Mathildas Buch. Gudrun Elisabeth Bartels. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gudrun Elisabeth Bartels
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783748599401
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beiseite genommen und ihnen gesagt, dass dieser Mann, dieser Hitler, keine guten Dinge tat und dass sie alle niemals seine Anhänger sein würden. Er hatte den Krieg mit der Welt angefangen und er ließ Menschen aus dem eigenen Land verschwinden. Wohin wusste niemand so genau. Man sprach von Lagern, in denen sie zusammengetrieben wurden und aus denen sie nicht lebend wiederkamen.

      Mathilda hatte sich dazu entschlossen, ihren Kinder so viel wie möglich und nötig zu sagen, damit sie verstanden, warum sie in manchen Situationen so und nicht anders reagieren konnte. Und die Kinder hatten verstanden. „Ist Frau Rosenbaum auch in so einem Lager?“ hatte Emilia gefragt. „Das ist möglich“, hatte Mathilda geantwortet, „aber genau weiß ich es nicht.“

      „Und warum? Was hat sie getan?“ Nikolas wollte mehr wissen.

      „Nichts“, sagte Mathilda, „sie hat nichts getan. Nur, dass sie Jüdin ist.“

      Das hatten die Kinder nicht verstehen können. Wer konnte es schon. Doch sie selber mussten spüren, dass es scheinbar ein großes Verbrechen war, Jude zu sein. Als sie zu dritt eines Morgens durch Straßen gingen, die sie so gar nicht mehr kannten, kam ihnen ein Mann entgegen. Sie waren schon fast wieder an ihm vorbei, als er sich umdrehte. „Judenbrut“, schoss er wie einen giftigen Pfeil auf sie ab. Mathilda bemühte sich um Ruhe, zog die Kinder hinter sich her. Lief hastig weiter, das Herz wie wild klopfend.

      „Was meint der Mann?“ fragte Emilia. Mathilda antwortete nicht, lief und zog die Kinder. „Mama! Nicht so schnell…“ Emilia keuchte. Da stoppte Mathilda, sah sich vorsichtig um. Der Mann war weg.

      „Tut mir Leid, Lia.“ Sie lehnte sich an eine Hauswand.

      „Warum hat er das gesagt?“ wollte Nikolas wissen. „Und warum war er so böse?“ „Er hat uns für Juden gehalten… wahrscheinlich weil Emilia und ich schwarze Haare haben.“ Mathilda fuhr ihrem Sohn über dessen helles Haar, das er von seinem Vater geerbt hatte. „Ein Judenhasser, wie so viele jetzt.“ Plötzlich wurde sie von einer Emotionswelle überschwemmt. Sie kämpfte mit den aufsteigenden Tränen in ihren Augen. Nikolas sah sie ernst und wissend an und legte mit einer sehr erwachsenen Geste seine Hand auf ihren Arm.

      *

      Marissa

      Im Zimmer war es kalt. Sie fror trotz der Decke, in die sie sich eingewickelt hatte, trotz des Tees, den sie während des Lesens getrunken hatte bis sie vergaß, sich nachzuschenken und der Rest in der Kanne abgekühlt war. Vielleicht fror sie auch wegen der Tränen der Urgroßmutter, wegen des ungewissen Schicksals der Großmutter und ihres Bruders, wegen des ganzen Leids, wegen des Krieges. Sie spürte die Kälte wie eine eisige Hand, die aus der Vergangenheit nach ihr griff und sie nicht losließ.

      Das Buch mit den vollgeschriebenen Seiten lag aufgeschlagen auf ihrem Schoß, doch sie konnte nicht mehr weiterlesen. Die Wörter kamen ihr vor wie grausame kleine Monster, die ihre Buchstaben wie Pfeile von sich schossen und denjenigen mitten ins Herz trafen, der sie las. Vorsichtig als würde sie sich dabei verletzen können, klappte sie das Buch zu, schob es unter die Decke, ließ sich dann lang auf das Sofa sinken, hüllte sich fest ein und schlief erschöpft ein.

      Ein oberflächlicher Schlaf umfing sie, schickte ihr unruhige Bilder von getriebenen Menschen und drohender Gefahr. Ließ sie durch Welten eilen, die ihr fremd waren und doch so viel von ihr hatten. Und so viele Gesichter blickten sie an, bekannte und unbekannte. Alle sahen sich irgendwie ähnlich. Waren wie ein Gesicht, das sich laufend veränderte. Mathilda-Emilia-Juliane-Sandrina-Marissa… MARISSA!

      Die Namen wirbelten ihr durch den Kopf, vermischten sich zu einem großen Durcheinander, bis nur noch einer übrig blieb und nicht verschwand. „Issa!“

      Marissa zuckte bei dem Laut heftig zusammen, eines ihrer Beine rutschte dabei vom Sofa, sodass sie beinahe selber hinunterfiel. Verwirrt blickte sie um sich und sah die Großmutter vor sich stehen. „Kind, du bist ja ganz durcheinander. du hast wie wild um dich geschlagen.“

      Marissa versuchte sich zu sortieren, zog ihre Beine an sich, umschlang sie, hielt sie fest, hielt sich fest. Ihr Blick fiel auf das Buch, das bei ihren Bewegungen auf den Teppich gefallen war, die Seiten hatten sich geöffnet und blickten sie an.

      Emilia folgte ihrem Blick. „Du hast darin gelesen.“ Sie bückte sich, hob das Buch auf, hastete rasch mit den Augen über die Zeilen, die sich ihr darboten und schloss den Deckel darüber. Sie behielt das Buch fest an sich gedrückt als sie sich neben die Enkelin auf das Sofa setzte.

      Marissa nickte ohne die Großmutter anzusehen. Es gab keine Worte, die ihr passend erschienen, jetzt zu sagen. Auch die Großmutter schwieg. So saßen sie nebeneinander in der dämmrigen Stube und lauschten dem Regen, der nach wie vor unvermindert gegen die Fenster prasselte. Die alte Frau, das junge Mädchen, die Großmutter und die Enkelin, Emilia und Marissa. Zwei Frauen von einem Blut, von einer Familie. Getrennt durch Lebensjahre, verbunden durch eine Geschichte. Eine Geschichte, die die eine durchlitten hatte und die andere weiterführte. Die alte, die den Schmerz hinter sich gelassen hatte und die junge, die ihn gerade durchschritt. Ein sich wiederholender Kreislauf, der wie alles immer und immer wieder begann, scheinbar ohne zu enden. So wie jeder Tag begann, wurde und verging - so wie das Leben selbst.

      *

      Marissa fühlte sich oft wie ein Opfer, ein Sklave des Schicksals, das mit ihr machte, was es wollte. Und sie war unfähig, zu handeln, etwas zu tun um sich aus diesem unsichtbaren Gefängnis zu befreien. Sie verstand das nicht. Sie verstand sich nicht. Warum nahm sie diese Demütigung hin, unterwarf sich einem Gegner, den es vielleicht gar nicht gab. Ober der gar kein Fremder war, der vielmehr in ihr wohnte und sie von innen her bedrohte.

      Jetzt, wo sie das Tor zur Vergangenheit ein Stück weit aufgestoßen hatte, schlich sie die Ahnung einer Erkenntnis ein, die ihr sagte, dass sie kein Opfer war, dass alles weit entfernt von ihr seinen Ursprung hatte und doch noch Einfluss auf sie und ihr Leben hatte. Sie hätte sich frei fühlen können, denn wieviel leichter und unbeschwerter war doch alles jetzt. Kein Vergleich zu dem, was die Menschen damals hatten durchmachen müssen. Damals, wo jeder Tag ein Kampf ums Überleben war. Wie ungleich leichter war das Dasein heute.

      Als Marissa abends im Bett lag und aus dem Fenster in den Himmel blickte, der sich jetzt wieder frei von Wolken über ihr ausbreitete, fühlte sie sich hin- und hergerissen von Schuldgefühlen ihren Verwandten gegenüber und allen denjenigen, die durch Krieg, Hunger und Not tagtäglich bedroht waren – und ihrer eigenen wehen Geschichte, die ihr bis heute so schrecklich erschienen war. Ja – sie hatte schon viel durchlitten, das war die Wahrheit und es tat weh daran zu denken. Es würde wohl immer wehtun. Und wie sollten die Menschen, die den Krieg durchlebt hatten, dies alles je vergessen. Würde es nicht immer präsent sein, auch wenn es mit den Jahren möglicherweise in dunklen Nischen verschwand, die nicht so leicht zu betreten waren, doch die da waren und von deren Existenz man wusste. Marissa lief ein Schauer über den Rücken.

      Lange lag sie wach, dachte an die kleine Emilia und ihren Bruder, dachte an ihre Urgroßmutter Mathilda, die sie nur als lachendes Bild kannte und dachte mit einem Mal auch an ihre Mutter. In der Herzgegend verspürte sie dabei ein Ziehen und ein Gefühl der Leere wie so oft, wenn sie an sie dachte. Mit einem Mal kamen ihr die Tränen. Das Verhältnis zwischen ihnen beiden war nie sehr eng gewesen. Immer schien da eine unsichtbare Mauer zu sein, die sie trennte. Eine Fremdheit, ein Unverständnis. Und ihr, Marissa, war das eigentlich immer recht egal gewesen. Sie hatte nie das wirkliche Bedürfnis gehabt, der Mutter nah zu sein. Und diese zog auch deutlich ihre jüngere Schwester Sandrina vor.

      Doch das machte ihr nichts, denn sie hatte ihren Vater. Mit ihm war sie von klein auf eng verbunden, zu ihm fühlte sie sich hingezogen, mit ihm hatte sie Spaß. Er verstand sie. Auch ohne viele Worte. Er war ihr Held.

      So war die Familie in zwei Hälften geteilt. Sandrina und die Mutter, Marissa und der Vater. Und alles war gut so.

      Bis dann alles anders wurde. Bis alles plötzlich auseinander brach, ohne Vorwarnung. Einfach so.

      Marissa schob der Erinnerung einen Riegel vor. Sie war nicht bereit,