Mathildas Buch. Gudrun Elisabeth Bartels. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gudrun Elisabeth Bartels
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783748599401
Скачать книгу
Seiten, das ihr neben dem Briefeschreiben half mit den Erlebnissen umzugehen, ihren Gedanken freien Lauf zu lassen. Das, was sie alle hier durchmachten, war eine Geschichte von fundamentaler Weite, die auch für kommende Generationen noch von großer Bedeutung sein würde, dass spürte sie und ahnte, dass es wichtig war das alles festzuhalten um denen, die nachkamen Zeugnis zu geben von dem Grauen, dem Leid, der Unvorstellbarkeit dieses Krieges.

      Gleichzeitig war sie sich bewusst, dass es solange die Menschheit existierte, es immer Auseinandersetzungen und Krieg gegeben hatte und wahrscheinlich immer geben würde. Wahrscheinlich würde es immer jemanden geben, der meinte, Macht über andere ausüben zu müssen, sich Menschen und Länder jenseits der Grenzen des eigenen Landes einzuverleiben. Mathilda hatte nie verstanden, was solche Menschen dazu trieb, in dieser Art auf andere zu wirken. War das mit einer krankhafter Veranlagung zu erklären, der das Hirn eines Diktators zu derartigen Handlungen trieb, die für einen normalen Menschenverstand nicht greifbar waren. Oder war diese Erklärung zu einfach für eine Menschenspezies, die sich wie ein gefräßiges Untier durch alle Epochen und Nationen zog.

      Möglich, dass es müßig war, eine Antwort darauf finden zu wollen, weil es keine gab. So grauenvoll die Erkenntnis war, schien es doch, als gehörten auch diese Individuen zum Teil der Menschheit, auch wenn sie selber kaum menschliche Züge trugen.

      Früher hatte Mathilda immer an das Gute im Menschen geglaubt, darauf vertraut, dass letztlich jeder nur in Frieden sein Leben leben wollte, mit sich und seinen Mitmenschen in wohlwollendem Nebeneinander. Eine Illusion und eine große Erschütterung ihres Seinsempfinden, die sie persönlich traf als Nachbarn, die sie seit Kindestagen kannten, von einem Tag auf den anderen verschwanden, und keiner sagen konnte, warum und wohin. Die Inhaberin des Schreibwarenladens, in dem sie jahrelang stundenweise gearbeitet hatte und die immer nett und liebenswürdig mit ihr und der kleinen Emilia gewesen war, wurde mitten am Tag aus ihrem Laden gezerrt. Mathilda hatte sich nie darum gekümmert, welcher Religion sie angehörte. Zwar hatte sie geahnt, dass Frau Rosenbaum jüdischer Herkunft war, doch das war für sie nie von Belang gewesen. Für sie zählte einzig, dass sie nett und liebenswürdig war und für sie eine gute ältere Freundin. Der Schock war groß als sie vor dem kleinen Laden stand, dessen Scheiben vollständig eingeschlagen waren, die Wände beschmiert mit großen ausfallenden Buchstaben. „Judensau“! stand da rot und blutend geschrieben wie ein Schrei der Hölle.

      Seitdem hatte sie Frau Rosenbaum nicht mehr gesehen.

      *

      So vieles ging verloren. Menschen, Städte, Existenzen, Leben. Ganze Welten stürzten zusammen. Äußerliche und innerliche. Wobei nicht auszumachen war, welches der größere Zusammensturz war. Eine Erschütterung unvorstellbaren Ausmaßes erfasste Körper und Seelen. Niemand blieb davon unbehelligt.

      Auch Emilia musste in ihrem jungen Alter damit klarkommen, dass sich um sie herum Dinge ereigneten, die sie kaum benennen konnte. Die nächtlichen Bombenangriffe waren das eine. Das andere waren die Veränderungen in der Stadt. Straßen, die plötzlich nicht mehr da waren, Häuser, die sich verwandelt hatten in einen Berg von Steinen, Geröll, Rauch, Asche und Verwesung. Und das plötzliche Nicht-mehr-Sein von Menschen, die eben noch nebenan gewesen waren. Gelacht hatten, geweint, gestritten, geliebt und mit Augen und Mund zu ihr gesprochen hatten. Mit Herz und Gefühl, Leib und Seele. Die Freunde waren, Vertraute. So selbstverständlich da. So gewohnt seit immer, für ewig.

      Elsa und sie hatten niemals so etwas wie Blutsbrüderschaft geschlossen, wie das Nikolas mit seinen Freunden getan hatte. Nicht, dass sie sich gefürchtet hätten, vor dem Ritz in die Haut, vor dem Blut, das daraus hervortropfte. Nicht, weil sie als Mädchen, so etwas nicht wagten. Nein – nur allein deswegen, weil sie spürten, dass es für sie beide nicht nötig war. Sie fühlten sich von einem Blute, von einer Seele, auch ohne äußeres Ritual. So jung sie waren, waren sie doch altvertraute Verwandte, die sich im Hier und Jetzt begegneten und schon begegnet waren in einem vorigen Sein.

      Sie als Kinder hätten das alles so nie benennen können, doch eines Tages war ihnen das durch einen leicht dahingesagten Ausspruch, sehr klar geworden.

      „Unsere Siamesischen Zwillinge. Einfach nicht zu trennen.“

      Es war in den heißen Sommertagen gewesen, kurz vor dem Krieg, wo noch alle unbedarft und leicht die schöne Zeit genossen. Die beiden Nachbarfamilien waren zusammen an den Tegeler See gefahren, picknickten dort und tobten sich im kühlen Nass aus.

      Emilia und Elsa rannten die ganze Zeit Hand in Hand über die Wiese, ließen sich auch im Wasser nicht los. Als sie tropfnass auf die Decken unter den schattigen Bäumen sanken, unter denen sich die Familien niedergelassen hatten, lachte ihnen Elsas Vater entgegen, umfing sie beide trotz der Nässe und nannte sie die siamesischen Zwillinge.

      Erst blickten die beiden ihn ungläubig an, sahen sich in die Augen, lachten. Und erkannten sich urplötzlich in der anderen gespiegelt.

      Siamesische Zwillinge kamen zusammengewachsen auf die Welt, konnten nicht oder nur sehr schwer getrennt werden, ohne dass nicht mindestens einer von ihnen Schaden davon trug oder starb und der andere kaum mehr lebensfähig war. Das hatten die beiden Mädchen erfahren als sie wissen wollten, was das bedeutete: siamesische Zwillinge.

      Erst waren sie von dem Bild des Zusammengewachsen-Seins zurückgeschreckt, doch dann schien es ihnen eine wundervolle Vorstellung, so immer mit demjenigen zusammen sein zu können, den man am meisten mochte. Schließlich gefiel ihnen das so sehr, dass sie sich immer mehr in diese Symbiose hineindachten und -lebten. Dadurch wurde es anderen immer schwieriger, jede für sich zu sehen. Und für die beiden Mädchen wurde es mit der Zeit immer undenkbarer, etwas ohne die andere zu tun. Schlimm genug, dass sie sich zu den Mahlzeiten und abends trennen mussten, doch sie wussten ja, es gab ein Morgen.

      Krieg. Was konnte er ihnen schon antun? Sie hatten keine Vorstellung, was dieses Wort genau in sich barg. Sie hörten von Soldaten, Gewehren, Bomben, vom „Feind“, wer auch immer das war. Sie hörten von Zerstören, Töten und getötet werden. Und dieses Wort: Tod. Tote Menschen kamen nicht wieder, existierten nicht mehr in dieser Welt, waren nicht mehr hier. Wo aber waren sie? Sie konnten doch nicht einfach so verschwunden sein. Irgendwo mussten sie sein.

      Emilias Verstand fasste dieses Phänomen nicht. Und sie erfasste nicht, warum Elsa mit einem Mal nicht mehr da war. Sie erfasste nur jetzt in aller Deutlichkeit, was es hieß, von seinem Zwilling getrennt zu sein. Allein zu sein, ohne die andere Hälfte, die zu ihr gehörte. Sie fühlte sich als habe man ihr einen Teil von ihrem Körper abgetrennt und schlimmer noch von ihrer Seele.

      An dem Tag als die Mutter sie zu sich auf den Schoss zog, sie fest an sich drückte und ihr leise sagte: „Elsa lebt nicht mehr“ – da hatte sie unbewusst mit einem Teil ihres Kindseins abgeschlossen. Von da an verlor sie ein Stück von ihrer Leichtigkeit.

      *

      Das war eine weitere Auswirkung des Krieges - alles ging irgendwie schneller. Das Wachsen, das Älter-Werden, das Sterben. Eine unbeschwerte Kindheit, die noch vor einigen Jahren möglich war, gab es nicht mehr. Selbst die ganz jungen Kinder wurden unweigerlich in den Sog des ungesunden Wandlungsprozesses gezogen, der alles rasend schnell veränderte. Nie war man sicher, was am nächsten Tag noch da war, wer noch da war. Der, den man eben noch gesprochen hatte, konnte im nächsten Moment verschwunden sein. Das Haus an der Ecke, an dem man verbeigegangen war, solange man denken konnte, war plötzlich zusammengesunken zu einem Haufen Steine, der nichts von dem zu erkennen gab, was gewesen war. Und das Wesen der einzelnen Menschen wandelte sich. Freundliche, liebenswerte Nachbarn, zeigten Gesichter, die nicht mehr die ihren sein konnten, sprachen Sätze, die wie ferngesteuert und einstudiert klangen, schlugen die Hacken zusammen, hoben die Arme wie aufgezogenen Puppen und skandierten Worte und Parolen voller Härte und Unbedingtheit.

      Mathilda zog ihre Kinder in den nächsten, sicheren Hauseingang, wenn sie einen Aufmarsch der nationalsozialistischen Anhänger patrouillieren sah. Duckte sich mit ihnen in dunkle Ecken, hielt ihre Arme verschränkt und den Kopf gesenkt. Erst wenn die harten Klänge der Marschstiefel verklungen waren, atmete sie auf, nahm die Kinder an die Hand und hing weiter ihres Weges.

      Emilia und Nikolas fragten nie, warum sie sich versteckten, aber sie spürten die