Mathildas Buch. Gudrun Elisabeth Bartels. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gudrun Elisabeth Bartels
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783748599401
Скачать книгу
von etwas Unwiederbringlichem. Sie fasste Emilia fest an der Hand und rief nach Nikolas, der mit neuerwachter Neugierde schon dabei war, diese völlig andere Welt zu erkunden. „Nick, bleib hier, wir schauen erstmal, wie es in unserer Wohnung aussieht. Und Lia, du auch… komm her.“ Emilia hatte unwillkürlich einige Schritte dahin getan, wo sie früher so oft hingelaufen war, um ihre Freundin Elsa zu besuchen. Sie wollte mit ihr reden, mit ihr spielen, ihr erzählen, was sie im Keller erlebt hatten. Und sie fragen, wie er ihr ging. Mit ihr lachen, Spaß haben. Die beiden Mädchen kannten sich schon lange, seit sie nebeneinander in derselben Straße aufgewachsen waren. Elsa war nur ein paar Monate älter als Emilia und sie waren zusammen an ihrem ersten Schultag Hand in Hand auf dem Schulhof gestanden und hatten ehrfurchtsvoll auf das alte, graue Gebäude geschaut, das etwas Strenges und Unnahbares ausstrahlte. In der Klasse saßen sie gleich nebeneinander und lächelten einander aufmunternd zu als die recht herb aussehende Lehrerin sie begrüßte. Emilia war froh und glücklich so eine Freundin zu haben, die sie so nahm, wie sie war. Klein und dicklich und anders als die anderen. Elsa selber war auch nicht sehr groß, hatte blonde, glatte Haare und eine niedliche Stubsnase, die irgendwie gen Himmel zeigte. Das sah lustig aus und man glaubte immer sie würde ständig lachen. Und sie hatten auch immer Spaß miteinander. Nie war es langweilig, wenn sie zusammen waren. Und jetzt? Emilia wollte zu gerne zu ihr rüber, doch da gab es kein Drüben mehr. Und - wo war Elsa?

      *

      In der Wohnung sah alles aus wie sonst. Merkwürdig wie normal alles wirkte, wo doch draußen alles anders war. Wie konnte es sein, dass mitten in dieser Verwüstung es noch so etwas wie eine Oase gab, wo alles friedlich und unbeschadet war. Irgendwie kam es Mathilda grotesk vor, mit einem Schlüssel die Wohnungstür aufzuschließen in dem Wissen, das nebenan kein Haus und keine Wohnungstür mehr existierten, die man hätte aufschließen können. Und dann empfing sie die heimelige Umgebung der vertrauten Wohnung mit einer Selbstverständlichkeit, die ihr den Atem nahm. Mathilda schossen wieder Tränen in die Augen, aber sie wollte jetzt nicht weinen. Sie ließ die Kinder voranlaufen, die sofort in ihre Zimmer rannten um zu sehen, ob noch alles so war wie vorher. Nein - alles war nicht so wie vorher. Bei näherem Betrachten, wurde klar, dass auch ihre Behausung Blessuren davon getragen hatte. Die Fenster im Elternschlafzimmer waren zersprungen, auf dem Bett verteilten sich unzählige Scherben und Splitter, die Vorhänge hingen zerfetzt hinunter und flatterten im kühlen Morgenwind hin und her. In der Küche waren die Töpfe mit Blumen und Kräutern vom Fenstersims gefallen und zerbrochen, auch hier waren die Fensterscheiben zu Bruch gegangen. Als Mathilda in die Wohnstube trat, sah sie als erstes die wunderschöne Kristallvase, die sie von ihrer Mutter geerbt hatte, am Boden liegen. Vorsorglich hatte sie die Vase auf das Polster des Sofas gelegt und dort für sicher befunden. Durch die Erschütterungen musste sie heruntergerollt sein, denn sie lag mitten im Raum auf dem Teppich. Lag da wie ein umgefallener Kegel. Mathilda ließ sich daneben auf die Knie sinken, berührte vorsichtig das glitzernde Glas, hob es empor. Es war heil und ganz. Ein Seufzer der Erleichterung entwich aus ihr. Behutsam stellte sie die Vase auf ihren alten Platz hoch auf die Anrichte neben das Schmuckkästchen, das dort stand und von oben herabschaute. Still. Beständig. Mit den Fingerspitzen fuhr Mathilda sacht über das feinverziertes Holzwerk und spürte die kleinen, spitzen Rosenstacheln in der Haut. Fühlte Vertrautheit und Nähe.

      Die Kinder waren in ihren Zimmern verschwunden und nicht mehr aufgetaucht. Als Mathilda nach ihnen sah, lag Nikolas mit einem Buch versunken auf dem Bett. Emilia lag mitten im Zimmer auf ihrem Teppich, hatte ihre alte Puppe Lotta fest im Arm und schlief.

      Mathilda atmete auf als sie nach kurzem Blick feststellte, dass beide Zimmer ohne Schäden geblieben waren. Sie nahm eine Wolldecke, breitete sie über Emilia und ging dann in die Küche. Dort setzte sie sich unglaublich müde auf die Küchenbank, legte nur für einen kurzen Moment den Kopf auf den Tisch und war sofort eingeschlafen.

      *

      Wie war der Mensch doch anpassungsfähig, dass er es schaffte, in noch so aussichtslos erscheinenden Situationen die Kraft aufzubringen, weiterzumachen. Das Leben zu leben, wie es gerade war. Zu atmen. Aufzustehen, weiterzugehen.

      Sinn in dem wenigen zu finden, was sich ihm zum Leben bot. Wie anspruchslos war er letztlich doch. Wie genügsam. Da zeigte sich, mit wie wenig Dingen der Mensch doch in der Lage war zu existieren. Plötzlich war nur noch wichtig, dass man am Leben war und die Liebsten gesund und nah waren. Alles andere rückte in den Hintergrund.

      Für Mathilda war das Wohlergehen ihrer Kinder das Hauptaugenmerk und das tägliche Überleben reduzierte sich auf die Versorgung der kleinen Familie. Die Dankbarkeit, die sich jedes Mal einstellte, wenn sie es geschafft hatte, dass die Kinder abends nahezu satt ins Bett gehen konnten, war überwältigend. Doch so schwierig es auch wurde, jeden Tag aufs Neue etwas Essbares zu besorgen, so war es doch auch eine große Beglückung, wenn es wieder gelungen war. Oft fügte es sich wie aus dem Nichts, dass ihnen immer wieder durch verzweigte Wege Lebensmittel zuflossen. Da war dann die Nachbarin, die Milch und Eier von Verwandten vom Land bekam und diese freizügig an die kleine Familie weitergab. Und die Pakete. Die Pakete von Josef, die wie ein rettendes Wunder von Zeit zu Zeit eintrafen und staunende Freude auslösten. Da kamen Schätze zu Tage, die mit Ehrfurcht ausgewickelt wurden: Butter, Kaffee, Schinken. Alles vom Vater eigenhändig eingepackt und mit aufmunternden Zeilen an Frau und Kinder verschickt.

      Als das erste Paket eines Tages vor der Tür lag, blickte Mathilda verwirrt auf die bekannte Handschrift auf dem Papier. Strich ungläubig darüber und schluckte einen großen Klumpen im Hals hinunter, bevor sie das Paket aufnahm und dann für alle sichtbar auf den Küchentisch stellte. Dort ließ sie es stehen bis Emilia und Nikolas aus der Schule kamen, damit sie es alle gemeinsam auspacken konnten. Die Freude der Kinder als sie es sahen, übertraf noch die ihre und sie legte still berührt ihre Arme um die beiden.

      Irgendwann löste sich das andächtige Betrachten und dann gab es kein Halten mehr. Die Kinder überholten sich gegenseitig beim Aufreißen und Auspacken, jubelten bei jedem neu entdeckten Wunder. Mathilda sah ihnen zu, lächelte in sich hinein und schickte in Gedanken einen Strom von liebender Dankbarkeit zu ihrem Mann, der aus dem fernen Polen die Verbindung zu ihnen durch diese Gabe greifbar und spürbar werden ließ. Das Wissen um diese innere Verbindung gab ihr Halt, wenn sie mitunter mit Verzweiflung und Mutlosigkeit kämpfte und sich vor dem nächsten Tag, der nächsten Nacht fürchtete.

      Neben den Paketen waren es die Briefe, die nun recht regelmäßig zwischen den Eheleuten hin- und hergingen. Mathilda war es bald ein unbedingtes Bedürfnis, sich abends, wenn die Kinder schliefen, an den Küchentisch zu setzen und mit ihrer kleinen Schrift Seite um Seite zu bedecken, die immer mit den Worten: Mein lieber Josef begannen und ihm dann in allen denkbaren Einzelheiten zu beschreiben, wie es ihnen hier ging. Ihr war es eine Erleichterung, dem Papier und somit dem weit entfernten Lebensfreund das anzuvertrauen, was sie niemanden sonst zu sagen wagte. Sie verheimlichte ihm auch ihre Sorgen nicht, denn sie wusste, dass er auch zwischen den Zeilen würde lesen können, wenn etwas nicht stimmte. Und so war die Offenheit, mit der sie alles aus sich herausfließen ließ, zugleich ein Zeichen für die Seelenverwandtschaft und Vertrautheit zwischen ihnen, die er, Josef, allerdings eher mit Taten als mit Worten zurückgab – so wie es ihm vom Temperament eher stand.

      Es konnte geschehen, dass Mathilda stundenlang am Tisch saß und schrieb ohne müde zu werden, mochte der Tag noch so anstrengend gewesen, die Nacht davor wieder durch etliche Alarme unterbrochen worden sein. Das Schreiben befreite sie von allem Druck und hinterließ in ihr eine Erleichterung als ob sie mit dem geliebten Mann tatsächlich geredet hätte, mit ihm die Sorgen und Nöte von Angesicht zu Angesicht besprochen. Meist schlief sie hinterher tief und fest – bis der nun allnächtliche Alarm sie herausriss und sie in großer Eile die Kinder weckte und mit ihnen in den Keller zog. Mittlerweile hatte sich auch das zu einer Art Routine entwickelt. Längst schon schliefen sie alle in ihren Kleidern und liefen dann wie in Trance automatisch die Treppen hinunter in den Schutzkeller, hin zu ihren Pritschen und mit Glück hin zu einem schlafähnlichen Zustand.

      Nach dem furchtbaren Angriff vor einigen Wochen, schienen sich die Kinder eine Schutzhülle umgeworfen zu haben, die es ihnen erlaubte, in gnädigem Schlaf einzutauchen, auch wenn die Welt oben scheinbar wieder in den nächsten Untergang versank. Mathilda war dafür sehr dankbar, auch wenn es ihr selber oft nicht gelingen wollte, sich wie die Kinder