Mathildas Buch. Gudrun Elisabeth Bartels. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gudrun Elisabeth Bartels
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783748599401
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sagte es fest und eindringlich und wand sich aus der Umarmung der Mutter.

      „Natürlich“, nickte diese, „…auf jeden Fall. Das sollst du auch.“ Sie sah der Tochter mit widerstrebenden Emotionen nach als diese aus dem Schlafzimmer lief. Irgendwie müde setzte sich Mathilda auf eines der Betten, auf die Seite, die sie schon seit einiger Zeit nicht mehr beziehen musste. Sie legte leicht die Hand auf die leere Matratze und streichelte sie, wie den Körper eines Menschen. Sanft und liebevoll. „Josef, du fehlst uns. Du fehlst mir.“ Sie flüsterte die Worte hin zu dem unsichtbaren Körper, ließ ihre Hand still auf seinem Herzen liegen. Länger schon hatte sie nichts mehr von ihm gehört. Als Postbeamter war er zum Dienst in das besetzte Polen abkommandiert worden. Bisher war nur ein kurzer Brief gekommen, in dem stand, dass es ihm gut ging und er genug zu essen bekam, dass er an sie alle denke und sie fest umarme. Was hätte er auch schreiben sollen. Doch es war eine Botschaft, die guttat, die sie gerne wieder und wieder hören wollte. Für ihr Herz, für ihr Vertrauen, dass alles gut war und er bald wiederkommen würde. Zu ihr, zu den Kindern. Nach Hause. Sie erhob sich hastig vom Bett, zog die Hand von dem entfernten Herzen. Aus den Augenwinkeln sah sie sich im Spiegel vorbeigehen wie einen flüchtigen Schatten.

      *

      Der nächtliche Alarm einige Tage später war der schlimmste, den sie alle bisher erlebt hatten. Mathilda hatte die Kinder gerade erst ins Bett gebracht, sie waren kaum eingeschlafen als die Sirenen losheulten. Sie hatte Mühe die beiden aus der gerade betretenen Schlafwelt herauszuholen. Emilia musste schon sehr tief darin eingesunken sein, denn sie stand wie benommen neben ihrem Bett, zitterte und wusste kaum, wie sie ihre Sachen anziehen sollte. Nikolas war schneller, aber auch er schaute sehr verwirrt um sich. Auf dem Weg in den Keller, torkelte Emilia mit halbgeschlossenen Augen die Treppe hinunter und kroch wie apathisch auf ihre Pritsche ganz oben unter der Kellerdecke. Mathilda deckte sie so gut es ging zu, aber das Mädchen zitterte in einem fort. Vielleicht wurde sie krank. Die Mutter fühlte die Stirn des Kindes, die sich aber nicht heiß anfühlte. Wahrscheinlich hatte sie etwas geträumt, das sie durcheinander gebracht hatte. Sie flüsterte ihr beruhigende Worte zu und legte sich selber auf ihre Pritsche. Nikolas lag mit offenen Augen auf seinem Lager, sein Buch neben sich.

      In dieser Nacht sang Emilia nicht.

      Über ihnen tobte die Hölle. Stunden um Stunden dröhnten die Bomber, feuerten die Flakgeschütze. Die Menschen unter der Erde krochen immer mehr in sich zusammen, verzogen sich in ihr Innerstes in der Hoffnung, dort Sicherheit zu finden. Der Lärm der gewaltigen Donnerschläge drang mit jeder Minute näher zu ihnen heran, ergriff die Mauern und ließ die Erde um sie herum schwanken. Nebel von Kalkstaub rieselte auf sie nieder, machte die Luft rau und legte sich wie Schuttasche auf die Atemwege. Ein Keuchen ging durch den Raum, gemischt mit Schluchzen und halblaut gemurmelten Gebeten. „Vater unser im Himmel, geheiligt werde dein Name….“

      Und dann das Flehen einer Stimme: „Engel, sing doch, sing.“

      Doch Emilia war stumm. Sie lag halb schlafend unter der niedrigen Kellerdecke und zitterte. Kein Ton kam über ihre Lippen.

      Mathilda sah zu der Stimme hinüber und schüttelte nur den Kopf. In dem Moment krachte es über ihnen und die Welt ging unter. Der ganze Raum bebte und schwankte. Schlagartig erlöschte das Licht und es war finstere Nacht. Ein Schrei schnitt sich durch das donnernde Inferno. „Engel - Engel – sing…“ Es war kein menschlicher Laut mehr. Es klirrte wie ein Schwert, das durch Stahl drang. Hoch, grellend und schrill. Das war schlimmer als das Dröhnen der Bomben über ihnen. Und es schrie und schrie und schrie.

      *

      Wie lange dauerte es. Stunden, Tage. Eine Ewigkeit. Das Zeitgefühl ging verloren, alles was es gab war Dunkelheit, dröhnende Schläge, schmerzende Nervenkörper gefangener Menschen und blanke Angst.

      Irgendwann wurde es plötzlich unerträglich heiß, die Luft wurde immer dicker, das Atmen beschwerlich.

      Mathilda versuchte sich im Dunkeln zu ihren Kindern hinzutasten. Die wenigen Schritte bis zum Lager ihres Sohnes schienen unüberwindlich, doch schließlich fühlte sie den rauen Stoff des Sackleinens auf der Pritsche und ließ sich darauf sinken. „Nikolas, bist du da?“ Ihre Hand bewegte sich suchend nach dem Körper ihres Sohnes. „Ja, Mama. Ich bin hier. Mir geht es gut.“ Seine Hand fühlte sich kalt und feucht an als sie diese ergriff.

      „Lia“, rief sie ins Dunkle, „was ist mit dir?“ Sie pochte mit den Handknöcheln von unten gegen die Holzbretter der oberen Pritsche. Emilias Stimme klang von ganz weit her zu ihr hin: „Mama, ich friere. Mir ist so kalt.“

      Die Welt da oben brannte lichterloh, der Keller erstickte in dumpfen Hitzewellen und die Kinder zitterten von Kälteängsten geschüttelt. Mathilda richtete sich schwankend auf und griff nach ihrer Tochter, die bebend oben unter der Decke lag. „Komm zu mir mein Schatz“, lockte sie, „komm nach unten zu uns. Ich schaff es nicht zu dir rauf.“ Der Lärm der Bombenwelt schwappte in einer neuen Welle hinunter zu ihnen in die Dunkelheit. Ein markerschütternder Schrei lief durch die Wände. Mathilda wollte sich die Ohren zuhalten, doch ihre Hände fassten jetzt die ihrer Tochter, die sich langsam von oben zu ihr hinabließ. Sie zitterte derart, dass Mathilda sie kaum halten konnte als sie in ihre Arme glitt. „… es wird alles gut.“ Sie presste sie fest an sich und zog sie mit sich zu Nikolas auf die Pritsche. Engumschlungen hielten sie sich aneinander gedrückt. Das Zittern der Kinder war kaum noch vom Zittern der Kellerwände zu unterscheiden. Es war als geriete die Welt vollständig ins Wanken, erfasst von einem Erdenbeben, das die Menschheit aus den Angeln hob und in die endlose Weite des Universums hinein katapultierte.

      *

      Irgendwann war es still. Irgendwann war nichts mehr zu hören außer dem lauten angestrengten Atmen der Menschen. Die Kinder in Mathildas Armen waren letztlich erschöpft eingeschlafen. Nikolas‘ Kopf lag auf ihrem Schoss, Emilia hatte sich wie ein kleines Tier neben ihr zusammengekauert. Mathilda lehnte mit dem Kopf an dem Mauerwerk hinter ihr, spürte jede Vibration auf sich übergehen und war schließlich fast gänzlich unfähig, sich noch zu bewegen. Manchmal nickte sie unwillkürlich ein, doch erholsamen Schlaf fand sie nicht. Sie zuckte zusammen als die Sirene aus der anderen Welt zu ihr drang. Erst begriff sie nicht, was es bedeutete. Doch dann hörte sie das erlösende Wort zu sich dringen. „Entwarnung!“ Wer es ausgerufen hatte, war nicht auszumachen. Noch immer war es dunkel. Dennoch schien es plötzlich hell zu werden. Ein paar der Männer, die in der Nähe der Tür waren, machten sich an ihr zu schaffen. Irgendetwas erschwerte das Öffnen, doch dann floss ein leichter Strom dumpfer Luft in den Raum und gleich darauf ein schummriges Licht. Wie eine Ansammlung von Höhlenbewohnern bewegten sich die Menschen vorsichtig in Richtung der rettenden Helle. Einer nach dem anderen verschwand darin und suchte sich den Weg nach oben.

      Mathilda ging als eine der letzten. Die Kinder waren steif und konnten sich kaum bewegen. Auch sie selber hatte Mühe sich aus ihrer unbequemen Lage zu lösen und auf die Füße zu kommen. Doch schließlich gingen sie gemeinsam Hand in Hand zur Treppe und erreichten das Licht des Tages.

      Geblendet standen sie oben und sahen erst einmal nur sich lebend und befreit.

      Als der Blick sich dann für die Umwelt klärte, war es ein verirrtes Schauen auf eine Wüste des Unterganges. Die Augen sahen eine zerstörte Welt, die nichts mit der zu tun hatte, die einmal gewesen war. Der Verstand erfasste davon nichts wirklich, es war nur ein dumpfes Wahrnehmen einer Realität, die niemand glauben wollte.

      Doch das wichtigste war, dass sie lebten. Mathilda stand da mit ihren Kindern im Arm und ließ die Tränen einfach aus sich herausfließen. „Guter Gott, ich danke dir“, flüsterte sie heiser. Ihr Haus stand wie durch ein Wunder nahezu unversehrt da, wie ein einsames Denkmal erinnernd an ein Leben einer anderen Zeit. Viele Nachbarhäuser waren stark beschädigt, Löcher klafften wie Wunden in den Wänden.

      Emilia war eine ganze Weile unbeweglich dagestanden, die ganze Zeit über hatte sie kein Wort gesprochen. Doch jetzt gurgelte ein Laut aus ihr hervor, der wie ein Würgen klang. „Elsas Haus. - Wo ist Elsas Haus?“ Sie zeigte mit zitternder Hand in eine Richtung, wo statt eines Gebäudes nur ein unübersehbar großer Haufen von Steinen, Schutt und Rauch gen Himmel ragte.

      Mathilda blickte erschüttert