe des Marketing-Senats, in denen er aufgefordert wurde, endlich den Gedankenverbesserer zu nutzen. Gelangweilt löschte er die Werbe-E-Mails, die ihm die Vorteile des bestehenden Systems in aufwendig zusammengestellten Filmchen nahebringen wollten. Wenn er diese einmal wieder ignoriert oder gelöscht hatte, quäkte aus jedem Lautsprecher, in dessen Nähe er geriet, tagelang der Präferenzer-Jingle - eine unerträgliche süßliche Melodie, wie Olsen fand. Das Internet verfolgte ihn mit Präferenzer-Werbeeinblendungen, und wie zufällig patrouillierten hübsche Präferenzer-Promoterinnen vor seinem Wohnblock, lächelten strahlend und wackelten mit Po und kaum verhüllten Brüsten. Es war ein Spielchen, bei dem es darum ging, die Nerven zu behalten. Olsen versuchte deshalb, diese Belästigungen zu ignorieren. Der Senat konnte ihm nicht wirklich gefährlich werden. Diese Leute brauchten ihn schließlich mehr als er sie, das wusste Olsen.

      Sein überbordendes Selbstbewusstsein verdankte er nicht zuletzt einer hervorragenden Ausbildung. Auf Anraten eines Onkels hatte Olsen während seines Tennis- Golf- und Polostudiums an der Leisureluxury-University in Kopenhagen, das in einer merkwürdigen Mischung aus Antike und Moderne inzwischen 'Terrafranca-City' hieß, einige Semester Medizin belegt. Schließlich hatte er sich für die Pathologie entschieden.

      Es war weniger das Zerlegen der Körper oder das Untersuchen der Todesursachen, das ihm zusagte, als vielmehr die paradiesische Ruhe im Sektionssaal. Hier war einer der wenigen Orte, an denen man für sich sein konnte, wo man Abstand gewann zum unablässigen geschäftigen Konsumieren und Kopulieren im Lande.

      Es war, als ob auch die Toten die knapp bemessene Ruhe vor dem letzten und lärmenden Akt des Beerdigungsrituals genössen. Denn, nachdem der tote Körper nach römischer Sitte von den Verwandten rasiert, gebadet und parfümiert worden war, wurde er mehrere Tage aufrecht sitzend in der Öffentlichkeit in einer Sänfte herumgetragen. Es war wie ein Zwang. Mit dem Eintritt des Todes wurde dieser sofort verdrängt. In der Trauer sollte alles an das Leben des Toten erinnern, nicht an sein Ende. Nach einer Trauerwoche, in der die