Mathildas Buch. Gudrun Elisabeth Bartels. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gudrun Elisabeth Bartels
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783748599401
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direkt in die Herzen der Zuhörer, die mit angehaltenem Atem dem Lied lauschten. Es war als legte sich ein Zauber über sie alle und trug sie weg von trüben Gedanken und Sorgen um die Zukunft. Die Zeit stand still, hielt inne und spürte den Klängen nach.

       Es war einst eine kleine Biene, summ, summ, summ,

       die flog den lieben langen Tag von Blum zu Blum.

       Sie naschte hier, sie naschte dort,

       flog weiter dann von Ort zu Ort

       und summt ein Lied dabei, und summt ein Lied dabei.

       Doch als der Abend leise nahte,

       erschrak die kleine Biene sehr, wollt eilig um.

       Doch ach, sie flog schon viel zu weit,

       Sie konnte nicht mehr heimwärts heut:

       Denn dunkel ward’s und kalt, denn dunkel ward’s und kalt.

       Gar ängstlich flog sie auf ein großes Blumenblatt

       Und weinte sich darauf so recht von Herzen satt.

      „Was soll ich tun? Wo bleib ich heut?“

       Kehrt ich doch um zur rechten Zeit,

       Nun komm ich niemals heim, nun komm ich niemals heim.“

       Das hörte sich die Blume voller Mitleid an,

       Sie war sofort entschlosssen, eh sie sich besann.

      „Komm rein zu mir, ich öffne dir,

       Für diese Nacht bleibst du bei mir.

       Drum weine nicht so sehr, drum weine nicht so sehr.“

       Da trocknet sich das Bienchen seine Äugelein,

       Bedankt sich bei der Blume und flog schnell hinein.

       Und als am Morgen es erwacht,

       Hat schon die Sonne hell gelacht.

       Vorbei war da die Not, vorbei war da die Not.

      „Leb wohl, du liebe Blume, hab viel tausend Dank.

       Ich muss mich jetzt sputen, denn mein Tag ist lang.

       Niemals vergeß‘ ich diese Nacht, Die ich bei dir hab zugebracht.

       Leb wohl denn, lebe wohl, leb wohl denn, lebe wohl.“

      Während der wenigen Minuten, in denen die Töne des schlichten Liedes durch den Raum schwebten, leuchtete für alle eine Sonne auf, die die dunklen Schatten des Krieges verdrängte. Viele weinten lautlose Tränen, andere lächelten voller glückseliger Freude. Andere saßen stumm gefangen von der Melodie ohne äußere Emotionen. Doch niemanden ließ sie unberührt. Mathilda konnte durch den Tränenvorhang, der ihre Augen umflimmerte ihre Tochter nur verschwommen wahrnehmen. Sie sah nur ein engelgleiches Wesen und hörte himmlische Töne und ihr Herz quoll über vor Liebe.

      *

      Die dunkle Zeit lag über allem wie ein dichter Umhang, niemand konnte hindurchschauen und erkennen, was sich da hinter verbarg. Die Ohnmacht, die damit verbunden war, war ein schwer zu erduldender Zustand. Dabei half es nur wenig zu wissen, dass alle das gleiche Los zu tragen hatten. Manche mehr, manche weniger, aber alle waren durch die Kriegssymptome schwer in Mitleidenschaft gezogen. Als Deutschland mit seinem Angriff auf Polen am 1.September 1939 den Krieg begann, war Emilia fünf Jahre alt und freute sich darauf, nächstes Jahr endlich in die Schule zu kommen. Am 4. Dezember wurde sie sechs Jahre alt und war somit endlich kein Kleinkind mehr.

      Ihr Bruder Nikolas war schon neun Jahre alt und schaute manchmal recht von oben herab auf die kleine, sehr kleine Schwester. Doch in Momenten wie beim Fest in der Schule, war er sehr stolz, ihr Bruder zu sein. Emilia hegte grundsätzlich und uneingeschränkt liebevolle Gefühle für ihren Bruder. Er war ihr Vorbild, dem sie nacheiferte und es erfüllte sie mit tiefer Freude, wenn er sie wahrnahm oder, wie nach ihrem ersten Auftritt, sogar an sich zog und einen leichten Kuss auf die Wange drückte. Das waren Momente, die sich tief in ihr Gedächtnis brannten und von denen sie zehrte, wenn sie eine dunkle Phase durchlebte.

      Dachte sie Jahre danach an die langen Jahre des Krieges, waren ihr neben den schlimmen Erlebnissen, die sie noch viel später immer wieder aufsuchten, auch die kleinen Glücksmomente präsent und damit das Wissen, dass sie und ihre Familie trotz allem, noch sehr viel weniger Leid erfahren hatten als so manche andere. Darauf baute sich in ihrem weiteren Leben letztlich ihre innere Haltung der Dankbarkeit und Gelassenheit auf. Doch zugefallen war ihr diese nicht von alleine und alles andere als leicht. Wie oft hatte sie mit dem Schicksal gehadert, sich ungerecht behandelt und gebeutelt gefühlt. Erst mit zunehmendem Alter wuchs die Aussöhnung und Anerkennung ihres Seins.

      *

      Wie merkwürdig sorgenfrei ihr Bruder und sie in den ersten Anfängen der Kriegsjahre waren. Es war eine seltsame Normalität, die sich einstellte und mit der die Kinder scheinbar viel leichter zu Recht kamen als die Erwachsenen. Ihre Fähigkeit, den Moment zu leben, war noch ungebrochen, sodass sie auch mitten im größten Unglück in der Lage waren, sich uneingeschränkt auf eine Sache zu konzentrieren, die ihr Interesse geweckt hatte. Da wurde dann kurzerhand das Umfeld ausgeblendet um das zu tun, was in diesem Augenblick mit einem Mal eine viel größere Aufmerksamkeit auf sich zog. Manchmal waren es die scheinbar kleinen Dinge, die sie ansprachen und festsogen. Nikolas hatte das Talent sich innerhalb kürzester Zeit in ein Buch zu versenken und völlig darin aufzugehen, auch wenn draußen Alarm war und über ihnen die Bomber dröhnten, sodass die Kellerwände und -decken zitterten. Emilia träumte sich in ihre Lieder und summte sie vor sich hin, manchmal halb in Trance. Anfangs hatten sich andere Kellerinsassen darüber beschwert, doch dann gewöhnten sie sich an die entrückten Melodien und wollten sie gar nicht mehr missen. Es half ihnen, sich aus der angstvollen Situation wegzudenken hin zu einer andere Ebene des Seins. Da konnte der Angriff schlimm sein aber die Stimme des Mädchens legte eine schützende Decke über sie alle, die mit ihr hier im Keller saßen. „Du bist unser Schutzengel, Lia. Wenn du da bist, kann uns nichts passieren.“ Die Worte, ausgesprochen von der alten Frau Meier, die unten im Erdgeschoss wohnte und sich oftmals über den Kinderlärm beschwert hatte, gab das wieder, was viele mit der Zeit glaubten. Um Emilia schien eine Aura der Unantastbarkeit zu liegen, die alle in ihrem Umfeld erfasste und sich wie ein Kokon der Sicherheit um sie spannte. So war die Stimmung im Keller dieses Hauses fast schon heiter zu nennen und nahezu unbeschwert, wenn ein nächtlicher Alarm alle aus den Betten jagte. Emilia gefiel es, als Engel bezeichnet zu werden, auch wenn sie nicht recht wusste, wie ein Engel aussah. Eigentlich hätte sie doch wohl Flügel haben müssen, wenn ihre Vorstellung von Engeln richtig war. Und weiß gekleidet mit langen blonden Haare und goldenem Heiligenschein. Eines Tages schlich sie sich ins Schlafzimmer der Eltern und stellte sich vor den großen Spiegel am Kleiderschrank. Dort drehte sie sich hin und her, konnte aber keine dieser Engel-Zeichen bei sich entdecken. Als ihre Mutter dazukam und sie fragte, was sie da mache, meinte sie: „Ich suche meine Flügel…“ Erst begriff die Mutter nicht, doch dann lachte sie leicht auf: „Du wirst keine finden. Und bitte, Lia, nimm es nicht so ernst, dass die Leute dich Engel nennen. Natürlich ist das schön, aber ich fände es viel schöner wenn du weiterhin nur meine Lia bist und nicht plötzlich davon fliegst.“ Sie strich ihr über das dicke, schwarze Haar. „Vergiss nicht, du bist ein Kind, ein menschliches Wesen. Ein ganz besonderes, soviel ist sicher, aber bleib auf der Erde, versprichst du mir das?“ Mathilda ging vor ihrer Tochter in die Knie. „Ich brauch dich hier.“

      Emilia betrachtete sich eine Weile ernst im Spiegel. „Ist gut“, sagte sie dann. „Ich habe auch gar keine Lust, ein Engel zu sein. Und – ich will auch hierbleiben.“

      „Das